13. Kapitel

Am Montagmorgen um halb zehn hatte Frankie in Francesca’s Fabulous Frocks nach dem Eröffnungsansturm ihres ersten Geschäftstages wieder halbwegs Ordnung hergestellt. Die Kleiderstangen waren nachbestückt und sortiert, die lila-goldenen Tragetaschen säuberlich gestapelt; das Wechselgeld in der Kasse aufgefüllt; Michael Bublé war durch eine Auswahl an Easy-Listening-Musik von Jack Jones, Matt Monroe und Andy Williams ersetzt worden; die Theke war poliert, der Fußboden gewischt und Dexters regenbogenfarbener Blumenstrauß, der nach wie vor herrlich aussah und duftete, hatte frisches Wasser bekommen.

Mit Wohlgefallen sah Frankie sich um – freute sich an der Ansammlung prächtiger Stoffe, leuchtender Farben und unterschiedlichster Muster und Schnitte – und war mächtig erleichtert.

Nach einer schlaflosen Samstagnacht – aufgrund von Erschöpfung, noch verstärkt durch die zweifache Fahrt im Erbsensuppen-Nebel, aber vor allem wegen Slo Motions Enthüllungen über Ernie Yardley – hatte Frankie alle Pläne, den Sonntag im Geschäft zu verbringen, fallen lassen.

Nachdem sie gegen Morgengrauen endlich eingeschlafen war – als Lilly gerade von ihrer Ausgehnacht in Winterbrook nach Hause kam –, hatte Frankie unruhig gedöst, war mittags erst richtig wach geworden und hatte sich den ganzen Tag lang wie zerschlagen gefühlt. Nachdem sie beschlossen hatte, dass sie beim Aufräumen des Ladens und Auffüllen der Kleiderständer am Montag, nachdem sie sich gründlich ausgeruht hatte, weitaus bessere Arbeit leisten würde, und sich selbst erfolgreich eingeredet hatte, der Aufschub habe ganz und gar nichts mit dem Gedanken zu tun, dass Ernie Yardleys Geist Wirklichkeit sein könnte, hatte sie den Tag damit verbracht, mit halbem Ohr Lillys Schwärmereien über den neuesten »süßesten Typ der Welt« zuzuhören und darüber nachzugrübeln, was Slo ihr erzählt hatte.

Das konnte doch einfach gar nicht wahr sein.

Natürlich hatte sie Lilly gegenüber von alledem nichts erwähnt. Hauptsächlich, weil Lilly es womöglich einfach geglaubt und damit alles noch viel schlimmer gemacht hätte, aber auch weil eine verliebte Lilly als Zuhörerin etwa genauso wenig taugte wie eine Tischdecke. Also hatte Frankie die ganze Sache mit Ernie Yardley für sich behalten, so wie sie es Slo versprochen hatte.

Und sie hatte ihr den gesamten Sonntag verdorben.

Jetzt hingegen, an diesem hellen, ungewöhnlich frostigen Morgen, da der Nebel sich gelichtet hatte und die tief stehende Wintersonne durch die festlich geschmückten Fenster hereinfiel, hätte sie über ihre Leichtgläubigkeit beinahe lachen können. Geister! Nie im Leben! Es war doch wohl eher so, nahm Frankie stark an, dass Maisie Fairbrother ihr Streiche spielte – auch wenn das Foto ein ziemlich erdrückender Beweis war, ganz zu schweigen von dem Vorfall an der Verkehrsampel … Und warum sollte irgendjemand ihr solche Streiche spielen wollen? Es war ihr nicht bewusst, dass sie irgendwelche Feinde hätte, und sie war ziemlich sicher, dass Rita allgemein beliebt gewesen war. Also, wer? Und warum?

Denn wenn es kein Streich war, musste der Spuk ja wohl echt sein?

Nein. Kopfschüttelnd fuhr sie mit der Hand über eine der Sechzigerjahre-Kleiderstangen. Alles Unsinn. Auch wenn sie, das musste man dazusagen, am frühen Morgen, als der Marktplatz noch dunkel und verlassen und sie selbst noch etwas verschlafen gewesen war, die Boutique mit einem Gefühl starker Beklommenheit geöffnet hatte. Und sie hatte, musste sie sich selbst eingestehen, nach Ernie Yardley gerufen – nur für alle Fälle …

Doch das Geschäft war vollkommen leer gewesen. Achsahs Kleid hing noch immer auf dem Fünfzigerjahre-Ständer, ohne von einem kleinen, älteren, grauhaarigen und koboldgesichtigen Geist bewacht zu werden.

