2. Kapitel

Als der Kaffee gekocht war, die Rum-Babas verführerisch und klebrig auf zwei Tellern glänzten und sie in der winzigen Küche von Rent-a-Frock hockten, fand Rita angesichts der unübersehbaren Verwirrung und Ungläubigkeit in Frankies Miene offenbar, dass es höchste Zeit sei, die Dinge unmissverständlich klarzustellen.

»Also«, einen Rum-Baba jonglierend hielt Rita eine tropfende Sirupspirale von dem scharlachroten Kleid fern, »jetzt hör mir mal zu. Ich habe das alles völlig falsch angefangen. Ich hätte nicht mit dem Vererben herumalbern, sondern es dir geradeheraus sagen sollen. Freundschaftlich und sachlich. Ich dachte, es wäre ein Spaß, dich damit zu überraschen, aber so wie es aussieht, bist du einfach nur verwirrt. Das Wesentliche hast du aber wohl mitbekommen?«

Frankie, den Mund voller Rum-Baba, nickte.

»Gut.« Rita strahlte. »Wie ich schon sagte, der ganze rechtliche Kram ist schon erledigt. Vor meiner Abreise können wir alles andere noch zusammen durchgehen. Allerdings habe ich hieraus etwas gelernt. Wenn ich Brian von dem Bungalow erzähle, sage ich es ihm ganz unumwunden, ohne herumzualbern.«

»Gute Idee«, nuschelte Frankie. »Brian ist ja nicht gerade die hellste Kerze im Leuchter. Aber bitte, bitte sag es mir auch unumwunden, weil ich es immer noch nicht wirklich kapiert habe. Warum genau gehst du nach Mykonos?«

»Um mir einen Traum zu erfüllen.« Rita gelang es, die Rum-Baba-Krümel von ihrem Lipgloss zu entfernen, und sie lächelte verträumt. »Ich habe eine Strand-Taverne gekauft. Ich werde bis ans Ende meiner Tage in Shorts und Flipflops herumlaufen. Ich habe all meine Ersparnisse dafür ausgegeben. An diesem Laden hier habe ich im Lauf der Jahre nicht schlecht verdient. Ich habe während der guten Zeiten das Geld geschickt angelegt. Ich brauche den Erlös aus dem Verkauf des Geschäfts oder des Bungalows nicht. Ich hab dich lieb, und in gewisser Weise auch den armen Brian. Ich möchte, dass ihr beide bekommt, was ich das Glück hatte zu besitzen, aber jetzt nicht mehr brauche.«

»Danke, aber …«

»Erzähl mir nicht, du hättest nie einen Traum gehabt«, unterbrach Rita, »denn das weiß ich besser. Wie viele Male, seit du hier arbeitest, hast du gesagt, es wäre dein Traum, eine eigene Modeboutique zu besitzen?«

»Nun ja, natürlich habe ich mir genau das immer gewünscht. Aber ich habe es immer für einen unerreichbaren Traum gehalten. Ich hätte nicht erwartet, dass du ihn mir erfüllst – nie im Leben.«

»Dann sieh mich einfach als deine gute Fee. Die deinen Herzenswunsch wahr macht genauso wie meinen eigenen.« Rita strahlte überglücklich und schenkte Kaffee nach. »Weißt du, Mykonos war mein Traum seit dem Tag, als ich im Alter von acht Jahren ein Bild davon in meinem Kinderlexikon gesehen hatte. Es war so weit entfernt von meinem Alltag wie der Mond. Seither habe ich mir gewünscht, dort zu leben.«

»Aber du bist noch nie da gewesen, oder?«

»Nein. Noch nicht. Ich wollte nie dorthin und dann wieder heimkehren müssen. Ich wollte nur hin – und dort bleiben. Und jetzt, wenn ich es zum ersten Mal sehe – wirklich und wahrhaftig sehe –, dann ist es, weil ich bis ans Ende meiner Tage dort leben werde.«

»Aber wenn es dir nicht gefällt?«

»Nicht gefällt?« Rita prustete. »Wie könnte es mir nicht gefallen? Ich werde es lieben. Es ist meine Bestimmung.«

