3. Kapitel

Drei Wochen später, gegen Ende November, war alles anders, bis auf das Wetter. Aus bleiernem Himmel ergoss sich unverändert eiskalter Regen, und über den Marktplatz von Kingston Dapple toste unaufhörlich eiskalter Wind.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …« Frankie betrachtete die schummrig beleuchtete, kalt-graue Inneneinrichtung des Ladens. »Ich bin mit dem Ganzen hier vollkommen überfordert. Ich hab nicht die leiseste Ahnung, was ich als Erstes tun soll.«

»Ich setz mal Wasser auf«, meinte Lilly unbekümmert, Frankies Mitbewohnerin, die an ihrem freien Tag für die Neuorganisation eingespannt worden war. »Wenn wir uns mit Koffein vollgepumpt haben, sieht alles gleich deutlich besser aus.«

»Meinst du?« Frankie, in dicker gelber Jacke, grünem Wollkleid, dicker Strumpfhose, hohen Stiefeln und mehreren Schals, ließ bibbernd die Ladenschlüssel um die Finger kreisen. »Deinen Optimismus möchte ich haben. Wir hatten nur eine Woche lang geschlossen, aber es sieht überhaupt nicht mehr aus wie Ritas Laden. Es wirkt einfach nur kalt und vollgestopft, und es riecht … tja, alt und ungeliebt.«

»Genau wie du«, sagte Lilly kichernd und stolzierte mit wackelndem Hintern in hautengen Jeans auf ihren gefährlich hohen Absätzen in Richtung Küche.

»Na danke.« Frankie quetschte sich zwischen den überfüllten Kleiderständern hindurch und lehnte sich lustlos gegen die hölzerne Theke. »Vielen Dank auch.«

Und genau darin bestand das Problem, dachte Frankie. Es war nicht mehr Ritas Laden. Der belebte, von Lachen erfüllte Ort, an dem zu arbeiten dank Rita in den letzten drei Jahren ein solches Vergnügen gewesen war, war mit seiner Besitzerin dahin.

Rita war fort. Frankie hatte per E-Mail herrliche Farbfotos von der Strand-Hochzeit auf Mykonos bekommen – Rita ganz bezaubernd in leuchtend buntem Sarong und Ray in farblich passendem Hawaiihemd mit Bermudashorts, beide strahlend vor Glück – samt der hübschen Taverne.

Der Laden gehörte ihr. Ihr allein.

Draußen hatten die Schildermaler in riesigen verschnörkelten Goldbuchstaben auf dunkelviolettem Untergrund Francesca’s Fabulous Frocks gemalt. Sie hatte die letzten Wochen mit allerhand Besprechungen bei Ritas Anwälten, Buchhaltern und Unternehmensberatern verbracht und unzählige Papiere unterzeichnet. Der Laden gehörte wirklich und wahrhaftig ihr.

Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was als Nächstes zu tun war.

Ohne Rita war sie orientierungslos. Ohne Ritas fröhliche Freundschaft fühlte sie sich sowohl einsam als auch verlassen.

»Hier, bitte schön.« Lilly drückte Frankie einen dampfenden Becher in die Hand. »Das wird dich aufwärmen. Es ist verdammt kalt hier drin. Hast du denn gar keine Heizung?«

»Danke, doch, es gibt eine Zentralheizung, die über einen Brenner in der Küche gesteuert wird. Wir haben sie ausgeschaltet, als Rita abgereist ist. Ich werde sie wieder anwerfen müssen, vor allem wenn ich nächsten Samstag eröffnen möchte.«

»Hmm.« In einen leuchtend orangefarbenen Wickelpullover gehüllt lehnte sich Lilly neben ihr an die Theke. »Im Moment sieht es ganz schön deprimierend aus … und mir ist da gerade etwas eingefallen.«

Frankie seufzte. »Ach ja, wirklich? Ist es Klatsch über einen Promi, von dem ich noch nie gehört habe, der eine Affäre mit jemandem hat, von dem ich auch noch nie gehört habe? Oder irgendwer bei Twitter? Oder …«