Das war doch alles irgendein alberner, aber raffiniert ausgetüftelter Trick, um sie ins Bockshorn zu jagen. Sie würde herausfinden, wer dahintersteckte, und damit fertigwerden.

Als sie durch die großen Doppelfenster auf den Marktplatz hinausblickte, wo die vom Nebel hinterlassene Feuchtigkeit zu Raureif gefroren war, der alles unter dem glockenblumenblauen Himmel weiß glänzen ließ wie Schnee, konnte sie nicht verstehen, wie sie sich so sehr hatte aufregen können. Es musste irgendeine schlichte und vernünftige Erklärung geben.

Es gab keine Geister und Gespenster. Basta.

Einkäufer gingen mit vorsichtigen Schritten über die vereisten Pflastersteine vergnügt ihren Montagmorgen-Besorgungen nach, und Dexter, der sich gelegentlich auf die Hände blies, sodass sein Atem in der eisigen Luft Wölkchen bildete, arrangierte geschäftig riesige Eimer mit roten und weißen Blumen auf den Holzdielen vor seinem Kiosk und ergänzte die Bestände von Türkränzen und Mistelzweigen.

Sie beobachtete ihn einen Augenblick. Er trug Jeans, Stiefel und Lederjacke wie zuvor, und sein Pullover heute Morgen war türkisblau: ein lebhafter Farbtupfer vor dem üppigen dunklen Grünzeug. Frankie lächelte vor sich hin. Sie selbst hatte heute ein kurzes, ausgestelltes türkisfarbenes Kleid mit dunkelblauer Strumpfhose und Stiefeln an. Nebeneinander würden sie ein zusammenpassendes Paar ergeben.

Nicht etwa, dass es da irgendeine Form von Zusammengehörigkeit gäbe. Natürlich nicht. Nicht als Paar. Weitere Verwicklungen dieser Art wollte sie keinesfalls – auch wenn Dexter sich nicht ohnehin schon mit Ginny und den Heimservice-Damen eingelassen hätte. Aber er war, gestand sie sich ein, objektiv und von Weitem gesehen, einfach eine absolut hinreißende Augenweide.

Die Tür flog auf, und drei dem eisigen Morgen entsprechend warm eingemummelte Frauen mit Einkaufskörben in Händen stürmten herein und steuerten nach einem fröhlich gerufenen »Guten Morgen!«, die Melodie von »Born Free« vor sich hin summend, auf die Achtzigerjahre-Kleiderständer zu.

Francesca’s Fabulous Frocks war wieder in vollem Gange.

Um elf Uhr vormittags war der Laden rappelvoll. Frankie kam kaum zum Luftholen. Sie musste ganz dringend aufs Klo und einen Kaffee trinken. Sie arbeitete, so schnell sie konnte, packte Kleider ein und plauderte nebenbei, nahm Geld entgegen und zog Karten durch, doch die Schlange an der Kasse schien trotzdem immer länger zu werden.

»Hier.« Dexter bahnte sich einen Weg hinter die Theke und reichte ihr einen Becher Kaffee aus dem Greasy Spoon. »Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen.«

»Du rettest mir das Leben«, sagte Frankie schmunzelnd, während sie ein Grunge-Outfit sorgfältig in Seidenpapier einschlug. »Vielen, vielen Dank. Ich hatte gehofft, heute Vormittag mit einem Becher Kaffee zu dir rauszukommen, aber«, sie sah zu der endlosen Schlange von Frauen hinüber, die nun Dexter begierige Blicke zuwarfen, »ich bin nicht dazu gekommen.«

»Großartig, nicht wahr? Ich habe auch wirklich viel zu tun. Ich geh lieber zurück, bevor irgendein Gauner die Mistelzweige klaut.« Er grinste sie an. »Übrigens: schnipp, schnapp! Wir tragen dieselben Farben. Ob spukende Farbberatungsgeister uns das eingeflüstert haben?«

Frankie kicherte. »Ach, das Türkis – ja, ich weiß. Ich, äh, hab dich vorhin gesehen und fand, wir sehen ein bisschen aus wie Howard und Hilda.«

»Wer?«

»Darsteller in einer alten Sitcom. Trugen immer die gleichen Sachen. Das war ein Running Gag.«

»Ach so.« Dexter sah verständnislos drein. »Muss ich wohl verpasst haben.«

»Na dann vielleicht eher Torvill und Dean, die Eiskunstläufer?«

Dexters Miene hellte sich auf. »Oh ja, die kenne ich. Sie hat unglaubliche Beine.«

Frankie lachte.

