10. Kapitel
Als die winterliche Dunkelheit anbrach und der Nebel düster über den Marktplatz waberte, schwanden schließlich die Massen. Es war ein wirklich sensationeller Tag gewesen. Völlig erschöpft schloss Frankie die Tür und drehte das Schild auf GESCHLOSSEN. Dann lehnte sie sich an die Theke und dankte Rita aus tiefstem Herzen.
Francesca’s Fabulous Frocks war etabliert. Nun lag es an ihr, dafür zu sorgen, dass das Geschäft weiterhin gut lief. Und das würde sie hinkriegen. Nach diesem Tag wusste sie, sie konnte es schaffen. Auch wenn sie, dachte sie schläfrig, sofern weiterhin so viel los wäre, vielleicht doch eine Mitarbeiterin einstellen müsste – selbst wenn es nur auf Teilzeit war –, vor allem während der Weihnachtszeit.
Frankie schmunzelte zufrieden vor sich hin. Wenn und falls sie jemanden einstellen würde, Biddy jedenfalls ganz gewiss nicht.
Lilly, Clemmie, Amber und Sukie waren bereits durch den gespenstischen Nebel über das von Lichterketten erhellte Kopfsteinpflaster getaumelt, um im Toad in the Hole auf ihren Beitrag zum Erfolg anzustoßen. Phoebe, die sich mit ihrer besseren Hälfte Rocky einen gemütlichen Abend zu Hause machen wollte, hatte sich wegen des immer schlechter werdenden Wetters entschuldigt und war heim nach Hazy Hassocks gefahren.
»Heute Abend gibt es im Toad drei Jägerbomben für einen Fünfer!«, hatte Lilly vergnügt verkündet, als sie mit klappernden Absätzen in Richtung Tür stolziert war. »Soll ich dir welche rüberbringen?«
»Nein danke.« Frankie hatte den Kopf geschüttelt. »Entschuldige, wenn ich eine Spaßbremse bin, aber nachdem ich hier zugesperrt habe, bin ich wirklich für nichts anderes mehr zu gebrauchen als für ein heißes Bad, einen warmen Kakao und mein Bett.«
»Was wirst du alt!«, hatte Lilly kichernd geantwortet. »Wo ist die Partytigerin, die ich kannte und liebte?«
»Hat sich in eine langweilige alte Couchkartoffel verwandelt«, hatte Frankie lachend erwidert. »Eine wirklich langweilige alte Couchkartoffel mit eigenem Geschäft. Und wie kannst du nach deinem jüngsten Absturz mit den Woo Woos an Jägerbomben auch nur denken?«
»Gar kein Problem. Schon gar nicht, wenn Dexter dabei ist, um sie mit mir zu teilen.«
»Tja, er wird aber nicht dabei sein. Er hat den Blumenstand um Punkt fünf zugemacht und ist mit Ginny vom Greasy Spoon abgezogen.«
»Mist. Echt?« Lilly war das Gesicht heruntergefallen. »Woher weißt du das?«
»Ich habe ihn gehen sehen«, hatte Frankie lächelnd geantwortet. »Er hat mir gewinkt und den hochgestreckten Daumen gezeigt.«
»Tja nun. Sein Pech. Bis irgendwann dann also. Vielleicht trinke ich eben schnell noch was mit den Mädels im Toad, lasse meinen Wagen dann hier stehen, schnappe mir ein Taxi und fahre nach Winterbrook.«
Lilly war durch die leere Boutique noch einmal zurückgetippelt und hatte Frankie in die Arme genommen. »Du warst echt spitze heute. Hast deine Sache wirklich gut gemacht. Bestimmt hast du ein Vermögen verdient. Ich bin wirklich unheimlich stolz auf dich.«
»Danke.« Frankie hatte auch sie umarmt. »Aber ohne euch hätte ich das nicht geschafft. Ihr wart alle ganz großartig.«
»Dafür sind Freunde da.« Lilly hatte sich der Umarmung entwunden. »Jetzt gebe ich die junge und ungebundene Single-Frau von Welt, während du dich in Mrs Filzpantoffel verwandelst. Warte nicht auf mich.«
Und Lilly war klappernd zur Tür hinaus und über das Kopfsteinpflaster in die Dunkelheit entschwunden.