Lilly, der die stacheligen blonden Haare in die dick mit Kajal geschminkten Augen fielen, machte ein beleidigtes Gesicht. »Manchmal denke ich auch an anderes, weißt du?«

Frankie lachte. »Ich weiß. Manchmal denkst du auch an Männer und Klamotten und Männer und Make-up und Schuhe und Männer und noch mehr Schuhe.«

»Tja, wenn du meine Idee nicht hören möchtest …«

»Entschuldige, ja, natürlich möchte ich.«

»Es geht um Warenkennzeichnung.«

Frankie starrte Lilly überrascht an. Was in aller Welt konnte Lilly, deren gesamtes Leben außerhalb ihres Jobs an der Rezeption von Beauty’s Blessings in Hazy Hassocks sich um Männer und Klamotten und Schuhe und Hochglanzmagazine und Nachtclubs und Reality-TV-Shows drehte, über das Warenkennzeichnungsgesetz wissen?

»Und weiter?«

»Nun«, Lilly klimperte mit den zentimeterlangen blauen Wimpern, »auf dem Schild draußen steht: Francesca’s Fabulous Frocks

»Ja, und?«

Lilly sah sich in dem vollgestopften Durcheinander von Kleiderständern um. »Nun, das ist es nicht, oder? Eine Boutique für schicke Kleider, meine ich. Ich sehe nur, tja, allerhand alten Ramsch. Wenn auf dem Schild schicke Kleider angekündigt werden, sollte es auch nichts anderes als schicke Kleider geben.«

Frankie verschüttete vor Aufregung ihren Kaffee und umarmte sie. »Lilly! Du bist ein Genie!«

»Ich weiß«, sagte Lilly seufzend. »Wirklich ein Jammer, dass das sonst nie einer merkt. Äh, wieso?«

»Weil ich genau das daraus mache! Was auf dem Etikett steht.«

»Welches Etikett?«

»Ach, nur so eine Redewendung. Nein, ehrlich, du bist spitze. Genau das soll es werden. Eine Boutique nur für schicke Kleider. Eine schöne, ausgefallene, nostalgische Kleiderboutique.«

Schweigend saß Frankie einen Augenblick lang da und stellte es sich einfach nur bildlich vor. Eine herrliche Boutique … ihre herrliche Boutique … ganz wie es auf dem Schild stand …

Sie strahlte. »Wir picken alle schicken Kleider heraus, entrümpeln den ganzen Rest und fragen erst mal, ob Biff und Hedley Pippin die Sachen für ihren Wohlfahrtsladen haben wollen, bevor wir sie anderweitig entsorgen, dann beschäftigen wir uns damit, die Kleider zu sortieren und …«

»Du könntest sie vielleicht nach Farben ordnen«, sagte Lilly. »Oder so ähnlich, was meinst du?«

»Ja, das könnte ich machen.« Rasch trank Frankie ihren Kaffee aus und knallte den Becher samt den Schlüsseln auf die Theke. »Ich könnte hieraus tatsächlich eine richtige Nostalgie-Boutique machen. Wir könnten die Kleider nach Epochen ordnen – wir haben hier irgendwo Sachen, die bis in die Fünfzigerjahre zurückgehen und vielleicht sogar noch weiter – dann nach Größen, dann nach Farben oder so in der Art. Ach, Lilly, du bist erstaunlich clever.«

»Danke.« Lilly strahlte. »Ich weiß.«

Eine Stunde später, bei herrlich brummender Heizung, hatten Frankie und Lilly die Hälfte der Ständer abgeräumt, sodass sie neben den hoch aufragenden Bergen aus Altkleidern geradezu klein wirkten, und sahen einander an.

