23. Kapitel
Vierundzwanzigster Dezember. Es war atemberaubend kalt und dämmerig dunkel, aber nichtsdestoweniger endlich der Tag des Heiligen Abends. Gott sei Dank.
So gern sie ihre Boutique auch betrieb, konnte Frankie es doch kaum erwarten, nach Hause zu fahren und sich zu entspannen, ihre Familie wiederzusehen und all die traditionellen weihnachtlichen Dinge zu tun, sich von ihren Eltern verwöhnen zu lassen und mit ihren Brüdern und Schwestern zu plaudern.
Auch wenn sie, gestand sie sich ein, als sie das Geschäft öffnete, Dexter vermissen würde. Sehr sogar. Und das war dumm. Wirklich zu dumm. Denn schließlich ging es ja nur um drei Tage. Aber sie hatte sich doch sehr daran gewöhnt, ihn täglich zu sehen. Und nach jenem zauberhaften Abend im Hideaway Home kam es ihr vor, als stünden sie sich irgendwie sehr viel näher.
Und es war wunderbar gewesen, jemandem alles über die Sache mit Joseph zu erzählen. Es stimmte schon, dachte Frankie, während sie die restliche Post von der Fußmatte auflas, über seine Probleme zu reden half tatsächlich, sie in einen anderen Blickwinkel zu rücken. Außerdem war Dexter ein wunderbarer Zuhörer gewesen.
Alles in allem, dachte sie bibbernd, als sie durch den Verkaufsraum ging und rasch die Lichter wie auch die Weihnachts-Popmusik in der Stereoanlage anschaltete, war der Ausgehabend ein großer Erfolg gewesen. Was die Situation in persönlicher Hinsicht gewissermaßen schwieriger machte. Denn nun konnte sie sich selbst gegenüber wirklich nicht mehr leugnen, dass sie Dexter sehr gernhatte. Ihn außerordentlich gernhatte. Na schön, um die Wahrheit zu sagen, sich bis über beide Ohren in ihn verliebt hatte.
Nachdem sie ihm im Hideaway Home ihre Geschichte gebeichtet hatte, waren sie zu allgemeineren Themen übergegangen – ärgerlicherweise hatte keines davon Dexters Vergangenheit berührt oder die falsche Frau, in die er sich verliebt hatte –, sie hatten gelacht und geplaudert und auf unbefangene, freundschaftliche Art miteinander gescherzt. Abschließend hatten sie Kaffee getrunken und sie selbst noch einen Brandy, und danach war sie mehr oder weniger zum Wagen hinaus und den ganzen Weg nach Hause wie auf Wolken geschwebt.
Und als sie vor ihrem Haus in der Featherbed Lane angekommen waren, hatte sie der Versuchung widerstanden zu fragen: »Kommst du noch rein?« Erstens, weil sie wusste, dass er unglaublich früh aufstehen musste, um zum Blumengroßmarkt zu fahren, und zweitens, noch wichtiger, weil er vielleicht Nein gesagt und damit alles verdorben hätte. Sie hatte ihm einfach für den wunderschönen Abend gedankt, und er hatte sie auf die Wange geküsst und ihre Hand gedrückt und war fortgefahren.
Und sie war weiterhin wie auf Wolken geschwebt, bis sie zwischen ihren unzähligen rosa und lila Rüschen eingeschlummert war.
Und jetzt würden sie sich drei Tage lang nicht sehen, und Dexter würde garantiert jemanden finden, mit dem er Weihnachten verbrachte, denn schließlich war er einfach nicht der Typ, der allein zu Hause saß. Er habe Pläne für Weihnachten, hatte er gesagt. Es sähe ihm ähnlich, wenn er schon einige Damen in die engere Auswahl genommen hätte. Sie wusste nicht einmal, ob er in Kingston Dapple blieb. Er hatte gesagt, er führe nicht fort, aber vielleicht überlegte er es sich ja auch noch anders. Vielleicht würde er, so wie Lilly gestern, in wärmere Gefilde fliegen, wo er dann eine leidenschaftliche Urlaubsromanze mit irgendeiner sonnengebräunten, Sarong tragenden, attraktiven ungebundenen Frau hätte.