Müde sah Frankie sich im Laden um. Die Kleiderstangen hatten sich erfreulich gelichtet – und waren schrecklich durcheinander. Sie sollte sie wirklich ordnen und dann nach oben in den Lagerraum gehen, um Kleider-Nachschub für Montagmorgen herauszusuchen. Sie sollte, aber sie wusste, sie würde es nicht tun. Sie war viel zu müde. Sie würde morgen herkommen, wenn sie sich ordentlich ausgeschlafen hätte und die Boutique leer war, sodass sie sich richtig konzentrieren könnte. Und ob es Lilly nun gefiel oder nicht, jetzt wollte sie nichts anderes mehr als ein Bad und eine heiße Schokolade und ins Bett.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Safe abgeschlossen war und alle Lichter und Schalter in der Küche ausgeknipst waren, eilte Frankie in den Laden zurück und griff sich ihren leuchtend rosaroten Mantel mit der Sammlung violetter und blauer Halstücher. Ein Grautyp durch und durch? Pah!
Sie blieb einen Moment lang stehen und senkte ihre Nase in die Blumen, die Dexter mitgebracht hatte. Sie dufteten herrlich, stark und betörend. Sollte sie den Strauß mit nach Hause nehmen? Nein, dachte sie, als sie sich den letzten Schal um den Hals wickelte: Heiter und farbenfroh, wie sie waren, gehörten die Blumen ins Geschäft.
»Heiter und farbenfroh – ganz so wie ich, Cherish«, sagte sie laut und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. »Genau wie ich.«
»Verzeihung.«
Als plötzlich eine Stimme durch den leeren Raum tönte, erstarrte Frankie. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie versuchte zu schlucken, konnte aber nicht. Sprechen war auch nicht möglich.
»Verzeihung, Spätzchen«, sagte der kleine grauhaarige Mann, der zwischen den nun gelichteten Reihen der Abteilungen Fünfziger- und Sechzigerjahre stand. »Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen – nicht schon wieder.«
Frankie starrte ihn an. Mühsam zwang sie etwas Speichel in ihren Mund. »Tja, haben Sie aber. Liebe Güte, Sie haben mir wirklich einen Schrecken eingejagt. Warum tun Sie das denn? Ständig zur falschen Zeit kommen? Es tut mir sehr leid, aber ich habe gerade für heute Abend zugemacht. Sie hätten früher da sein sollen. Ich habe nach Ihnen Ausschau gehalten.«
»Ich war hier, Spätzchen, aber du warst zu beschäftigt und hast mich nicht gesehen. Ist gut gelaufen heute, würde ich sagen. War ganz schön voll, nicht wahr?«
»War es«, bestätigte Frankie. »Aber Sie haben, äh, das Kleid, das Sie haben wollten, nicht gekauft, oder? Oder hat Lilly Sie bedient?«
Nein, kaum hatte sie das gesagt, wurde ihr klar, dass Lilly ihr davon sonst sicher erzählt hätte. Mit weit aufgerissenen Augen und dramatischen Gesten und überkandideltem Gekicher.
»Nein, Spätzchen. Es ist noch da. Niemand hat es heute gekauft.«
»Ach, gut.«
»Die haben es mir gestohlen, weißt du?«
»Das hat ganz sicher niemand getan. Wir handeln nicht mit Hehlerware«, sagte Frankie bestimmt. »Ich bin überzeugt, welches Kleid auch immer Sie im Auge haben, wurde von seiner Besitzerin rechtmäßig gespendet.«
»Nein.« Der kleine Mann schüttelte traurig den Kopf. »Wurde es nicht. Es war meines, und sie haben es gestohlen.«
Frankie seufzte. Sie war zu müde, um sich zu streiten. »Wer denn?«
»Thelma und Louise.«
Ach herrje … Frankie schloss die Augen. So süß er auch sein mochte, sie war viel zu müde, um sich heute Abend mit einem verrückten alten Transvestiten-Rentner herumzuschlagen, der im Reich der Fantasie lebte. Vielleicht war es das Beste, ihm nicht zu widersprechen.