»Wir brauchen einen Container oder einen Lastwagen oder so was.« Frankie schob sich die seidigen schwarzen Haare hinter die Ohren. »Und jede Menge weitere Helfer. Das alles können wir nie im Leben allein wegschaffen.«

»Ja, brauchen wir, und nein, können wir nicht, aber sieh es mal positiv, irgendwo versteckt zwischen alledem besitzt du Unmengen herrlicher Kleider, nicht wahr?«

Frankie nickte begeistert. Zwischen dem ganzen Trödel hatten sie einige echte Schmuckstücke entdeckt.

»Und der Ladenraum selbst«, sagte Lilly, »ist eigentlich gar nicht so vergammelt. Ich hätte gedacht, die Wände wären dreckig und schmuddelig – aber sie sind ganz in Ordnung. Cremeweiß bildet einen hübschen Hintergrund.«

»Rita hat den Raum letztes Jahr streichen lassen. Unter großen Schwierigkeiten.« Frankie lachte leise, als sie sich daran erinnerte. »Der arme alte Brian vom Kebabwagen ist an den Sonntagen hergekommen und hat die Waren von einer Seite zur anderen geräumt, bis alles fertig war. Das wäre also wenigstens ein Punkt, um den ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Allerdings brauche ich irgendeine andere Art von Dekoration, wenn wir jetzt nur noch schicke Kleider führen, nicht wahr? Poster und Bilder und vielleicht Gegenstände, die für das jeweilige Jahrzehnt typisch sind.«

»Hmm. Klingt toll. Aber«, Lilly hievte sich auf den Tresen, um das Chaos zu überblicken, »was ich nicht verstehe, ist – tja, eigentlich vieles.«

Frankie lächelte. »Wie etwa die Bedeutung des Universums? Tja, da blick ich auch nicht so ganz durch.«

»Zum Beispiel«, fuhr Lilly fort, »wie hat Rita es eigentlich angestellt, dass dieser Laden läuft? Wie hat sie hier jemals irgendwelches Geld verdient?«

»Rita war ziemlich gewitzt und hat diesen Laden ihr ganzes Berufsleben lang betrieben, und zwar erfolgreich. Nun, sie muss erfolgreich gewesen sein – denn sie hat im Lauf der Jahre genügend Geld verdient und gespart, um dieses Geschäft – und ihren Bungalow – zurückzulassen und nach Mykonos zu verduften und eine Taverne zu kaufen.«

»Ja, sieht ganz so aus«, sagte Lilly zweifelnd. »Aber sie muss sehr klug mit ihrem Geld umgegangen sein.«

»Sie hat gesagt, sie hätte Ersparnisse und Kapitalanlagen.«

»Echt? Wie raffiniert. Ich wünschte, das hätte ich auch. Mein Lohn ist immer schon ausgegeben, bevor ich ihn überhaupt verdient habe. Aber, ich meine, wenn sie nie irgendwas verkauft, sondern immer nur verliehen hat, dann aber wieder neue Sachen angenommen hat, muss doch irgendwann der Zeitpunkt gekommen sein – wie jetzt –, an dem für irgendetwas Neues einfach kein Platz mehr war?«

»Ziemlich oft sogar«, bestätigte Frankie und zog sich ebenfalls auf die Theke hoch. »Wir haben von Zeit zu Zeit ausgemistet. Sachen, die nie genommen wurden. Die haben wir immer an Wohlfahrtsläden gespendet, aber Rita hat nie irgendetwas Tragbares abgelehnt.«

»Ganz offensichtlich. Und nachdem sie es einmal irgendwem abgekauft hatte, habt ihr das Kleidungsstück einfach wieder und wieder ausgeliehen?«

Frankie nickte.

