120.

Allbeury ging Helen Shipley besuchen, die immer noch krankgeschrieben war. Er brachte ihr Blumen mit, freute sich über die Wärme ihres Lächelns, als sie sie entgegennahm, und war gerührt von der Verlegenheit, mit der sie durch ihre kleine, chaotische Wohnung humpelte und eine Vase suchte, um die Blumen hineinzustellen. Bei Tee und Schokoladenkeksen erfuhr Allbeury, dass John Bolsover inzwischen auf freiem Fuß war und seiner wahren Verbrechen an Lynne wegen nicht wieder verhaftet würde, so sehr Lynnes Schwester Pam Wakefield und Helen auch darauf hofften.

»Man munkelt«, erzählte sie ihm, »dass er hinter Gittern eine schlimme Zeit hatte.«

»Ein kleiner Trost für Lynnes Schwester«, sagte Allbeury.

»Sie sagt, sie wird die Kinder weiterhin genau im Auge behalten«, sagte Helen. »Und nach allem, was sie mir erzählt hat, sieht es Gott sei Dank so aus, als habe er die Kleinen nie angerührt.«

Er fragte sie, was sie über Clare Novak gehört hatte.

»Sind Sie deshalb gekommen?«, fragte Helen. »Ich habe mich schon gewundert.«

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Allbeury. »Ich habe unsere Zänkereien ziemlich genossen. Ihre offenkundige Abneigung mir gegenüber, und Ihre Beharrlichkeit.«

Helen zuckte die Achseln. »Ich kann Ihnen über Clare Novak nicht viel sagen. Sie wissen wahrscheinlich schon, dass sie in Rampton untersucht wird. Jim Keenan kann Ihnen vielleicht mehr sagen.« Sie lächelte wieder. »Ich bezweifle allerdings, dass er es tut.«

Keenan wusste tatsächlich mehr, und er erfuhr täglich Neues. Die meisten Informationen kamen von den Spezialisten der IT-Abteilung des kriminaltechnischen Labors, die sowohl die Computer bei Novak Investigations als auch den von Clares Patienten Nick Parry untersuchten. Parry hatte, wie sich jetzt herausstellte, um der Herausforderung willen seiner Pflegerin geholfen, sich in die verschiedensten Computersysteme einzuhacken, und wie die Dinge lagen, schien es wahrscheinlicher, dass Parry sich wegen Verletzung des Datenschutzgesetzes verantworten musste, als dass Clare wegen Mordes vor Gericht gestellt würde.

Clare war geisteskrank, da war Keenan sich ziemlich sicher, auch wenn die beängstigend kaltblütige Planung ihrer Verbrechen und ihre schiere Effizienz gegen eine Unzurechnungsfähigkeit sprechen mochten. Clare hatte ihren Mann Mike, die Detektei und ihren Klienten Robin Allbeury (von dem sie in einer Passwort-geschützten Datei geschrieben hatte, er nutze die Frauen aus und sei wahrscheinlich pervers) gnadenlos für ihre Zwecke benutzt. Sie hatte ihre eigenen Fähigkeiten – plus Nick Parrys Einsamkeit und seine Leidenschaft für Computer – dazu missbraucht, in Krankenhaus-Dateien einzudringen. Als das nicht mehr ausreichte, hatte sie Maureen Donnelly ausgehorcht oder die Notaufnahmen von Krankenhäusern besucht, wo man sie kannte und ihr vertraute, um Informationen über die Fälle zusammenzutragen, die sie interessierten.

»Nicht Fall, sondern Fälle«, bemerkte Constable Karen Dean bei einer Sitzung.

»Es könnte also noch mehr Opfer gegeben haben«, sagte Terry Reed.

»Mit Sicherheit hat sie Interesse an weitaus mehr Frauen gezeigt als nur an Patston und Bolsover«, bestätigte Keenan.

Seit ihrem Zusammenbruch, so schien es, war Clares PC zu ihrem einzigen Vertrauten geworden. In ihm hatte sie detaillierte, regelmäßig aktualisierte Berichte über ihre potenziellen Opfer geführt, ihre Fälle (einschließlich Lizzie Wade), alle fein säuberlich mit Referenznummern versehen, die zum Teil Geburtsdaten zu sein schienen. All diesen Frauen, hatte Clare geschrieben, habe es an »moralischem Mut« gemangelt. Diese Frauen hätten Ungeheuer geheiratet, doch die eigentlichen Schuldigen, behauptete Clare, waren sie selbst, weil sie aus Furcht vor den Folgen einer Trennung bei diesen Männern geblieben waren und damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder in Gefahr gebracht hatten.