»Ach ja? Das war aber nicht nett von ihnen.«
»Nicht nett? Das war ausgesprochen niederträchtig, verdammt noch mal!«
»Nun ja. Stehlen ist niederträchtig, natürlich. Und weil diese Thelma und Louise Ihnen das Kleid – angeblich – gestohlen haben und es als Spende hier gelandet ist, wollen Sie es jetzt wohl zurückhaben?«
»Ja. Nur«, erwiderte er leise, »war es nicht mein Kleid, Spätzchen. Ich trage keine Kleider.«
Kein Transvestit also. Einfach nur ein Spinner.
Er sah Frankie bekümmert an. »Es hat meiner Frau gehört. Sie ist verschieden. Tot.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Ach, mir auch, Spätzchen. Ich dachte, ich würde ihr bald folgen, aber es sieht nicht danach aus.«
»Ach, sagen Sie doch das nicht! Natürlich muss es ganz schrecklich für Sie sein, aber das Leben geht weiter. Ehrlich. Meiner Oma ist es gelungen, sich nach Opas Tod dann doch noch ein recht schönes Leben zu machen. Sie ist Vereinen beigetreten, auf Reisen gegangen und …«
»Das habe ich ja versucht, Spätzchen, aber das gibt mir nichts mehr. Ich will einfach nur ihr Kleid wiederhaben. Darf ich dir zeigen, welches es ist?«
»Na gut.« Trotz ihrer Müdigkeit tat der einsame alte Mann Frankie schrecklich leid. Sie würde die Kasse für ihn noch einmal aufmachen und einen letzten Verkauf tätigen. »Danach sperre ich aber zu, und Sie müssen wirklich gehen.«
Frankie folgte ihm zu den Fünfzigerjahre-Ständern und sah ihn auf ein cremefarbenes Seidenkleid deuten. Es war ganz im Stil von Audrey Hepburn: eng anliegend, ärmellos, hohe Taille mit einer extravaganten Schleife.
»Es ist wirklich hübsch.«
»Sie hat es an unserem Hochzeitstag getragen.« Sein Blick rückte in weite Ferne. »Und sie hatte eine weiße Rose im Haar. Sie hatte damals genauso dunkle Haare wie du, Spätzchen. Schön ist sie gewesen.«
»Ganz gewiss.« Auf einmal hätte Frankie ihn umarmen können. Und was machte es schon, wenn er ein bisschen sonderlich und leicht abgedreht war? Er wollte das Hochzeitskleid seiner Frau wiederhaben. Es hatte einen gewaltigen sentimentalen Wert. Was war schon verkehrt daran?
»Ich war erst siebzehn, als ich ihr bei einer Tanzveranstaltung drüben in Tadpole Bridge zum ersten Mal begegnet bin, und als ich einundzwanzig war, haben wir geheiratet. Wir hatten fünfzig wundervolle, glückliche Jahre miteinander.«
Frankie seufzte. Sie würde ihm das Kleid schenken müssen, sie wusste es. Sie könnte nicht von ihm verlangen, dafür zu bezahlen – wie auch immer es in ihren Laden gelangt war, er hatte ja wohl schließlich jedes Recht, es zurückzufordern.
»Neunzehnhundertsechsundvierzig war das.« Er sah sie an. »Kurz nach Kriegsende. Das Leben fing gerade an, sich wieder zu normalisieren. Nach all dem Elend war es schön, diese Dorf-Tanzabende und so was zu haben. Ich bin mit ein paar Kameraden nach Tadpole Bridge hinüber. Dort hatten sie immer eine gute Kapelle im Gemeindesaal. Eine richtige kleine Tanzkapelle, weißt du?«
Frankie, deren Auffassung von Tanzmusik von seiner garantiert Lichtjahre entfernt war, nickte dennoch.