»Aber«, Lilly runzelte die Stirn, »danach musstet ihr es jedes Mal reinigen lassen – was Geld kostet –, bevor ihr es erneut verleihen konntet – warum hat sie die Sachen denn nicht einfach verkauft?«

»Weil Rita sich nicht gerne von etwas getrennt hat. Und sie fand, Vermieten, Ausleihen, wie auch immer, wäre ein guter Service für Leute, die es sich nicht leisten konnten oder wollten, etwas zu kaufen.«

»Klar.« Lilly blätterte durch den Stapel doppelt geführter Geschäftsbücher auf dem Kassentisch. »Und ihr habt alle Transaktionen hier drin dokumentiert, ja?«

»Ja. Rita hatte kein Vertrauen in Computer. Nicht, was das Geschäft betraf. Sogar die Kasse wird von Hand bedient. Ist alles ganz wie in den Fünfzigerjahren.« Frankie schüttelte den Kopf. »Was durchaus nett und gemütlich ist und so weiter, und ausreichend für das, was Rita gemacht hat, aber nicht für mich und das einundzwanzigste Jahrhundert. Ich habe vor, das alles zu ändern.«

Lilly nickte. »Hmm. Jennifer Blessing würde Zustände kriegen. Jennifer ist ein Ass in geschäftlichen Dingen, das ist sie. Sie hat mich zu all diesen Computerkursen geschickt, als sie ihr System im Salon auf den neuesten Stand gebracht hat und …«

Frankie hörte nicht hin. Jennifer Blessings Hightech-Schönheitssalon war von Rita’s Rent-a-Frock Lichtjahre entfernt. Außer natürlich, dass es jetzt nicht länger Ritas Geschäft war. Und sie hatte bereits beschlossen, von der Ansparabschreibung, die sich nach Auskunft des Buchhalters für genau diese Art von Anschaffungen auf dem Geschäftskonto befand, einen Computer zu kaufen. Und sie hatte einen ganzen Berg lila-goldene Tragetaschen mit der Aufschrift Francesca’s Fabulous Frocks bestellt. Sie kam voran – in kleinen Schritten.

Auf einmal sah sie die noch immer plappernde Lilly mit gerunzelter Stirn an. »Entschuldige, aber was hast du gerade gesagt?«

»Über die Kurse, zu denen Jennifer Blessing mich geschickt hat?« Lilly zog die Augenbrauen hoch. »Ach, bloß, dass da nicht viele Männer waren, aber ich habe dort diesen echt süßen Jungen kennengelernt, Daniel, der mit den Piercings und …«

»Nein, was du davor gesagt hast.«

»Weiß ich nicht mehr.« Lilly machte ein ratloses Gesicht. »So weit kann ich mich nicht zurückerinnern.«

»Verkaufen. Du hast irgendwas über Verkaufen gesagt.«

»Ach ja.« Lilly strahlte beglückt. »Hab ich.«

»Genau!« Erfreut klatschte Frankie in die Hände. »Denn genau das werde ich machen. Verkaufen, nicht verleihen. Es ist nicht mehr Ritas Laden, und daher werden hier keine abgelegten Sachen von anderen Leuten mehr gekauft. Ich nehme nur noch kostenlose Kleiderspenden an. Und es wird nichts mehr vermietet oder verliehen, nur noch verkauft. Für die Ware etwas zu bezahlen ist nicht gut fürs Geschäft, Kleider zu verkaufen ist sehr gut fürs Geschäft. Ganz einfach!«

Lilly sah sie mit leicht verwirrter Miene fragend an. »Nun ja. Du solltest Geld einnehmen, nicht ausgeben. Jennifer sagt …«

»Neben Jennifer Blessing wirkt sogar ein millionenschwerer Lord Sugar wie ein bemühter Amateur«, meinte Frankie lachend. »Aber natürlich hat sie Recht. Und ich auch. Wenn ich dieses Geschäft als Francesca’s Fabulous Frocks neu eröffne, werde ich es genau so machen. Ich nehme abgelegte Kleider an und verkaufe sie. Was bedeutet«, sie hob die doppelt geführten Bücher hoch, »dass die hier auf kürzestem Weg ins Archiv wandern. Sobald ich im Lauf dieser Woche den Computer bekomme, werde ich ein Warenwirtschaftssystem einrichten und es auch für Preisetiketten und alles andere verwenden.«

Diese Umstellung könnte durchaus einige von Ritas Stammkunden befremden – Leute wie die Beerdigungsbesucherin Biddy –, das müsste sie irgendwie in den Griff kriegen, um keine Kundschaft zu verlieren, aber ansonsten erschien ihr das alles durchaus sinnvoll.