»Aber du kennst dort überhaupt niemanden, und wie kannst du eine Taverne gekauft haben, wenn du noch nie da warst, und wen meinst du mit ›wir‹ und ›uns‹?«

»Nun«, Ritas Augen funkelten, »das ist das andere spannende Kapitel dieser Geschichte – au verflixt, war das die Ladentür? Ja. Ach, so ein Mist, ich glaube, wir haben Kundschaft.«

»Müsste das nicht eigentlich heißen: ›Oh prima, ich glaube, wir haben Kundschaft an diesem viel zu stillen Geschäftstag‹?«, fragte Frankie schmunzelnd. »Oder sehe ich da irgendwas völlig falsch?«

Als sie die Küche verließen, sagte Rita mit gerunzelter Stirn: »Nein, du hast ganz Recht, aber ich wollte ungestört mit dir reden … und die Kundschaft ist die blöde Biddy. Bedien du sie, Liebes. Ich will aus diesem Kleid raus, und ich fürchte, Biddy bringt immer meine schlechtesten Seiten zum Vorschein.«

Die Ladentür von Rent-a-Frock stand sperrangelweit offen, und mit einem Schwall waagerechten Regens wehte eine kleine, in einen tropfenden Regenmantel gehüllte und einen noch schlimmer tropfenden Schirm schwenkende Frau herein.

»Schwarz!«, verkündete sie vom oberen Ende ihres durchsichtigen Regenumhangs her. »Ich brauche Schwarz!«

»Hallo, Biddy. Schön, dich mal wieder zu sehen. Scheußliches Wetter heute, nicht wahr? Lass uns die Tür zumachen, ja? Ach, und versuch doch bitte den Boden nicht allzu sehr vollzutropfen – Gesundheit und Sicherheit, du weißt schon.« Rita war auf dem Weg zu den mit Vorhängen verhängten Umkleidekabinen stehen geblieben. »Und nimm doch um Himmels willen diesen Schirm runter! Du weißt doch, ein im Haus aufgespannter Schirm bringt Unglück.«

Biddy, noch immer tropfend, gehorchte widerstrebend. Dank ihrer Regenschirmdusche wurden alle Sachen im Umkreis von einem halben Meter klatschnass.

Obgleich ihr der Kopf schwirrte, verfiel Frankie automatisch in ihren freundlichen Verkäuferinnen-Plauderton.

»Du suchst etwas Schwarzes?«, erkundigte sie sich. »Wie schön. Festtagskleidung für Weihnachten?«

»Wohl kaum.« Biddy schniefte. »Beerdigung. Morgen.«

»Aha, verstehe … Tut mir leid. Ich hoffe, es war kein naher Angehöriger.«

»Nein, also, kein Verwandter. Mehr eine Art Freund. Ein Bekannter, eigentlich. Ernie Yardley.«

Frankie machte ein unsicheres Gesicht. »Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne.«

Biddy wischte weitere Regentropfen ab. »Wohl eher nicht. Er wohnt allein in Tadpole Bridge, oder besser, hat dort gewohnt. Seine Frau Achsah ist vor einiger Zeit gestorben – eine wirklich schöne Beerdigung hatte sie.«

»Achsah?« Frankie zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ein sehr ungewöhnlicher Name. Hab ich noch nie gehört. Ist das Russisch oder so?«

»Liebe Güte, nein. Achsah ist in Berkshire geboren und aufgewachsen. Was man so hört, war ihr Vater ein schlimmer religiöser Eiferer.« Biddy machte ein missbilligendes Gesicht. »Alle ihre Brüder und Schwestern hatten wirklich absonderliche alttestamentarische Namen. Albern nenn ich so was. Wie auch immer, Ernie gehört – gehörte – zu unserer Seniorengruppe.«

»War er schon alt?«

»Mit dreiundachtzig einer der Ältesten in der Gruppe, aber, soviel ich weiß, fit wie ein Turnschuh.« Biddy schüttelte sich und durchnässte eine Reihe noch fast neuwertiger, aber etwas eingelaufener Strickjacken. »Anscheinend hatte er es aber schon seit Jahren mit dem Herzen.«