»Wie auch immer«, Dexter fuhr sich mit den Fingern durchs seidige Haar, »was hast du denn fürs Mittagessen vor?«

Über Mittagessen hatte Frankie überhaupt noch nicht nachgedacht. »Weiß der Himmel. Ich glaube nicht, dass ich dazu komme, etwas zu essen. Macht nichts – ist eine gute Vorbereitung auf die Weihnachtsschlemmerei. Wie bitte?« Sie beugte sich über die Theke zu einer winzig kleinen Frau in einem riesigen Tweedmantel, mit Schalmütze und Fäustlingen. »Ja, ich habe mehrere Folklorekleider in der Siebzigerjahre-Abteilung. Ja, ich finde es auch immer hübsch, wenn unten ein bisschen Spitzenunterrock herausschaut.«

»Du brauchst Hilfe«, sagte Dexter lachend, als die Frau zu den entsprechenden Kleidern hinüberwackelte.

»In medizinischer Hinsicht?«

»Hinsichtlich einer Aushilfe. Wie ich auch. Ich weiß gar nicht, wie Ray bei Hochbetrieb allein klargekommen ist.«

»Er hat im Dezember und während anderer hektischer Phasen immer Brian zur Unterstützung dazugeholt.« Mit einem sehnsüchtigen Blick auf ihren rasch abkühlenden Kaffee griff Frankie nach einem mitternachtsblauen Lagenkleid aus Satin und einer Visakarte. »Vielleicht könntest du ihn fragen?«

Dexter nickte. »Ja, das werde ich tun. Er ist ein netter Kerl. Danke. Aber was ist mit dir?«

Frankie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich glaube, ich werde eine Teilzeitstelle inserieren müssen. Daran hätte ich überhaupt nicht gedacht, aber ich brauche noch jemanden. Sonst waren hier immer Rita und ich, und wir hatten nicht ständig zu tun, sodass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, dass ich eine Aushilfe brauchen könnte.«

»Jede Menge Studenten suchen nach Weihnachtsjobs«, sagte Dexter über die Schulter hinweg, während er sich durch die Menge zum Ausgang drängte. »Wenn du möchtest, könnte ich Ginny fragen, ob eine ihrer Freundinnen Interesse hat.«

Frankie rümpfte die Nase. Irgendwie wollte sie nicht, dass eine von Ginnys College-Kameradinnen ihr brühwarm und haarklein von Dexters Eroberung erzählte, auch wenn sie sich allein bei diesem Gedanken schon sehr, sehr alt vorkam, und sie wollte auch nicht Stunden um Stunden mit jemandem zusammen sein, der mit jedem dritten Wort »krass« und »fett« und »geil« sagte und alle Sätze mit einem Fragezeichen abschloss.

Ja, gar kein Zweifel. Sie war jetzt offiziell steinalt. »Ich glaube eigentlich, jemand Älteres würde besser hierherpassen. Viele der Kundinnen sind in mittleren Jahren – ich glaube, das wäre ihnen lieber. Ich denke später darüber nach.«

»Okay. Wie du meinst. Soweit ich gesehen habe, gibt es hier bestimmt genügend, äh, reifere Damen zur Auswahl. Du solltest eigentlich problemlos jemanden finden. Und wenn es etwas ruhiger wird, könntest du doch für eine halbe Stunde zumachen, damit wir uns nebenan ein Sandwich holen?«

Zumachen? Das Geschäft schließen, während noch zahlende Kunden in der Nähe sein könnten? Frankie schüttelte den Kopf. Rita würde Zustände bekommen. Rita hatte niemals den Laden zugemacht. Allerdings waren sie früher zu zweit gewesen. Eine von ihnen hatte immer die Stellung gehalten.

»Mal schauen. Netter Vorschlag – ich sehe allerdings nicht, wie sich das machen ließe. Aber danke noch mal für den Kaffee.«

Sie blickte Dexter nach, als er die Boutique verließ. Und alle anderen auch. Andy Williams war nicht der Einzige, der einen tiefen Seufzer ausstieß, als Dexter die Tür hinter sich schloss.