»Ach, es war eine richtig tolle Fete. Eine umwerfende Band mit zwei Sängern – Schlagersänger sagten wir damals dazu. Jedenfalls habe ich sie gleich gesehen, als ich hereinkam. Schön war sie, wie sie da stand in ihrem hübschen rot-weißen Kleid, mit Haaren wie schwarze Seide. Sie war mit einigen Freundinnen dort, doch ich habe keine von ihnen auch nur wahrgenommen. Ich hatte nur Augen für sie.«
Frankie, die nach wie vor nichts als heimgehen und schlafen wollte, spürte seine tiefe Traurigkeit. Es würde ihr ja schließlich nicht wehtun, ihm ein Weilchen zuzuhören. Vielleicht half es ihm ja?
»Und Sie sind ihr auch aufgefallen?«
»Nicht gleich auf Anhieb, Spätzchen. Ich war recht schüchtern, und sie war so hübsch, ich habe sie einfach nur irgendwie angestarrt, während mein Herz geklopft hat wie verrückt. Meine Kameraden sind geradewegs hinüber zu den Mädchen und haben sie zum Tanzen aufgefordert, wissen Sie, aber ich nicht. Ich blieb zurück. Jedenfalls hat sie nur den Kopf geschüttelt, wenn einer sie gefragt hat, ob sie tanzen möchte. Meine Kameraden haben mit ihren Freundinnen Jive getanzt – darin war ich nie besonders gut, aber die Mädchen liebten es. Die amerikanischen GIs hatten ihnen all diese Schritte beigebracht, als sie hier drüben stationiert waren, wissen Sie. Und dann begann die Kapelle ›Twilight Time‹ zu spielen, und alle haben aufgehört mit Jitterbug, und ich sah sie auf der anderen Seite der Tanzfläche stehen …«
»Und da«, fragte Frankie, in deren Vorstellung das Ganze ablief wie ein alter Schwarz-Weiß-Film, »haben Sie allen Mut zusammengenommen und sie zum Tanzen aufgefordert, nicht wahr?«
»Oh ja.« Er grinste. »Das habe ich. Und ich habe gezittert wie Espenlaub, das kann ich dir sagen. Warum hätte sie auch mit mir tanzen sollen, nachdem sie meinen Kameraden einen Korb gegeben hatte? Aber ich musste sie einfach fragen. Ich war in sie verliebt, weißt du?«
»Aber Sie kannten sie doch noch gar nicht.«
»Nein, Spätzchen. Das war nicht nötig. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Ich wusste damals vom Fleck weg, für mich würde es nur sie oder keine geben. Und wenn sie mir eine Abfuhr erteilt hätte, wäre ich den Rest meines Lebens allein geblieben.«
Inzwischen war Frankie von dieser Liebesgeschichte aus alten Zeiten vollkommen hingerissen. Sie war so herrlich romantisch.
»Aber das hat sie nicht? Sie abgewiesen, meine ich?«
»Nein, Spätzchen, hat sie nicht. Sie hat mich nur angelächelt – sie hatte solch ein hübsches Lächeln, es hat den ganzen Gemeindesaal erleuchtet – und Ja gesagt. Und sie tat einen Schritt nach vorn in meine Arme – und los ging’s.«
Frankie nickte. »Und …?«
»Und all meine Kameraden waren eifersüchtig. Ich konnte sehen, wie sie mich alle angeschaut und sich gewundert haben, warum dieses schöne Mädchen mit mir tanzte, aber mit ihnen nicht. Und sie in den Armen zu halten war, als umarmte man … ach, ich weiß nicht … Sternenstaub und Mondlicht auf einmal. Und sie duftete nach Sommerblumen, und ich wusste, es würde nie wieder eine andere für mich geben.«
Frankie schluckte den Kloß in ihrem Hals. Zwischen alledem und dem hektischen, fieberhaften, lärmenden Herumfummeln und Gestikulieren beim Kennenlernen auf der Tanzfläche heutzutage lagen Welten.