Vielleicht würde er auch wirklich daheim bleiben, in der höchstwahrscheinlich gar nicht so trostlosen Einzimmerwohnung, und seine zahlreichen hiesigen Eroberungen würden sich bei Weihnachtsbesuchen die Klinke in die Hand geben.
Mit einem tiefen Seufzer hängte Frankie Mantel und Schals auf.
»Warum machst du so ein langes Gesicht, Spätzchen?« Ernie lehnte an der Theke. »Es ist Weihnachten.«
»Ich weiß.« Frankie schaltete die Kasse und den Computer ein und versuchte, nicht hinzuhören, was Mud übers Einsamsein an Weihnachten sang. »Und verglichen mit deinem Fest sollte ich mich wirklich glücklich schätzen. Entschuldige.«
»Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen, Spätzchen. Was bedrückt dich denn? Hast du noch nicht alle Weihnachtsgeschenke eingekauft?«
»Oh, die sind alle besorgt. Und eingepackt und abfahrbereit in mein Auto geladen. Nein, ich habe gerade an Dexter gedacht.«
»Und Dexter macht dich traurig, Spätzchen?«
»Nein, tut er nicht. Das ist ja das Problem. Er macht mich glücklich. Sehr glücklich sogar.«
»Und du machst ihn auch glücklich, Spätzchen. Ich habe euch beobachtet, vergiss das nicht.«
Frankie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, aber es ist kompliziert. Wir haben beide so viel Unbewältigtes in unserer Vergangenheit – und ich habe nicht die leiseste Ahnung, was es bei ihm ist, aber was auch immer es sein mag, es war ziemlich schlimm, das merke ich einfach. Meine Geschichte hab ich ihm inzwischen erzählt, aber weil ich genau weiß, wie er ist, werde ich ihm ja doch nie vertrauen können.«
»Klingt ganz schön verzwickt, Spätzchen.« Ernie spitzte die Lippen. »Ich muss schon sagen, zu meinen Zeiten war es sehr viel einfacher. Man fand sich in jungen Jahren und blieb zusammen. Es gab nicht lauter so – wie nennst du das – Altmüll?«
»Altlasten.«
»Ja, das meinte ich. Altlasten. Man lernte einfach jemanden aus der näheren Umgebung kennen, zum Beispiel beim Tanzen so wie Achsah und ich, man warb eine Weile umeinander, und dann heiratete man. Wenn man mit fünfundzwanzig noch nicht verheiratet war, galt man allgemein als sitzen geblieben. Und kaum jemand hat sich scheiden lassen – meistens konnte man sich das gar nicht leisten –, und so wurstelte man sich irgendwie miteinander durch, in guten wie in schlechten Zeiten. Mit meiner Achsah waren es allerdings überwiegend gute Zeiten. Sie war einzigartig.«
Frankie wollte seinen Arm tätscheln, merkte dann aber, dass sie ihn ja gar nicht anfassen konnte, und zog die Hand wieder zurück. »Ach Ernie, es tut mir so leid. Und manchmal wünschte ich, ich wäre in deine Zeit hineingeboren worden. Es klingt alles so viel einfacher.«
Ernie lachte. »Nun, in dieser einen Hinsicht war es das, aber wir kennen schließlich alle nur das, was wir kennen, nicht wahr? Ich finde, der junge Dexter ist ein toller Kerl, und ich finde, du solltest ihm vertrauen. Ist natürlich nur meine bescheidene Meinung. Ich verstehe nicht, was dich eigentlich an ihm stört.«
Dass er Unmengen anderer Frauen hat, dachte Frankie, und viel zu viele Geheimnisse, und dass in Oxford irgendetwas Schreckliches passiert ist und er irgendeine Frau wahnsinnig, wahrhaftig und von ganzem Herzen geliebt hat, und die Tatsache, dass er nichts als ein absolut hinreißend attraktiver Taugenichts ist, der mir das Herz brechen wird – mal wieder.