»Ach herrje.« Frankie hoffte inständig, dass sie mitfühlend aussah und klang. In Wirklichkeit wollte sie nichts anderes, als Biddy abzufertigen und zu dem Gespräch mit Rita über den Laden zurückzukehren. »Wie auch immer, ich nehme an, dass du nicht weiter darüber reden möchtest, also …«

»Entsetzlich war das.« Biddys blasse Stachelbeer-Augen funkelten. Es machte ihr offensichtlich nicht das Geringste aus, über den Tod zu sprechen. »Wir waren auf unserer üblichen wöchentlichen Minibustour zu Poundland, diesem Billigmarkt in Winterbrook, und Ernie wurde in dem Gedränge bei den Nostalgie-Leckereien eingequetscht. Ist umgekippt wie ein Mehlsack.«

Frankie biss sich auf die Lippen und heftete den Blick fest auf den Fußboden.

Hinter ihr tauchte Rita vor Lachen prustend in die Umkleidekabinen ab.

»Öhm …« Frankie holte tief Luft und fasste sich wieder. »Liebe Güte, wie grauenhaft.«

»Ach ja, das war es wirklich.« Biddy nickte. »Und obendrein hatte er gerade das letzte von den Vesta-Beefcurrys in die Finger gekriegt, der Glückspilz. Die sind wie Goldstaub. Er wollte sich eben die Angel-Delight-Karamellbonbons schnappen, die den Nachmittagstee so schön abrunden, da ist es passiert.«

Frankie nickte einfach nur, denn ihr war klar, dass sie dazu wirklich nichts sagen könnte, ohne ins Fettnäpfchen zu treten.

»Natürlich mussten wir alle vor Ort bleiben, bis der Krankenwagen kam. Reine Zeitverschwendung, das hätte ich denen gleich sagen können, Ernie war so tot wie ein Dodo, und die Warterei war ganz schön nervtötend.«

Frankie, die nur darauf brannte, Biddy so schnell wie möglich loszuwerden, hoffte, dass sie eine betrübte Miene hinbekam. »Äh, so, suchst du für die Beerdigung einen Mantel oder ein Kleid oder ein Kostüm?«

»Irgendwas Schwarzes und Billiges zum Ausleihen für den einen Tag.« Biddy wischte sich einen Regentropfen von der Nasenspitze. »Lohnt sich ja nicht, das schöne Geld zu verschwenden und für nur einen Tag etwas Neues zu kaufen, nicht wahr?«

»Ähm, nein. Wohl eher nicht. Und es ist natürlich zu hoffen, dass du nicht noch zu vielen anderen Trauerfeiern gehen musst.«

Biddys Augen glänzten. »Ach, in meinem Alter werden Beerdigungen allmählich zu geselligen Höhepunkten. Ich gehe zu jeder Menge Trauerfeiern, weißt du? Aber keine davon erfordert Schwarz. Heutzutage ist das kaum noch üblich. Wenn du mir also irgendwas möglichst Billiges in Schwarz heraussuchen könntest. Ich hab überhaupt nichts Schwarzes in meiner Garderobe, weißt du?«

»Ja nun, es steht nicht jedem.«

Biddy nickte mit einer kleinen Dusche Regentropfen. »Es macht so blass. Cherish, das ist meine Farbberaterin drüben in Hazy Hassocks, hat mir gesagt, ich soll Schwarz um jeden Preis meiden. Cherish sagt, ich bin ein blühender Frühlingstyp.«

Blühend? Frühling? Frankie blinzelte. Blass und rothaarig, wie sie war, sah Biddy eher aus wie ein blutarmes Eichhörnchen.

»Blaugrün, Aqua- und Primeltöne sind meine Farben, hat Cherish mir erklärt.« Biddy nickte, immer noch tropfend. »Frühlingsfarben. Aber bei dieser Beerdigung unpassend, denn«, sie funkelte empört, »die hier erfordert schwarze Kleidung. Dabei hätte ich gar zu gern meinen nilgrünen Zweiteiler angezogen. Oder vielleicht meinen zitronengelben Staubmantel.«

»Ach je«, meinte Frankie beschwichtigend und dachte insgeheim, dass jede der erwähnten Pastellfarben Biddy noch unscheinbarer wirken ließ. Auch fragte sie sich, was diese Farbberaterin Cherish aus Hazy Hassocks bloß für einen sonderbaren Humor hatte. »Also, dann wollen wir mal sehen, was wir finden können, in Schwarz und Größe … vierunddreißig?«