»Und?« Sie sah ihn fragend an, damit er weitererzählte. »Dann haben Sie noch mehr mit ihr getanzt, oder?«
»Oh ja. Während der etwas lebhafteren Tänze haben wir uns hingesetzt, haben uns unterhalten und uns ein bisschen besser kennengelernt. Ich habe ihr ein Ingwerbier gekauft – im Gemeindesaal gab es keinen Alkohol –, und dann haben wir noch etwas länger getanzt. Und als der Abend vorüber war, habe ich sie nach Hause gebracht.«
»Ach, ist das schön«, seufzte Frankie. »Das Mädchen nach Hause bringen. Ich wünschte, das täte heute noch jemand.«
Er nickte. »Ich hielt ihre Hand, und wir liefen über Felder und an Landstraßen entlang, und ich wusste weder, wo ich mich befand, noch, wie spät es war, oder sonst etwas. Ich bin einfach nur dahingeschwebt, habe ihren Worten und ihrem Lachen gelauscht – sie hatte so ein hübsches Lachen –, und dann sind wir am Ende ihrer Straße stehen geblieben, und ich habe sie zum Abschied geküsst.«
Frankie schluckte erneut. »Das war aber mutig von Ihnen.«
»Oh ja.« Er gluckste. »Ich dachte, womöglich gibt sie mir eine Ohrfeige, aber das hat sie nicht getan. Sie hat meinen Kuss erwidert. Und ich war außer mir vor Glück. Es gab in jener Nacht keinen glücklicheren Burschen auf der ganzen Welt als mich.«
»Und Sie haben sie gefragt, ob Sie sich wiedersehen? Und sie hat Ja gesagt?«
»Ja, beides, Spätzchen. Durch irgendein Wunder fand sie etwas an mir – dabei war ich weder besonders groß noch besonders gut aussehend, hatte gelocktes Haar und einen leichten Silberblick. Und sie – das hübscheste Mädchen weit und breit. Und dann habe ich ihr eine Liebeserklärung gemacht.«
»Wow.« Frankie schüttelte den Kopf. »Und was hat sie gesagt?«
Er gluckste erneut. »Sie sagte, da sei sie aber froh, denn sie glaube, sie liebe mich auch. Und das war’s. Wir würden für immer und ewig zusammenbleiben, haben wir gesagt. Und so war es. Von dem Tag an … bis … bis sie gestorben ist. Vier Jahre lang waren wir ein Liebespaar und haben auf unsere Hochzeit gespart.«
»Und da hat sie dieses Kleid getragen?«
Er nickte. »Sie war immer schön, aber nie schöner als an unserem Hochzeitstag. In diesem Kleid. Es bedeutet mir alles, dieses Kleid. Nie und nimmer werde ich mich daran gewöhnen, ohne sie zu sein, Spätzchen. Niemals. An dem Tag, als sie starb, brach mir das Herz und wurde nie wieder ganz. Ich will nichts anderes, als wieder bei ihr sein. Sie war mein Leben, meine Liebe, mein Ein und Alles.«
Frankie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Bitte, bitte, nehmen Sie das Kleid. Sie brauchen nichts dafür zu bezahlen. Ich packe es Ihnen jetzt ein, und Sie können es mit nach Hause nehmen.«
»Das kann ich nicht, Spätzchen.«
»Wieso nicht? Glauben Sie etwa, öhm, Thelma und Louise könnten …?«
»Thelma und Louise sind schon lange weg. Zurück dorthin, wo sie hergekommen sind. Sie haben sich genommen, was sie haben wollten – und viel war da nicht zu holen, das kannst du mir glauben –, und dann sind sie verduftet.«
Na schön. In seiner gramerfüllten Gedankenwelt hatten Thelma und Louise mit ihren gezückten Pistolen und ihrer waghalsigen Autofahrerei Kingston Dapple den Rücken gekehrt. Das war ja schon mal eine gewisse Erleichterung.
»Also, wenn die beiden weg sind, warum können Sie dann das Kleid nicht mit nach Hause nehmen?«
»Ich habe kein Zuhause mehr, Spätzchen.«
Oh nein … Frankie stöhnte. Obdachlos – und das in seinem Alter! Wie grauenhaft. Da gab es doch bestimmt irgendwelche Unterkünfte? Oder war er durch seinen Kummer zu verrückt geworden, um in ein Asyl aufgenommen zu werden?