Sie lächelte Ernie zu. »Ach, lass uns das Thema wechseln. Ich werde noch verrückt, wenn ich länger darüber nachdenke. Aber ich wünschte doch, ich wäre viele Jahre früher zur Welt gekommen und hätte ihn beim Tanzen kennengelernt, so wie du deine Achsah, und müsste mich nicht mit lauter solchen Problemen herumplagen.«
Ernie seufzte. »Hoffentlich entwickelt sich für dich alles zum Besten, Frankie, das hoffe ich wirklich. Wie ich auch hoffe, dass für mich und Achsah alles gut wird. Oh, ich will mich nicht beklagen. Ich weiß, dass du uns früher oder später helfen wirst. Du hattest wohl noch kein Glück bei der Suche nach einem geeigneten Medium?«
»Nein, leider nicht. Sowohl Dexter als auch ich haben im Internet nach entsprechenden Leuten recherchiert.«
»Das ist dieses Computer-Zeugs, nicht wahr?«
»Genau. Wir geben uns wirklich alle Mühe. Es geht einfach darum, einen Experten ausfindig zu machen, der wirklich echt ist und dem wir vertrauen können. Wir werden bestimmt jemanden finden. Ähm, wo sind denn eigentlich die anderen?«, fragte Frankie hoffnungsvoll. »Sind sie – weg?«
»Nein, Spätzchen.« Ernie lachte. »Sie sind ebenso erdgebunden wie ich, also sind sie immer noch da. Da sie aber als Geister schon weiter entwickelt sind, bereiten sie eine Art Weihnachtsparty vor. Im Jenseits wird offenbar nicht gefeiert, aber ich glaube, all die Lichter und der Glitzer und die Begeisterung hier unten haben sie angesteckt. Jetzt gerade basteln sie sich Partyhüte.«
Frankie runzelte die Stirn. »Sie können also Gegenstände anfassen und festhalten, du aber nicht?«
»So ungefähr. Die Neutoten sind anfangs in vielem ziemlich hilflos, sagt Bev jedenfalls. Wir können ein bisschen verschwinden und erscheinen, aber nicht viel mehr. Ein Gutes hat dieses Herumspuken ja, ich habe von Bev und Jared viel darüber erfahren, was ich zu erwarten habe. Sie haben mir alles Mögliche erklärt. Ruby und Gertie sind weniger hilfreich. Die sind einfach nur völlig aus dem Häuschen über all die vielen Kleider hier, und unter uns gesagt, Spätzchen, sie machen mir Angst.«
»Du bist ein Geist.« Frankie kicherte. »Du kannst dich nicht vor anderen Geistern gruseln.«
»Aber Ruby und Gertie sehen doch ziemlich, nun ja, tot aus, Spätzchen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Frankie verbiss sich das Lachen. Ernie hatte Recht. Er und Bev und selbst Jared wirkten auch als Tote relativ normal, aber Ruby und insbesondere Gertie sahen ganz schön gruselig aus, selbst wenn sie ordentlich angezogen waren. Vor allem bei heller Beleuchtung.