Während einer kurzen Flaute zur Mittagszeit eilte Frankie aufs Klo und ärgerte sich über sich selbst, dass sie beim Zurückkommen die Fünfzigerjahre-Ständer misstrauisch beäugte. Ernie Yardley, oder wer auch immer, war nirgends zu sehen. Vor sich hin schmunzelnd trat sie wieder hinter die Theke. Sie würde ihn nicht wiedersehen – ach, verflixt noch mal …

Frankie starrte zu Boden. Beim Versuch, dem Stapel lila-goldener Tragetaschen auszuweichen, hatte sie den überquellenden Papierkorb umgekippt. Noch eine der Aufgaben, die sie nach dem hektischen Samstag übersehen hatte. Es war so viel zu tun und so wenig Zeit, um es zu tun, und sie hatte keinerlei Hilfe.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihre wenigen aktuellen Kundinnen nach wie vor vergnügt herumstöberten und nicht bedient werden wollten, bückte sie sich und sammelte den Abfall auf, begleitet von Andy Williams’, wie ihr schien, jetzt nicht ganz korrekter Behauptung, er könne seine Blicke nicht von ihr abwenden.

Zwischen verknittertem Seidenpapier und zerrissenen Preisschildern lag eine Hand voll zerknautschter Visitenkarten auf den Bodendielen verstreut.

Cherishs Visitenkarten. Frankie hob eine davon auf und stopfte den Rest in den Papierkorb, um ihn später auszuleeren. Sie betrachtete die Karte sorgfältig und dachte nach. Und Lillys Vorschriften über Hygiene am Arbeitsplatz allesamt außer Acht lassend klopfte sie sich mit der Karte an die Zähne und dachte weiter nach.

Dann griff sie zum Telefon.

Cherish starrte auf das schwarze Bakelit-Telefon auf dem spitzenbedeckten Telefontischchen in der Diele ihres Bungalows. Wer in aller Welt rief sie an einem Montagvormittag um diese Zeit an? Cherish bekam selten Anrufe und rief noch seltener selbst jemanden an.

Hoffentlich war das nicht wieder einer von diesen eifrigen jungen Leuten, die ihr Doppelglasfenster oder eine neue Küche oder ein Mobiltelefon verkaufen wollten. Sie ließ sie immer ausreden, weil sie Mitleid mit ihnen hatte und weil es manchmal schön war, eine andere Stimme zu hören, und sie konnte immer gar nicht verstehen, dass sie dann am Ende so abrupt und unhöflich auflegten, wenn sie erklärte, es sei nett gewesen, mit ihnen zu plaudern, aber sie brauche nichts, vielen Dank.

Misstrauisch nahm sie den Hörer ab. »Hallo … Wer? Ach, hallo, meine Liebe. Ja, natürlich erinnere ich mich an Sie. Wie nett, von Ihnen zu hören. Ach so? Tatsächlich? Und ja, das wäre nett. Nein, ich kann problemlos den Bus nehmen, vielen Dank. Es fährt einer in wenigen Minuten, und wir haben eine Haltestelle an der nächsten Straßenecke. Wie bitte? Ach so … ja, gerne bespreche ich alles persönlich mit Ihnen, meine Liebe. Ja, natürlich. So bald wie möglich? Natürlich, meine Liebe. Sehr schön, vielen Dank.«

Cherish legte den Hörer auf und klatschte in die Hände. Es war, als ginge ein Traum in Erfüllung. Frankie wollte sie sprechen. Frankie musste es sich mit der Farbberatung in Francesca’s Fabulous Frocks wohl anders überlegt haben. Wie wunderbar!

Nachdem sie dem netten jungen Mann im Radio erklärt hatte, warum sie so plötzlich fortging und wohin, und sich bei ihm dafür entschuldigt hatte, dass sie ihn mitten in der Sendung abdrehte, nahm Cherish ihren besten Mantel samt Schal, griff sich ihre Handtasche, sah nach, ob sie genügend Kleingeld für die Busfahrkarte hatte, und verließ nahezu fröhlich hüpfend das Haus.

Frankie, die nicht recht wusste, ob sie allein durch diesen Anruf eben nicht vielleicht eine von vielen möglichen unternehmerischen Fehlentscheidungen getroffen hatte, brauchte nicht lange zu warten. Cherish, wieder in einem unvorteilhaften mausbraunen Mantel mit passendem Kopftuch, traf mit von der Kälte geröteter Nase und tränenden Augen eine halbe Stunde später ein. Zum Glück allein. Frankie wusste, dass sie Biddy im Schlepptau nicht verkraftet hätte.