Mit hoffnungsvollem Blick sah er sie an. »Also, verstehst du jetzt, Spätzchen? Das Kleid war das Einzige, was ich von meiner Frau noch hatte. Und Thelma und Louise haben es mir geraubt – wie alles andere auch. Die übrigen Sachen sind mir egal, aber das Kleid liegt mir am Herzen. Es war das Wichtigste, was mir im Leben noch geblieben war.«
»Aber Sie sind doch hierhergekommen, um es zu kaufen, oder nicht?«
»Nein, Spätzchen. Ich bin mit dem Kleid hier. Es bringt mir meine Achsah näher, verstehst du?«
Achsah? Frankie runzelte die Stirn. Wo hatte sie diesen Namen nur schon einmal gehört?
»Achsah?«
»Ich fand, es ist ein hübscher Name.« Er nickte und lachte leise. »Sie allerdings fand ihn grässlich. Hat sich selbst insgeheim Betty genannt. Ihr Vater war ein schlimmer religiöser Eiferer. Berüchtigt war er dafür, drüben in Tadpole Bridge. Ihre Brüder und Schwestern hatten auch alle so merkwürdige alttestamentarische Namen. Die Armen. Sie haben alle darunter gelitten und …«
»Und wie heißen Sie?«, unterbrach ihn Frankie, bei der auf einmal mit erschreckender Deutlichkeit der Groschen fiel.
»Ernie Yardley, Spätzchen. Und du?«
»Frankie Meredith«, antwortete Frankie mit brüchiger Stimme. »Und Ernie Yardley können Sie gar nicht sein, denn vor ein paar Wochen war Biddy hier und hat sich etwas Schwarzes für seine Beerdigung ausgeliehen. Ernie Yardley ist tot.«
»Ich weiß, dass ich tot bin, Spätzchen.«
Frankie wurde ausgesprochen übel. Und sie bekam weiche Knie.
»Keine Angst, Spätzchen.« Ernie strahlte sie an. »Ich bin auch furchtbar erschrocken, als ich gemerkt hab, dass ich tot war, aber nicht hinübergegangen – falls du weißt, was ich meine.«
Nein, das konnte doch nicht wirklich wahr sein. Bestimmt träumte sie nur …
»Sie meinen, öhm …« Frankie machte die Augen zu in der Hoffnung, dass sie sich das alles nur einbildete, und öffnete sie dann wieder. Es war keine Einbildung. Ernie war immer noch da. »Sie meinen, Sie sind ein Geist?«
»So muss es wohl sein, denke ich mal.«
»Das gibt’s doch nicht.« Mit wilden Blicken sah Frankie sich in der Boutique um. »Es kann nicht sein, dass ich hier mit einem Geist rede. Ich glaube nicht an Gespenster.«
»Das ist nicht mein Problem, Spätzchen, wenn ich’s mal so sagen darf. Ob du nun an mich glaubst oder nicht, ist mir im Grunde Jacke wie Hose. Ich bin hier, und du bist es auch, und wir führen dieses Gespräch, also muss einer von uns beiden wohl im Irrtum sein. Hör doch, kann ich dir einfach mal erklären, wie ich die Lage sehe?«
»NEIN!«, schrie Frankie, die sich über ihre eigene Leichtgläubigkeit ärgerte und gleichzeitig noch immer schreckliche Angst hatte. »Nein, gehen Sie einfach nach Hause. Hören Sie auf, hier herumzualbern und dumme Spielchen zu spielen, und gehen Sie heim. Ach, beinahe wäre ich auf Ihre Lügengeschichte hereingefallen!«
»Meine Geschichte ist keine Lügengeschichte, Spätzchen. Es ist alles wahr. Ganz genau so ist es gewesen. Und alles, was ich mir wünsche, ist, wieder mit meiner geliebten Achsah vereint zu sein. Sie wartet auf mich, und ich kann nicht zu ihr.«