»Also, diese Party«, fragte Frankie, »werden da auch Spiele gespielt? Wie etwa Mord im Dunkeln?«
»Das ist ein schlechter Scherz, Spätzchen.« Ernie grinste. »Und da wir weder essen noch trinken, finde ich die ganze Sache ziemlich witzlos. Aber das macht nichts, es vertreibt uns die Zeit, bis du zurückkommst und mich mit meiner Achsah wieder vereinst.«
Frankie seufzte im Stillen. Ernie baute noch immer unerschütterlich auf sie, doch sie befürchtete allmählich, dass er damit womöglich völlig falschlag. Vielleicht würde Ernie niemals erlöst werden. Nein, ein viel zu schrecklicher Gedanke, das wäre ja unvorstellbar …
»Nun, solange ihr mit der Party erst heute Nachmittag anfangt«, sagte Frankie, »habe ich nichts dagegen. Ich schließe um zwei und fahre gleich von hier aus nach Hause zu meiner Mum und meinem Dad. Ich glaube nicht, dass heute Nachmittag noch jemand ein Kleid kaufen will.«
»Aber heute Vormittag vielleicht.« Ernie deutete mit seinem grauen Haarschopf in Richtung Tür. »Sieht aus, als hättest du bereits zwei Kundinnen. Ich mach mich mal dünne.«
Frankie lächelte den beiden Frauen zu. »Hallo, frohe Weihnachten.«
»Frohe Weihnachten«, antworteten sie im Chor. »Puh, ist das kalt draußen – bestimmt schneit es bald. Der Wind kommt genau aus Nordost. Wäre doch schön, wenn wir dieses Jahr richtige weiße Weihnachten hätten, was?«
Frankie nickte. »Würde mich freuen, aber erst nachdem ich das Geschäft geschlossen habe und heute Nachmittag nach Hause gefahren bin.«
Und dann, dachte sie, kann drei Tage später ruhig alles wieder auftauen, damit ich ungehindert nach Kingston Dapple zurückkomme. Was ein ziemlich alberner Gedanke war, da Dexter den Blumenkiosk wahrscheinlich sowieso erst im neuen Jahr wieder aufmachte.
»Ach, Verzeihung, was haben Sie gesagt?«
Die jüngere der beiden Frauen lachte. »Ich sagte, wir haben auf gut Glück hereingeschaut, um mal zu sehen, ob Sie irgendetwas wirklich Verführerisches für eine Last-Minute-Party heute Abend haben. Wir haben es schon überall probiert – haben gestern fast sämtliche Läden in Berkshire abgeklappert –, aber es gab überall nur Sachen für magersüchtige Teenager. Leider sind wir für zentimeterkurze Netzröckchen dann doch nicht mehr jung genug.«
Frankie lachte. »So etwas führen wir, glaube ich, gar nicht, auch wenn es ein paar hübsche Minikleider aus den Sechzigerjahren gäbe. Aber wir haben einige wirklich tolle Cocktailkleider, die könnten genau das sein, was Sie suchen – sie hängen alle in den Abteilungen der jeweiligen Epoche, angefangen mit den Fünfzigerjahren dort drüben – ach, äh …«
Jared, der noch immer seinen lila Lieblingsfummel trug, tänzelte um die Kleiderständer herum, hatte sich nun aber auch noch einen scharlachroten und mit Christbaumkugeln verzierten Turban um den Kopf gewickelt, der Frankie an den Tuttifrutti-Hut von Carmen Miranda erinnerte.
Die beiden Frauen schienen ihn nicht wahrzunehmen und stöberten bald unter begeisterten Ausrufen in der Kleiderauswahl.
»Fröhliche Weihnachten, Herzchen«, rief Jared und hüpfte quer durch den Ladenraum auf sie zu. »Und ich muss sagen, du siehst einfach hinreißend aus in diesem Smaragdgrün. Hinreißend.«
»Danke«, zischte Frankie, »und bitte geh weg, solange ich Kundschaft habe – und überhaupt: Was hast du da auf dem Kopf?«
»Das ist mein Weihnachtshütchen.« Jared stellte sich in Pose. »Bev hat gesagt, wir müssen Partyhüte aufsetzen, also habe ich mir selbst einen gemacht. Er ist aus einem Kleid der Neunzigerjahre – ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
»Nein, nicht wirklich, wenn es dich glücklich macht, aber bitte bleib außer Sicht. Die beiden scheinen dich zwar nicht sehen zu können, aber …«
»Unterentwickelte Sinneswahrnehmung.« Jared zog einen Schmollmund. »So häufig heutzutage. Niemand benutzt mehr all seine Hirnwindungen, Püppchen, wirklich traurig.«
»Ja, wie auch immer – oh, schau, noch mehr Kundschaft. Verschwinde!«
»Mach ich, Süße.« Jared warf ihr ein Kusshändchen zu und verschwand.