Lilly glitt vom Tresen. »Ich kann dir dabei helfen, den Computer einzurichten, wenn du möchtest. Das mache ich bei Jennifer auch.«

»Könntest du das? Damit kennst du dich aus?« Frankie beobachtete, wie Lilly zwischen den Kleiderhaufen aufreizend zu den verdunkelten Fenstern hinübertänzelte. »Ehrlich, Lilly, du steckst voller Überraschungen.«

»Weil ich ein Strohkopf bin?« Lilly warf einen Blick über die Schulter. »Tja, nun, Jennifer ist wirklich zum Fürchten, das kann ich dir sagen. Ich musste dieses Dateneingabezeug wieder und wieder üben, bis ich es richtig hingekriegt habe.«

»Ja, entschuldige. Ich wollte nicht sagen …«

»Doch, wolltest du«, erwiderte Lilly vergnügt. »Macht mir nichts aus. Ich weiß, dass ich nicht so doof bin, wie alle denken. Tja, nicht wirklich.«

Frankie lachte, dann runzelte sie die Stirn. »Und die sind auch fürchterlich.«

»Was denn?«

»Diese hübschen großen Doppelfenster. So viel Platz, vollgestopft mit Ramsch. Rita hatte nie einen sonderlich guten Blick für Schaufensterdekoration. Sie hat einfach Sachen darin gestapelt. Sie hat gesagt, jeder wüsste, was es im Laden gibt, daher sei es nicht nötig, viel Aufhebens um die Fenster zu machen. Ich räume den Krempel weg und gestalte eine richtige Schaufensterdekoration, die regelmäßig ausgewechselt wird.«

»Na klar. In deiner üppigen Freizeit zwischen Ramsch-Aussortieren, Einrichtung und Eröffnung des Ladens.« Lilly zog eine Grimasse, dann spähte sie aus der Tür auf den regenüberströmten Marktplatz hinaus.

»Ja, aber«, Frankie seufzte, »sonst verspiele ich hier viele Chancen. Es ist bald Weihnachten – ich brauche ein Weihnachtsschaufenster.«

»Ja.« Lilly nickte. »Bei Beauty’s Blessings hat Jennifer schon seit Oktober ein weihnachtlich dekoriertes Schaufenster. Du musst dich also ranhalten. Dir bleibt nur noch ein Monat.«

»Ich weiß.« Frankie nickte. »Erinnere mich bloß nicht. Weihnachten ist eindeutig eine der besten Zeiten fürs Geschäft. Alle wollen etwas kaufen, und das ist es, was ich ihnen bieten muss. Ware zum Kaufen. Ich muss alle Festtagskleider heraussuchen und sie ins Fenster hängen, jede Menge Glanz- und Glitzerzeug drumherum drapieren, Stechpalmenzweige und Christbaumkugeln auftreiben und …«

»Oh mein Gott!«, kreischte Lilly. »Das gibt’s doch nicht!«

»Was?« Erschrocken sah Frankie Lilly an. »Was ist denn los?«

»Da draußen!«, rief Lilly mit weit aufgerissenen Augen. »Komm her und schau doch! Da draußen! Schnell!«

Frankie runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auf dem Marktplatz von Kingston Dapple irgendetwas auch nur im Entferntesten Aufregendes passierte. Hatte es noch nie gegeben, gab es nicht.

Der mit Kopfsteinpflaster ausgelegte Marktplatz von Kingston Dapple war im Grunde dreiseitig, die vierte Seite öffnete sich zu der verschlafenen Highstreet hin. Dort bewegte sich der Verkehr hin und her, ebenso die einkaufenden Dorfbewohner, und alle Waren für die Vorkriegsgeschäfte an der Rückseite des Marktplatzes wurden über eine enge, hufeisenförmige Zufahrtsstraße angeliefert, die von der Highstreet abzweigte. Die Gebäude stammten aus viktorianischer Zeit, hoch und dicht aneinandergedrängt, die Straßen Hunderte von Jahren alt und so gut wie einspurig. Das einundzwanzigste Jahrhundert hatte sich hier nur sehr geringfügig bemerkbar gemacht. In der Tat, überlegte Frankie, hatte sich in Kingston Dapple seit über hundert Jahren kaum etwas verändert.