»Und als Kurzgröße«, fügte Biddy hinzu und tippelte auf die überfüllten Kleiderständer zu, nahm ihren Regenumhang ab und schüttelte ihn über dem Fußboden aus. »Ich will nichts, was mir bis zu den Knöcheln hängt.«

»Klar …« Frankie, die vor Ungeduld schon beinahe zappelte, begann die ungeordneten Ständer durchzusehen. »Mal sehen, was wir da haben …«

Frankie empfand es als sehr undankbare Aufgabe. Abgesehen von der Tatsache, dass der ganze Laden ein einziges Durcheinander war und sie nach Beerdigungsbekleidung suchte, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Ritas verblüffende Verkündigung. Den Laden zu übernehmen wäre natürlich herrlich, aber wie wäre ein Leben ohne Rita? Frankie wusste genau, wie es wäre: unvorstellbar, so wäre es.

»Vielleicht der hier?« Frankie zog einen schwarzen Mantel mit nachgemachtem Astrachan-Kragen aus dem Wirrwarr. »Ist deine Größe, außerdem hübsch und auch warm. Du wirst etwas Warmes brauchen bei diesem Wetter, besonders wenn du, ähm, draußen herumstehst … ich meine, falls die Feier im Krematorium stattfindet, wird es wohl nicht gar so kalt.«

»Es ist eine Feuerbestattung«, bestätigte Biddy beinahe freudig. »In Thatcham. Wir haben einen Minibus. Allerdings pfeift da drüben ein ganz schön unangenehmer Wind, während man auf den Einlass wartet, falls an dem Tag gerade viel los ist. Wie am Fließband geht das da manchmal. Wenn man erst mal im Krematorium drinnen ist, ist es allerdings besser. Nett und behaglich. Und immer hübsch warm.«

Das konnte sich Frankie gut vorstellen. Zum Glück hatte sie es nie selbst erleben müssen, abgesehen von der Beerdigung ihres Großvaters, als sie noch sehr jung gewesen war. »Wollen wir ihn anprobieren?«

»Ich ja, du nicht. Da gibt es kein ›wir‹. Ihr jungen Leute habt wirklich keine Ahnung von Grammatik.« Biddy schnappte sich den Mantel und musterte ihn. »Hmmm, nicht übel. Die richtige Größe und überdeckt alles andere. So kann ich etwas Frühlingsfarbenes darunter tragen, nicht wahr?«

Frankie nickte, schritt über den fallen gelassenen, klatschnassen Regenmantel hinweg und umhüllte Biddys zierliche Gestalt mit dem schwarzen Mantel. »Ich denke schon, es sei denn, du musst ihn beim Leichenschmaus ausziehen. Vielleicht erwartet die Familie des, öhm, Verstorbenen, dass du ganz und gar in Schwarz gehst.«

»Ernie Yardley hatte keine Familie, die der Rede wert wäre.« Biddy drehte sich vor dem Standspiegel des Ladens hin und her. »Nur ein paar Nichten oder Neffen oder so. Die organisieren die Beerdigung, die sind es, die Schwarz verlangen, aber sie hatten mit Ernie nichts am Hut, solange er lebte, und sind also mit Sicherheit nur auf das Geld aus. Da wird kaum etwas zu holen sein. Der arme alte Ernie hatte nicht viel außer seiner Altersrente.«

Frankie, die nichts anderes wollte, als Biddy zum Ausleihen des Mantels und dann zur Tür hinauszudrängen, um mit Rita reden zu können, nickte mitfühlend.