Die beiden ersten Frauen waren mit jeweils mehreren Kleidern über dem Arm in die Umkleidekabinen abgetaucht und wurden von drei weiteren eifrigen Last-Minute-Kundinnen abgelöst.
Für einen Moment bedauerte Frankie es, dass sie Cherish an Heiligabend freigegeben hatte. Es war ihr nicht sinnvoll erschienen, Cherish an einem Tag extra herzubestellen, an dem sie ohnehin früher zumachte und alle Welt sicher anderes im Sinn haben würde, als Kleider zu kaufen.
Da hatte sie wohl falsch gedacht.
Frankie hatte Cherish am Tag zuvor versichert, dass ihre freien Tage bezahlter Urlaub waren, und ihr ein kleines verpacktes Geschenk überreicht – ein ansprechendes Set mit Kalender und Notizbuch und einem hübschen Stift, weil Cherish die Art von Mensch zu sein schien, die sich so manches aufschrieb – und war ganz gerührt gewesen, als Cherish ihr mit Tränen in den Augen einen Kuss gegeben und sich überschwänglich dafür bedankt hatte, dass sie bei ihr im Geschäft arbeiten durfte.
Dann hatte sie Frankie eine in wunderschönes Papier mit Rotkehlchen und Stechpalmenzweigen verpackte Schachtel überreicht. »Nur eine kleine Aufmerksamkeit, meine Liebe. Ich wünsche dir fröhliche Weihnachten.«
»Dir auch.« Frankie hatte die stark nach Badeperlen duftende Schachtel entgegengenommen. »Und vielen Dank hierfür. Ich hebe es bis zum Weihnachtsmorgen auf. Ich danke dir auch für all deine Hilfe, ich wüsste wirklich nicht, wie ich ohne dich zurechtgekommen wäre. Wir sehen uns dann am Achtundzwanzigsten.«
»Das werden wir, meine Liebe. Das werden wir.« Und mit beschwingten Schritten hatte Cherish den Laden verlassen.
»Wir nehmen diese hier.« Die Frauen waren gerade aus der Umkleidekabine wieder aufgetaucht. »Sie sind perfekt, einfach perfekt. Wir haben über eine Freundin von Ihrem Geschäft gehört und dachten, so toll, wie sie sagte, könne es gar nicht sein. Ist es aber doch.«
»Danke schön.« Frankie lachte, dann stockte sie. Ernie stand mit gequältem Gesicht am Ende der Theke und deutete auf die Kleider.
Entsetzt sah Frankie erst Achsahs Hochzeitskleid und dann ihre Kundin an. »Oh, es tut mir wirklich leid, dieses hier können Sie nicht haben.«
»Warum denn nicht?« Die Frau sah verärgert aus. »Es passt wie angegossen. Es ist genau das, was ich gesucht habe.«
Ernie hatte zutiefst bestürzt die Hände vors Gesicht geschlagen.