»Hallo, meine Liebe. Oh, Entschuldigung, ich muss mich erst einmal schnäuzen – es ist eiskalt da draußen.« Cherish schniefte. »Ach, wie ich sehe, gehen Sie noch immer in Primärfarben. Ich hatte gehofft, Sie hätten sich inzwischen auf ein hübsches Anthrazit verlegt.«

»Anthrazit ist offen gestanden nicht meine Farbe. Und auch nicht Zinngrau oder Bleigrau oder sonst einer der Grautöne, von denen Sie gesprochen haben. Die gefallen mir einfach nicht. Tut mir leid.«

»Schade, ein hübscher Grauton würde Ihr Leben wesentlich verändern. Sie werden nicht erfahren, was dadurch ausgelöst werden könnte«, meinte Cherish und sah auf einmal ganz begeistert aus. »Ich nehme mal an, meine Liebe, dass Sie mich angerufen haben, weil Sie es sich anders überlegt haben? Dass Sie meine Talente Ihren Kundinnen zugutekommen lassen möchten, auch wenn Sie selbst meinem Rat nicht folgen? In diesem Fall stehe ich zur Verfügung, meine Liebe. Bei Dorothy Perkins in Winterbrook hat man uns brüsk die Tür gewiesen. Allerdings«, nun sah sie wieder bekümmert aus, »war es auch wirklich nicht von Vorteil, dass Biddy den Leuten erzählen musste, das Geschäft sei ganz und gar nicht mehr so, wie sie es in ihrer Jugend gekannt hatte, als man dort ein hübsches Kostüm oder Twinset für einen Apfel und ein Ei bekam. Dann hat sie noch einige unfreundliche Worte über neumodische Boutiquen geäußert. Das kam nicht besonders gut an. Das hat denen gar nicht gefallen.«

»Nein«, sagte Frankie diplomatisch, »das kann ich mir vorstellen. Und offen gestanden, nein, um Ihre Dienste als Farbberaterin wollte ich Sie nicht bitten. Es geht um etwas vollkommen anderes …«

Für ein Bewerbungsgespräch war es reichlich merkwürdig gewesen, fand Frankie im Nachhinein. Sie hatte Fragen stellen und Erklärungen abgeben müssen, wie etwa zur Funktionsweise der Kasse und der Kreditkartenmaschine, während sie nebenbei Kundinnen bediente, und Cherish hatte gar nichts gesagt, sondern nur genickt und sich die Nase geputzt.

Endlich hatte Cherish den Mund aufgemacht. »Das klingt alles ganz hervorragend, meine Liebe. Vielen Dank. Ich war früher schon als Verkäuferin tätig. Ich habe auch Referenzen. Nur zu gerne würde ich hier aushelfen. Ich bin fünfundfünfzig, wissen Sie, und habe einige Zeit lang nicht gearbeitet, abgesehen von der Farbberatung – und die läuft manchmal ein bisschen schleppend, meine Liebe. Nun, um ehrlich zu sein, ist sie mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Und von zu Hause aus zu arbeiten kann sehr einsam sein. Sagen Sie mir, welche Arbeitszeiten Sie sich vorstellen, und ich werde hier sein. Vielleicht könnte ich die Kundinnen ja auch zu ihren Seelen-Farben beraten und …«

»Nein«, sagte Frankie bestimmt. »Überhaupt keine Farbberatung. Die können Sie von zu Hause aus weiter betreiben, aber nicht in meinem Geschäft.«

»Vielleicht könnte ich einfach eine meiner Visitenkarten mit in die Tragetaschen stecken?«

Mit schlechtem Gewissen dachte Frankie an den Kartenhaufen im Papierkorb und schüttelte den Kopf. »Nein, bedaure. Interessenkonflikt, verstehen Sie?«

»Ja«, sagte Cherish, die in Wirklichkeit allerdings überhaupt nichts verstand. »Ganz, wie Sie wünschen, meine Liebe. Sie sind der Boss.«

Ja, dachte Frankie mit einem kurzfristigen Aufwallen von Stolz. Das bin ich. Und es ist herrlich.

Sie blickte Cherish hoffnungsfroh an. »Also, wenn Sie einverstanden sind, werde ich all die Formulare und den Papierkram für Einstellung und Gehaltsabrechnung mit Ritas Buchhalter und Anwalt klären, wir verständigen uns auf passende Arbeitszeiten und …«

»Ich arbeite gerne, wann immer Sie mich brauchen.« Cherish sah zu den Kundinnen hinüber, die an den Kleiderständern entlanggingen. »So wie es aussieht, dürfte es hier die ganze Zeit über recht lebhaft zugehen. Es freut mich sehr für Sie, dass das Geschäft so gut läuft, aber lassen Sie nicht Biddy wissen, dass ich das gesagt habe.«

Frankie hatte nicht vor, Biddy überhaupt irgendetwas wissen zu lassen. Eine so boshafte Person wie Biddy wäre imstande, Cherishs beginnende Mitarbeit zu durchkreuzen, bevor sie mit der Arbeit überhaupt angefangen hätte.