»Immerhin machen die Motions die Trauerfeier, wird also picobello«, fuhr Biddy fort, die ärgerlicherweise immer noch aufs Plaudern aus war. »Traditionelle Bestattungsunternehmer sind die. Nichts von wegen Spaß-Kirche und so. Die wissen, was sich gehört.«

Frankie horchte auf. »Ach, ich kenne Slo Motion. Er und Essie Rivers haben eine Wohnung im Haus meiner Freundin Phoebe. Er ist ein netter Mann. Ausgesprochen lustig.«

»Er ist ein Gestrauchelter.« Biddy zog die Nase hoch. »Benimmt sich nicht, wie es sich für einen Bestattungsunternehmer gehört. Lebt in wilder Ehe, und das in seinem Alter – pfui Teufel, sage ich. Na, immerhin richtet er den Leichenschmaus drüben in Hazy Hassocks im Faery Glen aus, das kann man als gute Tat gelten lassen, denn da gibt es immer was Anständiges zu essen. Also, was ich sagen wollte, was ich darunter trage, wird wohl keinen groß kümmern, wenn die Formalitäten im Krematorium erst einmal vorüber sind, oder?«

Frankie, in Beerdigungsetikette wenig bewandert, nahm es nicht an und schüttelte den Kopf.

»Sehr hübsch.« Rita, die sich beim Ausziehen des roten Kleides wieder gefasst hatte, tauchte nun in schwarzer Hose und türkisblauem Pullover aus einer der Kabinen auf. »Dieser Mantel ist wie für dich gemacht, Biddy. Frankie hat immer einen guten Blick dafür, was den Leuten passt.«

»Ja, das hat sie wohl«, gab Biddy widerstrebend zu, während sie weiterhin posierte und ihr Spiegelbild bewunderte. »Ja, ja, das ist genau das Richtige.«

»Brauchst du auch einen Hut?«, fragte Frankie. »Ich glaube, wir haben irgendwo ein paar schwarze Baskenmützen … und Handschuhe … und einen Schal? Wenn du nicht viel Schwarz trägst, hast du vielleicht keine passenden Accessoires, und wenn, wie du sagst, die, äh, Wartezeit kalt werden könnte …«

»Tja, jetzt, wo du es erwähnst.« Biddy knöpfte den schwarzen Mantel auf und griff sich ihren durchnässten Regenmantel samt noch immer triefendem Schirm. »Ich habe überhaupt keinen Schnickschnack in Schwarz – Cherish hat mir von Schwarz grundsätzlich abgeraten –, also, ja, das ist eine gute Idee, aber nur, wenn es nicht allzu viel kostet.«

»Nichts kostet hier viel«, sagte Rita. »Das solltest du inzwischen wissen, Biddy. Okay, wollen wir schon mal den Papierkram machen, während Frankie dir etwas heraussucht?«

Frankie, die mehrere große Pappkartons mit einem bunten Sammelsurium von Accessoires durchwühlte, warf einen Blick zur Theke. Rita, wie sie mit Biddy plauderte und währenddessen das Verleihformular in dreifacher Ausfertigung ausfüllte und die Kohlepapiere an den richtigen Platz schnippte, sah aus wie immer. Sie sah nicht aus wie jemand, der im Begriff war, sich nach Mykonos abzusetzen.

»Hier, bitte schön.« Frankie legte Baskenmütze, Handschuhe und Schal auf die Theke. »Alles in Schwarz. Rita macht dir die Preise.«

»Zwei Tage Leihgebühr, wenn du alles am Freitag vor Geschäftsschluss zurückbringst.« Rita trug auch die Accessoires in das handschriftlich geführte Belegbuch ein. »Wenn du bis Samstag wartest, musst du einen Tag extra bezahlen.«

Frankie faltete alles rasch in eine große Supermarkt-Tragetasche.

Mit entsetzter Miene trennte sich Biddy von ihrem Geld und nahm Quittung samt Tasche entgegen. »Keine Sorge, es kommt alles gleich Freitag früh zurück, wenn ich nach Kingston Dapple fahre, um meine Bücher in der Bücherei umzutauschen. Mich kriegst du nicht mit deinen Wucherertricks, Rita Radbone.«

»Dir auch schönen Dank«, murmelte Rita, während sie zusahen, wie Biddy sich wieder nach draußen in das Unwetter kämpfte. »Da geht sie hin – mit Schirm, aber ohne Charme.«

Frankie runzelte die Stirn. »Aber warum gibt sie sich, als wäre sie schon steinalt? Sie muss in den Fünfzigern sein, damit ist man heutzutage doch nahezu jung. Sie könnte durchaus noch in Jeans und hochhackigen Schuhen gehen. Warum kleidet und benimmt sie sich wie eine Omi?«