»Tut mir leid. Jetzt ist Schluss mit lustig. Sie sind kein Geist! Sie sind nicht Ernie Yardley! Die doofe Maisie Fairbrother hat Sie hierzu angestiftet, stimmt’s? Weil ich gesagt habe, dass ich nicht an Gespenster glaube, hat sie Sie hergeschickt, um hier herumzuspuken. Da könnten Sie sich genauso gut ein weißes Laken über den Kopf ziehen und ›Hu-hu-hu‹ rufen und …«
»Hör mal, Spätzchen, mir gefällt das genauso wenig wie dir. Ich verstehe es ja selbst nicht. Aber ich habe im Poundland mein Leben gelassen, als ich mir gerade ein paar schöne Schnäppchen für den Nachmittagstee besorgen wollte. Und es hat mir überhaupt nichts ausgemacht. So lange schon hatte ich mir gewünscht, mit meiner Achsah wieder vereint zu sein, Spätzchen. Aber das bin ich nicht. Ich bin hier, bei ihrem Kleid, das man mir gestohlen hat, verstehst du?«
»Raus!« Frankie marschierte zur Tür hinüber und riss sie auf. Der dicke graue Nebel wirbelte herein, wie … tja, wie eine ganze Schar Gespenster. »Raus mit Ihnen! Sofort! Sie machen mir keine Angst. Nicht mehr. Das ist nichts weiter als irgendein blöder Witz! Bitte gehen Sie jetzt!«
»Geh du doch und frag Slo Motion, wenn du die Wahrheit wissen willst«, sagte Ernie bekümmert. »Slo Motion hat meine Beerdigung organisiert. Die beiden – Thelma und Louise – haben sich nicht an meine Wünsche gehalten, Spätzchen. Sie haben alles geändert, damit es so billig wie möglich wurde.«
»Hören Sie auf! Sie reden nur noch albernes Zeug. Dieser ganze Unsinn von wegen Thelma und Louise.«
»Thelma und Louise sind meine Nichten, Spätzchen. Meine einzigen Verwandten. Und zwei miese Miststücke obendrein. Sie haben mich verbrennen lassen, obwohl ich doch bei Achsah auf dem kleinen Friedhof in Tadpole Bridge begraben werden wollte, wie wir es immer schon geplant hatten. Sie haben einen auf knauserig gemacht, Spätzchen. Haben all meine Sachen ausgeräumt und weggeschafft. Was sie nicht verkaufen konnten, haben sie einfach entsorgt. Wie auch Achsahs Kleid hier. Und damit nicht genug …«
Frankie legte die Hände über die Ohren. »La-la-la! Ich höre überhaupt nicht mehr zu! Raus mit Ihnen! Und sagen Sie Maisie Fairbrother, dass ich nicht darauf reinfalle! Ich glaube nicht an Gespenster!«
»Wie gesagt, tut mir leid, Spätzchen. Aber woran du glaubst oder nicht, ist wirklich nicht mein Problem. Geh zu Slo Motion und lass dir von ihm erzählen, was vor meiner Beerdigung los war. Slo weiß, wer ich bin und was passiert ist. Frag ihn nach der Autofahrt nach Tadpole Bridge. Und was da an der Ampel vorgefallen ist. War kein anderer da, nur er und ich, und ich war tot. Keine lebende Seele weiß von dieser Autofahrt, außer mir und Slo, und ich gelte ja wohl sozusagen nicht als lebende Seele. Er soll dir ein Foto von mir zeigen, und dann wirst du wissen, wer ich bin.«
»Hinaus!« Frankie hielt die Tür auf. »Ich will fair sein. Ich zähle jetzt bis zehn …«
»Okay, Spätzchen, nur zu.«
»Eins und zwei und …«, zählte Frankie langsam und kam sich sehr albern vor, »… neun und zehn. Also, wenn Sie jetzt nicht gehen, rufe ich die Polizei. Ich tu’s nur ungern, aber ich tu es, und dann werden Maisie Fairbrother und Sie mit Ihrem vorgetäuschten Gespensterquatsch ganz schön dumm dastehen!«
Keine Antwort. Blinzelnd sah sie sich im Laden um. Die Fünfzigerjahre-Kleider hingen unbewegt da. Achsahs angebliches Hochzeitskleid war nach wie vor dort.