»Ich dachte, Biddy und Sie wären Freundinnen?«

»Sind wir, aber sie sieht von allem immer nur die Schattenseite. Sie ist sehr kompliziert, wissen Sie? Dabei habe ich ihr gesagt, sie sei ein echter Frühlingstyp, was eigentlich heißt, dass sie eine optimistische und positive Lebenseinstellung haben sollte.«

»Hm, sie hat mir erzählt, dass Sie ihr empfohlen haben, Frühlingsfarben zu tragen.«

»Ganz genau«, Cherish putzte sich erneut die Nase, »aber bis jetzt haben sie offenbar nicht die Wirkung gehabt, die ich mir erhofft hatte. Sie scheinen ihre innere Finsternis nicht im Mindesten aufzuhellen.«

Frankie fand es eindeutig besser, Cherishs wohlmeinende, aber eindeutig abwegige Farbempfehlungen nicht weiter zu kommentieren. Sie lächelte. »Also, wie wäre es, wenn Sie von jetzt an und den Dezember über von zehn bis zwei arbeiten, damit wir mal sehen, wie es so läuft? Wenn das Geschäft im neuen Jahr abflaut, können wir über eine entsprechende Änderung der Arbeitszeiten reden.«

»Das klingt sehr gut, meine Liebe. Vielen Dank.«

»Gut, prima. Ich freue mich sehr, dass Sie einverstanden sind. Ich hoffe, wir werden gut zusammenarbeiten.«

»Da bin ich mir sicher, meine Liebe. Sie sind ein nettes Mädchen und haben alles gut erklärt. Also, wo soll ich meinen Mantel aufhängen?«

»In der Küche – dort entlang –, aber soll das heißen, jetzt gleich? Meinen Sie, Sie wollen sofort anfangen? Ich habe noch gar nichts geregelt … vertragsmäßig, meine ich. Das ist alles neu für mich – ich muss mich erst beraten lassen.«

»Aber natürlich, meine Liebe.« Cherish begann ihren unvorteilhaften Mantel aufzuknöpfen, unter dem ein nicht minder unvorteilhaftes Kleid zum Vorschein kam. »Betrachten wir es doch einfach als eine Art Probezeit? Ich möchte gern ein Gefühl für dieses Geschäft bekommen.«

Frankie, die während des Bewerbungsgespräches noch immer nicht hundertprozentig überzeugt gewesen war, ob es wirklich so eine gute Idee sei, Cherish eine Stelle als Mitarbeiterin in der Boutique anzubieten, ergriff die Rettungsleine mit dankbaren Händen. »Das wäre wirklich wunderbar. Ich hatte noch gar keine Pause bis jetzt, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, eine halbe Stunde lang die Stellung zu halten, gehe ich mal eben hinüber ins Greasy Spoon und hol mir ein Sandwich. Kann ich Ihnen etwas mitbringen?«

»Nein, vielen Dank, meine Liebe.« Cherish war mit ihrem Mantel bereits auf dem Weg in Richtung Küche. »Ich hatte heute Morgen eine Schüssel Müsli und später noch einen Haferkeks. Das genügt mir völlig bis zu meinem Hühnchen in Sahnesoße später bei den Abendnachrichten.«

Frankie, die sich verwirrt fragte, ob Cherishs Farbberatung sich auch auf ihren Speiseplan erstreckte und sie daher nur Beigefarbenes aß, griff sich lächelnd ihren farbenfrohen Mantel und die Schals. »Okay … sehr schön. Ich bin gleich nebenan, falls Sie mich brauchen sollten.«

»Ich werde problemlos zurechtkommen, meine Liebe.« Auf Cherishs Gesicht breitete sich ein unerwartet warmherziges Lächeln aus. »Wie gesagt, ich habe viele Jahre in Miriams Modegeschäft in Winterbrook gearbeitet. Ich fühle mich in einem richtigen Bekleidungsgeschäft wie zu Hause. Gehen Sie nur, und essen Sie zu Mittag, meine Liebe. Ihr kleiner Laden ist in sicheren Händen.«