Abgesehen von Ritas, nein, ihrem Geschäft, gab es da noch das Café Greasy Spoon, einen kleinen Schreibwaren-und-Zeitschriftenladen, ein Schuhgeschäft, das Gesundheitssandalen und bequeme Hausschuhe führte, einen Spielzeugladen, eine Art Geschenke-Boutique, die Postkarten und ziemlich scheußlichen Nippes anbot, einen Gemüsehändler und einen Metzger.

Und, natürlich, den Pub Toad in the Hole.

Im Toad war vor Jahrhunderten einmal das Kingston Arms Hotel gewesen, Postkutschenstation und Herberge, bis es in den Siebzigerjahren sehr heruntergekommen war. Es hatte einige Zeit lang vor sich hin gegammelt, bis es von einer aufstrebenden Brauereikette aufgekauft worden war. Da das Gebäude unter Denkmalschutz stand, blieb seine alte Außenfassade architektonisch unverändert, im Inneren jedoch befremdete es nun die meisten der dörflichen Wirtshausbesucher, die sich ein Bier und eine Tüte Chips wünschten, da es eine höchst minimalistische Gastro-Bar mit Glas, Chrom und Halogenleuchten beherbergte, die hier überhaupt nicht herpasste. Der Toad in the Hole war momentan das Einzige, was Kingston Dapple an Nachtleben zu bieten hatte.

Es sei denn, dachte Frankie flüchtig, man zählte die verschiedenen Wochenendveranstaltungen im Gemeindesaal dazu. Was kaum ein vernünftiger Mensch tat.

Und so gab es auf dem Marktplatz selbst nur den Ort, wo Brian jeden Abend von zehn bis Mitternacht nach der Tour durch die Dörfer seinen Kebabwagen parkte, je nachdem wie das Wetter war und wie viele hungrige Nachtschwärmer aus dem Toad in the Hole getorkelt kamen, sowie Ray Valentines inzwischen geschlossenen Blumenstand.

Da draußen war nach Frankies Ansicht nicht das Geringste zu erwarten, schon gar nicht an einem nassen und windigen, eiskalten Novembertag, was Lillys Reaktion rechtfertigen könnte. Andererseits jedoch, dachte sie, während sie auf dem Weg zur Tür mehrere Haufen von Secondhand-Kleidern umschiffte, war Lilly ja grundsätzlich ein bisschen überkandidelt.

»Frankie!«, drängte Lilly erneut. »Schnell!«

»Was denn?« Frankie spähte über Lillys Schulter. »Was soll ich mir denn anschauen? Wo?«

»Da!« Mit weit aufgerissenen Augen zeigte Lilly mit einem mitternachtsblau glitzernden langen Fingernagel quer über den Platz.

Frankie spähte noch etwas länger. Einige wenige tapfere Seelen versuchten, sich mit gesenkten Köpfen durch das Regenwetter zu den Geschäften durchzukämpfen, doch ansonsten konnte sie nichts weiter entdecken.

»Schau doch!« Lilly packte sie am Arm. »Der da! Der gerade Rays Blumenkiosk aufmacht … Wow! Dieser Körperbau! Dieses Gesicht! Ist er nicht einfach das Hinreißendste, was man je gesehen hat? Ist der nicht unglaublich schnuckelig? Ich steh total auf diesen Stufenschnitt und diese Wangenknochen, und ich wette, er hat einen Anflug von Dreitagebart. So was von sexy! Er ist … er ist …« Sie legte die Stirn in Falten, dann strahlte sie. »Oh, er ist echt ein Mann à la Beckham!«