»Weil, äh, es bereits jemandem versprochen ist.« Frankie zog es über die Theke. »Es tut mir wirklich leid, es hätte gar nicht auf der Stange hängen sollen.«
»Ich will es aber«, beharrte die Frau und zog es wieder an sich. »Ich habe überall nach genau so etwas gesucht.«
»Tut mir schrecklich leid.« Frankie packte das Kleid und tauschte entsetzte Blicke mit Ernie. »Ich hätte, ähm, ein Schild mit der Aufschrift ›Verkauft‹ daran befestigen oder es ins Hinterzimmer hängen sollen oder so etwas.«
»Ja, das hätten Sie tun sollen«, schnaubte die Frau und zog Achsahs Kleid wieder an sich. »Was ist denn das für ein Laden? Eine Kleiderboutique, in der man die Kleider nicht kaufen kann? Wo ich gerade dachte, ich werde hier Stammkundin. Nein, dieses hier muss es sein.«
»Bedaure«, sagte Frankie bestimmt und zerrte das Kleid wie beim Tauziehen wieder über die Theke, »aber es ist wirklich nicht zu verkaufen. Bitte gehen Sie und schauen Sie nach etwas anderem. Suchen Sie sich ein anderes Kleid aus, und Sie bekommen es zum halben Preis.«
»Da kann man doch nicht meckern«, meinte die zweite Frau. »Geh schon, Rose. Geh, und probier das Rosafarbene noch mal an.«
»Ich will kein Rosa.« Rose runzelte trotzig die Stirn. Frankie erwartete fast, dass sie im nächsten Moment mit dem Fuß aufstampfen oder sich mit strampelnden Beinen in einem Wutanfall auf dem Fußboden wälzen würde. »Ich will das da.«
Frankie seufzte. »Ich bitte vielmals um Verzeihung. Hören Sie, es freut mich, dass Sie Kleider gefunden haben, die Ihnen gefallen, und natürlich möchte ich gerne, dass Sie wiederkommen – bitte probieren Sie das Rosafarbene noch einmal an, und wenn es Ihnen gefällt, können Sie es haben.«
»Es haben?«, fragte Rose zweifelnd. »Umsonst?«
»Umsonst«, bestätigte Frankie. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um meinen Fehler wiedergutzumachen.«
»Okay«, sagte Rose, endlich besänftigt, und steuerte nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf Achsahs cremefarbenes Seidenkleid erneut auf die Kleiderstangen zu.
Ernie strahlte jetzt wieder und beobachtete beglückt, wie Frankie Achsahs Kleid sorgsam hinter der Theke verstaute.
»Denken Sie sich nichts dabei«, sagte Roses Gefährtin und überreichte Frankie das Kleid, das sie selbst sich ausgesucht hatte. »In dem Rosafarbenen hat sie sowieso viel besser ausgesehen. Und ich liebe dieses Geschäft. Es ist wie eine Wundertüte voll ungeahnter Freuden.«
Voller Erleichterung lachte Frankie und packte das sanduhrförmige, pfirsichfarbene Cocktailkleid aus Satin ein. »Vielen Dank. Vielleicht sollte ich das künftig zu meinem Slogan machen.«
»Täte ich nicht«, murmelte Bev Frankie ins Ohr. »Klingt nach einer Schachtel Pralinen.«
Frankie runzelte die Stirn. Bev hockte wieder auf der Theke, noch immer mit dem Haarnetz, allerdings hatte sie nun Lamettafäden darumgewickelt, und von ihren Ohren baumelten rot-goldene Christbaumkugeln, sodass sie fast so aussah wie Bet Lynch aus Coronation Street.
Frankie machte mit den Händen hektisch wedelnde »Geh weg!«-Gesten. Bev lachte nur und ließ die Beine baumeln. Zum Glück fiel den Kundinnen, die sie nicht sehen konnten, überhaupt nichts auf.
»Ja«, Rose, die Ernie oder Bev offenbar ebenfalls nicht bemerkte, kam mit einem leuchtend pinkfarbenen Kleid in Händen aus der Umkleidekabine und nickte Frankie zu, »dieses hier tut es auch. Zwar wäre mir das Cremefarbene immer noch lieber, andererseits ist dieses hier umsonst ein noch viel besseres Schnäppchen. Okay, meine Liebe, aus Ihrem Versehen ist ein hübsches kleines vorzeitiges Weihnachtsgeschenk für mich erwachsen. Ich bin zufrieden, und ja, ich werde wiederkommen.«
Frankie und Ernie wechselten erfreute – und sehr dankbare – Blicke.