Und Ernie Yardley oder wer auch immer war fort.
Wie in aller Welt war es ihm gelungen, an ihr vorbeizuschlüpfen? Er musste erstaunlich leichtfüßig sein für sein Alter. Kam wahrscheinlich vom Tanzen, dachte Frankie. Offenbar war er zu seiner Zeit ein guter Tänzer gewesen. Seit dem Film Strictly Ballroom war Gesellschaftstanz weit und breit immer beliebter geworden. Alle Altchen schwärmten dafür, weil es sie an die Zeiten erinnerte, als jedes Dorf noch einen kleinen Tanzsaal hatte – genau wie in Ernies erfundener Geschichte –, jedenfalls hatte Rita so etwas erzählt. Wie auch immer er es angestellt haben mochte, er war weg.
Frankie durchsuchte sorgfältig alle Ecken und Winkel der Boutique. Nein, keine Spur von ihm. Gott sei Dank, denn sonst hätte sie wirklich die Polizei gerufen. Also wirklich … So ein alter Narr – ihr solch eine Geschichte aufzutischen. Nur gut, dass Lilly nicht hier gewesen war – Lilly hätte ihm jedes Wort geglaubt. Und diese verdammte Maisie Fairbrother! Der würde sie aber auch die Meinung sagen! Es bräuchte schon mehr als ein paar verrückte alte Rentner, um ihr Angst einzujagen …
Nachdem sie alles nochmals überprüft hatte, schloss Frankie die Küchentür, schaltete den Alarm ein, knipste die Lichter aus und öffnete die Tür. Oh, es war wirklich eine fürchterliche Nacht. Tief hing der Nebel wie eine schwefelfarbene gelblich graue Decke und verhüllte so gut wie alles auf dem Marktplatz. Die Vorstellung, nach Hause in die Featherbed Lane zu gehen, sich ein Bad und eine heiße Schokolade zu gönnen und sich dann mit einem guten Buch ins Bett zu kuscheln, bis sie der Schlaf übermannte, war noch nie so verlockend gewesen.
»Gute Nacht, Spätzchen.« Ernies Stimme kam von irgendwo hinter ihr herübergeweht. »Und bitte, wenn du nach dem, was ich dir über mich und Achsah erzählt habe, auch nur einen Funken Mitgefühl im Herzen hast, dann erlöse mich von diesem Bann und geh zu Slo Motion und erzähl ihm, ich hätte gesagt: ›Hoppla, Ernie, also wirklich. Wir wollen doch nicht, dass die Leute denken, du hättest einen über den Durst getrunken, was?‹«
Frankie wirbelte in der Dunkelheit herum. Wie zum Teufel war er wieder in die Boutique zurückgelangt? »Nein. Auf gar keinen Fall. Ganz bestimmt nicht. Das geht jetzt aber wirklich zu weit. Raus aus meinem Geschäft!«
»Bitte, Spätzchen. Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein. Ich vermisse Achsah so sehr. Ich möchte wieder bei ihr sein. Ich kann nicht die ganze Ewigkeit allein verbringen so wie jetzt. Du kannst mir helfen, wenn du nur willst.«
»Genug!« Mit einem Schlag auf den Schalter machte Frankie das Licht wieder an, stapfte zornig durch den Laden und suchte zwischen, unter und über den Kleiderständern nach ihm. »Ich verstehe so viel Spaß wie alle anderen auch, aber das ist jetzt nicht mehr lustig. Ich weiß nicht, wo Sie sind oder wo Sie sich verstecken, aber jetzt reicht’s mir! Raus!«
Obwohl Frankie jeden Quadratzentimeter von Francesca’s Fabulous Frocks von oben bis unten durchkämmte, fand sie von Ernie Yardley keine Spur.
Der Laden war vollkommen leer.