»Weil sie eine blöde Ziege ist«, meinte Rita gelassen. »Manche Leute werden schon alt geboren, und zu denen gehört Biddy. War aber ein kluger Gedanke von dir, die Accessoires noch draufzulegen. Siehst du? Du hast wirklich Begabung für dieses Geschäft. Du bist ein Naturtalent.«

Frankie zuckte mit den Schultern. »Kleinvieh macht auch Mist, wie man so sagt.«

»Hmm.« Rita strahlte. »Aber sicher. Egal, wo waren wir, bevor Biddy mich zu unterbrechen geruhte?«

»Du wolltest erklären, was ›wir‹ bedeutet.«

»Ach ja.« Rita nickte und stützte ihre kräftigen Arme auf die Verkaufstheke. »Also, wie ich sagte, du lagst schon ziemlich richtig, als du vorhin Shirley Valentine erwähnt hast. Weißt du, auf Mykonos werde ich nämlich zu Rita Valentine … am Tag nach unserer Ankunft werde ich Ray Valentine heiraten.«

Frankie kreischte vor Lachen. »Ray Valentine? Du gehst nach Mykonos mit Ray Valentine, und ihr wollt heiraten? Lieber Himmel, Rita! Einen Moment lang dachte ich schon, du meinst es ernst. Ray Valentine … der ulkige alte Ray Valentine mit dem Blumenstand am Markt? Welche Frau, die noch alle Tassen im Schrank hat, würde denn Ray Valentine heiraten wollen?«

»Ich.«

Immer noch lachend sah Frankie Rita ins Gesicht. Hoppla. Rasch versuchte sie, das Kichern zu unterdrücken. »Äh, tja, ich meine, äh, öhm … Ach herrje. Es ist dir ernst, nicht wahr?«

»Todernst.«

»Öhm, na dann herzlichen Glückwunsch. Aber ich wusste ja gar nicht, dass Ray und du, öhm …«

»Es gibt so manches, was du von mir nicht weißt.« Rita sah noch immer ziemlich angefressen aus. »Und was die Romanze mit Ray betrifft, tja, die habe ich geheim halten können, und es wäre mir sehr lieb, wenn das so bliebe.«

»Nun, ja, natürlich«, sagte Frankie schnell. »Ich meine, ist ja verständlich. Äh, ich wollte sagen … nun, ich weiß, er schaut oft hier rein, und ihr seid befreundet, und er lädt dich hin und wieder zum Mittagessen ein, aber heiraten

»Ich verstehe überhaupt nicht, was du so unmöglich daran findest, dass ich Ray Valentine heirate.«

Franklin schob die gedankliche Antwort »Er ist fett, glatzköpfig, weit über fünfzig, trägt scheußliche Klamotten, raucht Pfeife und riecht nach Kompost« rasch beiseite und lächelte tapfer. »Ja nun, ich meine, er ist schon seit Ewigkeiten eine feste Größe auf dem Marktplatz, aber ich wusste nicht, dass ihr überhaupt, öhm, ein Liebespaar seid, geschweige denn, öhm, tja …«

»Ray ist zwar ein paar Jahre älter als ich, aber wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er war mein erster Schwarm und meine erste Liebe. Genau genommen meine einzige wahre Liebe. Dann hat er sich mit dieser fürchterlichen Deidre Muncaster eingelassen und sie geheiratet, und ich, tja, ich habe mich in den vielen, vielen Jahren dazwischen einfach mit verschiedenen anderen Leuten amüsiert, aber ich habe nie aufgehört, Ray zu lieben … Und dann, nach seiner Scheidung, sind Ray und ich uns allmählich wieder nähergekommen.«

»Ach ja? Wann war denn das?«

»Vor etwa einem Jahr. Nach Brian vom Kebabwagen – er hat es verstanden, der Gute.«

Da Brian nur selten den Anschein machte, als würde er verstehen, was um ihn herum vorging, hatte Frankie diesbezüglich so ihre Zweifel. »Mensch, so was, du und Ray Valentine … ich fass es nicht, dass ich nie irgendwas bemerkt habe.«