Um zwei Uhr nachmittags drehte Frankie das Ladenschild auf GESCHLOSSEN. Sie hängte Achsahs Hochzeitskleid wieder auf die Stange, weil Ernie es dort gern haben wollte. Sie hatte noch ein halbes Dutzend weitere Kleider verkauft, der Himmel draußen hatte sich, während der Wind zu heulen begann, dramatisch verdunkelt, und die Geister begannen mit ihren Weihnachtsfeierlichkeiten.
»Was zum Teufel machen die da?« Dexter hatte große Mühe, die Tür hinter sich zu schließen. »Himmel, dieser Wind ist aber plötzlich aufgekommen. Nein, im Ernst, was machen die denn da?«
»Sie veranstalten eine Weihnachtsparty.« Frankie lachte. »Obwohl ich sie gebeten hatte, erst anzufangen, wenn ich weg bin, aber die Bitte scheint auf taube Ohren gestoßen zu sein.«
Dexter beobachtete, wie Bev und Jared mit wild wackelndem Kopfputz herumtollten und bei Jonah Lewie und seiner Kavallerie aus der Stereoanlage mitsangen, auch wenn sie eindeutig den Text nicht kannten, während Gertie und Ruby sich bei irgendeinem lärmenden Klatsch-Spiel miteinander vergnügten.
Ernie lehnte an den Kleiderstangen der Fünfzigerjahre neben Achsahs zurückgekehrter Robe und sah mit trauriger Miene zu.
»Ernie kann nicht so viel wie die anderen«, erklärte Frankie. »Und fühlt sich einsamer denn je.«
»Armer Kerl.« Dexter seufzte. »Sobald Weihnachten überstanden ist, werden wir wirklich einen Weg finden müssen, ihm aus der Patsche zu helfen. Also, ist bei dir alles bereit für die große Auszeit bei deiner Familie?«
»Jawohl.« Frankie nickte und räumte die letzten Tragetaschen weg. »Lilly ist gestern nach Protaras aufgebrochen, ich habe meinen Wagen vollgeladen, das Haus abgesperrt und schließe jetzt den Laden, weil ich nicht glaube, dass noch weitere Kunden kommen. Zumal es so aussieht, als würde ein Unwetter aufziehen. Und du? War viel los heute?«
»Überraschenderweise ja.« Dexter lehnte sich an die Theke. »Ich habe eine Ladung künstlich verzierter Blumen gekauft – hauptsächlich rote Tulpen –, die ich eigentlich nicht mag, weil sie so unnatürlich wirken …«
Frankie kicherte. »Jetzt klingst du wie ein echter Gärtner.«
»Genau genommen«, er sah ihr in die Augen, »fühle ich mich allmählich auch so. Jedenfalls, bei diesen Blumen waren die Spitzen der Blütenblätter in irgendeinen Klebstoff getaucht und dann mit Glitzer besprenkelt. Ich habe auf gut Glück fünf Dutzend davon mitgenommen und allesamt verkauft. Und außerdem noch zwei Weihnachtsbäume in letzter Minute. Also bin ich mehr oder weniger fertig. Ich mache jetzt zu.«
Die Weihnachtsmusik hatte zu George Michael gewechselt, der sich sehnsüchtig ans letzte Weihnachtsfest erinnerte. Bev, Jared, Ruby und Gertie schunkelten verzückt mit geschlossenen Augen.