»In Lynne Bolsovers Fall«, sagte Keenan nun, »hatte ihr Mann sie außerdem zu einer Abtreibung gedrängt.«

»Vielleicht glaubte Clare, den Kindern eine Chance zu geben, indem sie deren schwache Mütter aus dem Weg schaffte und die Männer ins Gefängnis brachte«, sagte Dean und streifte damit das mögliche Motiv, das Helen Shipley früher Allbeury unterstellt hatte.

»Sie sollten Seelenklempnerin werden«, bemerkte Reed abfällig.

Niemandem war es bisher gelungen, ein tieferes Motiv für Clares Verbrechen auszugraben. Ihr Vater, Malcolm Killin, ein müder, kranker Mann, hatte bis auf den Tod seiner Frau, als Clare noch ein junges Mädchen war, von keinen traumatischen Ereignissen zu berichten. Dann waren da noch Clares Zusammenbruch und ihre Depression, ihr Ausscheiden aus dem Beruf der Krankenschwester und vor allem der Verlust ihres ersten Babys.

Keenan hatte sich den Autopsiebericht des Säuglings und die Mitschrift der gerichtlichen Untersuchung besorgt; aus beiden wurde deutlich, dass Clare gelogen haben musste, als sie Mike Novak erzählte, sie habe ihr Kind getötet.

»Wie sehr sie ihn gehasst haben muss«, sagte Dean angewidert, »ihn in diesem Punkt zu belügen.«

»Es sei denn«, sagte Keenan, »sie wollte bewirken, dass er sie hasst.«

»Was für eine arme Verrückte«, sagte Reed.

»Was für eine blutige Tragödie«, sagte Keenan.

Noch eine weitere Tragödie beschäftigte Keenan, ein Albtraum, der sich in seiner Erinnerung immer wieder abspielte: wie die kleine Irina von Sandra Finch weggeholt wurde.

Tony Patston wartete inzwischen auf seinen Prozess wegen der illegalen Adoption, und die Akte über die mögliche Kindesmisshandlung war an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden, doch Sandras Leid dauerte unvermindert an.

Sie hatte Keenan angefleht, ihr so viel über Joannes Tod zu erzählen, wie er nur konnte, und Keenan hatte ihr diesen Wunsch erfüllt, da es ohnehin nur eine Frage der Zeit war, bis Sandra bei der gerichtlichen Untersuchung alles erfuhr – auch, was die Polizei Clare Novaks PC entnommen hatte: dass es Clare gewesen war, die Joanne an dem letzten Morgen angerufen hatte, und dass sie sich als Novaks Geschäftspartnerin ausgegeben und Joanne gesagt hatte, sie müsse dringend einige Papiere für Allbeury unterschreiben, um ihre Flucht mit Irina vorzubereiten. Dass Joanne sich, nachdem sie Irina bei Sandra abgegeben hatte, in der Grünanlage vor der Hall-Lane-Bibliothek mit Clare getroffen hatte. Dass Clare vorgeschlagen hatte, Joanne solle die Formulare lieber in der Sicherheit ihres Autos ausfüllen, wo sie vor den Blicken von Passanten geschützt sei. Dass Clare eine Thermoskanne bei sich hatte, aus der sie Joanne eine Tasse Kaffee einschenkte, der mit Diazepam versetzt war. Dass die Tranquilizer rasch gewirkt hatten und Clare mit Joanne in den Epping Forest gefahren war, um sie dann an die Stelle zu schleppen, an der sie sie erstochen hatte. Clare hatte ihr medizinisches Fachwissen benutzt und Joanne zuerst in die Halsvene gestochen, hatte dies jedoch verschleiert, indem sie ihr zusätzlich die anderen Wunden zugefügt hatte.

»Danke, dass Sie es mir erzählt haben«, sagte Sandra, nachdem Keenan geendet hatte.

»Ich wollte«, sagte er, »ich könnte mehr für Sie tun als das.«

»Das können Sie«, sagte Sandra. »Helfen Sie mir, Irina zurückzubekommen.«

»Ich fürchte, das steht nicht in meiner Macht«, sagte Keenan.

»Jemand muss doch helfen können!« Die Augen der alten Frau blickten ihn voller Qual an. »Wie kann jemand glauben, es sei besser für Irina, bei Fremden zu sein, ganz zu schweigen davon, zurück nach Rumänien geschickt zu werden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Keenan.

Blankes Entsetzen
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