»Wir waren sehr diskret, meine Liebe. Ich weiß, dass ich in Kingston Dapple immer als eher ›leichtes Mädchen‹ verschrien war – und wollte nicht, dass irgendjemand Ray damit aufzieht. Ich kann sehr diskret sein, wenn ich will.«

Da »Rita« und »diskret« zwei Worte waren, die niemand in Kingston Dapple jemals im gleichen Satz verwenden würde, hielt Frankie es nicht gerade für die beste Idee aller Zeiten, an dieser Stelle zu kichern, und bemühte sich also um einen ernsten Gesichtsausdruck. »Äh, klar. Und Ray freut sich auch auf Mykonos?«

»Ray will genauso hier weg wie ich, also hat er sein Geld mit meinem zusammengelegt, und wir haben die Taverne gekauft.«

»Die keiner von euch beiden jemals gesehen hat?«

»Ray hat sie gesehen. Ich kenne sie von Fotos. Er ist drüben gewesen und hat das Geschäftliche erledigt, ich habe die Papiere hier unterzeichnet. Es ist gerade erst alles unter Dach und Fach – deshalb habe ich auch bisher noch nichts gesagt. Nun reisen wir in zwei Wochen ab und werden am nächsten Tag am Strand getraut. Und aus diesem Grund regle ich jetzt alle meine Angelegenheiten.«

Frankie stieß die Luft aus. Das klang noch immer alles völlig unsinnig, könnte jedoch durchaus der Wahrheit entsprechen. Vielleicht ging Rita ja wirklich mit Ray nach Mykonos? Vielleicht schenkte Rita ihr wirklich den Laden?

»Aber, dann verpasse ich ja die Hochzeit … Ihr gebt doch hoffentlich wenigstens eine Abschiedsparty, oder?«

»Bedaure, Liebes, nein. Wir halten den Ball flach, in jeder Hinsicht. Und bevor wir fliegen, haben wir noch jede Menge zu tun. Du und ich müssen alles wegen Francesca’s Fabulous Frocks besprechen, und mit Brian muss ich die Sache mit meinem Bungalow klären. Und auch Ray muss sich um seinen Blumenkiosk kümmern.«

»Hat er ihn verkauft?«, fragte Frankie. »Jammerschade. Es gibt schon, solange ich denken kann, einen Blumenstand auf dem Marktplatz, nicht wahr?«

»Jawohl. Valentine’s Flowers gibt es nun in der dritten Generation. Aber Ray hat das geregelt. Sein Neffe übernimmt den Stand.«

»Oh, schön. Gut zu wissen, dass weiterhin ein Valentine Blumen auf dem Marktplatz verkauft. Dann bleibt wenigstens etwas, wie es war. Ist er hier aus der Gegend, der Neffe?«

Rita stockte. »Dexter? Öhm … Nein … Kommt von Oxford her. Er ist der Bengel von Rays Bruder. Und Bengel ist der richtige Ausdruck, sagt Ray. Er ist ein arger Frauenheld, wenn du verstehst, was ich meine. Hat seinen Job verloren und steckt an allen Ecken und Enden tief in Schwierigkeiten. Was da genau los war, weiß ich nicht, ich wollte nicht nachfragen, aber ich glaube, es war ziemlich unschön. Ich glaube, Ray überlässt ihm den Blumenstand, um ihn wieder in die Spur zu bringen, bevor er ganz und gar auf die schiefe Bahn gerät.«

Na großartig, dachte Frankie, der noch immer der Kopf schwirrte. Ein weiterer fetter und glatzköpfiger Valentine auf dem Marktplatz – nur diesmal jünger und lüsterner und ohne Rays freundliche und humorvolle Art zum Ausgleich.

Sie sah Dexter Valentine schon direkt vor sich – eine Art Ray im Kleinformat: übergewichtig, ungepflegt, mit Tattoos und Piercings bis hoch zur Baseballkappe auf der Kapuze, und noch dazu arbeitsscheu, gewalttätig und ein Kleinkrimineller.

So, wie es klang, war Dexter Valentine, der Erbfolger des Blumenstandes, ein Typ, auf den das verschlafene Kingston Dapple gut und gerne verzichten konnte.