»Oh Gott, letztes Weihnachten«, Dexter zog eine Grimasse, »daran möchte ich gar nicht denken.«
»Schlimm?«
»Entsetzlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Woraus folgt, dass es dieses Jahr nur besser werden kann. Wie auch immer, ich wollte dir nur wünschen, nun ja, was auch immer du dir von den Festtagen erhoffst.«
»Danke, gleichfalls. Ach, hast du auch diese Karte von Ray und Rita aus Mykonos bekommen?«
Dexter schmunzelte. »Habe ich. Meilenweit strahlend blaues Meer und blauer Himmel, Unmengen weißer Sand und, nicht zu vergessen, die über und über mit Blumen geschmückte, idyllische Taverne – ganz schön grausam von ihnen, finde ich.«
»Ich habe die gleiche Postkarte gekriegt. War bei dir auch eine Familienpackung Baklava mit dabei?«
»Oh ja. Ich habe alles auf einmal aufgegessen und mir hinterher gewünscht, ich hätte es nicht getan.«
Frankie kicherte. »Ich hab es geschafft, sie auf zwei Mal zu verteilen, aber hinterher war mir trotzdem ganz schön übel. Es freut mich jedoch, dass Ray und Rita glücklich sind. Es muss herrlich sein, seinen Traum zu leben.«
»Das gelingt nicht vielen Leuten, was?«
»Leider nein. Ähm, also, und wann machst du wieder auf?«
»Zwei Tage nach Boxing Day. Und du?«
Frankie schlug im Geiste vor Freude Purzelbäume, bemühte sich jedoch, ihr Lächeln im Zaum zu halten. »Ach, äh, eigentlich genauso. Ich erinnere mich, dass Rita im Jahresendspurt vor Silvester immer wirklich viel zu tun hatte.«
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht so ganz, ob ich irgendwelche Kundschaft haben werde. Aber alles ist besser, als zwischen Weihnachten und Neujahr in der einsamen Einzimmerwohnung herumzuhocken und sich auszumalen, wie alle anderen sich blendend amüsieren. Ach, verflixt noch mal, könntest du nicht bitte ein anderes Lied auflegen?«
Frankie, die sich mit sehr schlechtem Gewissen darüber freute, dass Dexter letztlich doch allein zu Hause blieb, hörte erleichtert, dass Georges traurige Erinnerungen in diesem Moment automatisch von Paul McCartney abgelöst wurden, der von einer wundervollen Weihnachtszeit sang.
Bev und Jared begannen erneut zu tanzen. Ruby und Gertie kreischten laut und klatschten in die Hände.
»Wahnsinn.« Frankie schüttelte den Kopf. »Und der arme Ernie ist immer noch ein einsamer Außenseiter.«
»Also ist unser guter Vorsatz fürs neue Jahr, Ernie und Achsah wieder zusammenzubringen.« Dexter schmunzelte. »Mal was anderes, als auf Fastfood und Bier zu verzichten oder mit regelmäßigem Joggen anzufangen. Wie auch immer, ich lass dich jetzt mal weitermachen, und wir sehen uns dann in ein paar Tagen. Ach, und das hier wollte ich dir geben.«
Frankie starrte auf die kleine, silbern eingepackte Schachtel.
»Oh nein … Ich meine, vielen Dank … Aber ich habe gar kein Geschenk für dich. Ich hätte nicht erwartet …«
»Es ist wirklich nur eine Kleinigkeit. Ich hab sie zufällig gesehen und an dich gedacht. Wenn du sie blöd findest, kannst du sie ja deiner kleinen Schwester oder deiner Mutter schenken.«
»Ich finde es, äh, sie bestimmt nicht blöd«, sagte Frankie und wusste, selbst wenn die silberne Schachtel die schlimmste Scheußlichkeit enthielte, würde sie das Geschenk ihr restliches Leben lang über alles lieben. »Vielen, vielen Dank. Das ist wirklich nett von dir.«
»Und weil ich viel für Traditionen übrighabe, bekommst du noch etwas.« Lächelnd zog Dexter einen kleinen Mistelzweig aus der Tasche und hielt ihn ihr über den Kopf. »Fröhliche Weihnachten, Frankie.«
Als seine Lippen ihre in einem unvergleichlich zärtlichen Kuss berührten, klatschten sämtliche Geister entzückt in die Hände, und aus dem bleigrauen Himmel draußen fielen die ersten Schneeflocken.