13.
Jacks Neigung zu stolpern war schon im Alter von zwei Jahren so ausgeprägt gewesen, dass Lizzie Dr. Anna Mellor bei der jährlichen Routineuntersuchung darauf ansprach. Die Kinderärztin – die mit Peter Szell, einem Kardiologen und engen Freund Christophers verheiratet war – beruhigte sie jedoch, nachdem sie den Jungen untersucht hatte. Bei Geh-Anfängern, erklärte sie, sei häufiges Hinfallen völlig normal.
Lizzie verbannte das Thema aus ihren Gedanken, und wenn ihr das auch nicht ganz gelang, stellte sie das Thema doch zumindest weit hintan.
»Er ist entzückend«, sagte seine Großmutter Angela und hatte Recht: Jack mit seinen schönen grauen Augen, dem goldblonden Haar und seiner fröhlichen Art war hinreißend.
Auch Edward vergötterte seinen kleinen Bruder, neckte ihn aber häufig, als sie heranwuchsen.
»Du bist so langsam«, beschwerte er sich, wenn sie zusammen spielten.
»Er ist noch klein«, erinnerte Christopher ihn. »Du musst Geduld haben.«
»Hab ich ja«, sagte Edward. »Aber er ist so ungeschickt.«
»Es können nicht alle von Natur aus solche Athleten sein wie du, Ed.«
»Was ist ein Athlet, Dad?«
»Jemand, der Rennen läuft, Hochsprung macht und so weiter.«
»Jack kann nicht springen«, sagte Edward.
»Natürlich kann er das«, widersprach Christopher.
Als dann Sophie zur Welt kam, jubelte der dreijährige Jack über die Aussicht, ebenfalls großer Bruder sein zu können; er schmuste bei jeder Gelegenheit mit der kleinen Schwester; er liebte es zuzusehen, wenn sie gebadet und umgezogen wurde, und er streichelte hingebungsvoll ihre weichen Wangen.
Ein zärtlicher Junge.
Ein fröhlicher, neugieriger, liebevoller Junge.
»Ich glaube nicht, dass ich je ein so unkompliziertes Kind gesehen habe«, sagte Gilly.
»Ich weiß«, stimmte Lizzie zu. »Wir haben großes Glück.«
Doch dann, an einem Februarmorgen drei Monate nach Jacks viertem Geburtstag, änderte sich binnen weniger Stunden alles, und für immer. Christine Connor, die Leiterin von Jacks Kindergarten, fragte Lizzie, die gerade ihren Sohn gebracht hatte, ob sie sie kurz unter vier Augen sprechen könne.
»Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Jack«, sagte sie.
»Warum?«
Lizzie stellte die Frage leichthin – wie die Frau, die sie bis zu diesem Augenblick zu sein vorgegeben hatte: die glückliche, sorglose Ehefrau und Mutter von drei Kindern. Aber aus ihrem Innern, aus ihrem jetzt schon verkrampften Körper und ihrem stockenden Herzen war bereits jede Leichtigkeit verschwunden.
»Ich glaube«, sagte Mrs Connor, »er hat möglicherweise ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
Hör nicht hin, Lizzie.
»Erstens«, sagte die andere Frau, »glaube ich, dass er nicht springen kann.«
»Ja, er ist ein bisschen ungelenk. Eine Sportskanone wird er wohl nie«, sagte Lizzie.
»Nein, Mrs Wade«, sagte Christine Connor. »Ich will damit sagen, Jack kann nicht springen. Ich habe ihn beobachtet – es ist, als wären seine Füße am Boden festgeklebt, wenn er es versucht.« Sie hielt inne. »Haben Sie das nicht bemerkt?«
Nein. Versteck dich weiter.
»Doch«, sagte Lizzie leise. »Habe ich.«
»Da ist noch etwas«, fuhr die Pädagogin fort.
Lizzie fühlte sich (oder glaubte zumindest, sich so zu fühlen) wie ein Gefangener, der auf der Anklagebank saß und darauf wartete, dass der Richter sein Urteil verkündete – mit dem möglichen Ausgang Tod durch Erhängen. Sie wollte Christine Connor sagen, dass sie schweigen solle, kein Wort mehr sagen solle, aufhören solle, Jack zu beobachten, weil er schließlich Lizzies Kind war, nicht ihres, und es ging ihm bestens.
»Die Art und Weise, wie er aufsteht, wenn er auf dem Boden gesessen hat.«
Po zuerst, die Hände auf die Beine gestützt.
»Ja«, sagte Lizzie wieder.
»Dann haben Sie es also auch bemerkt, Mrs Wade?«
»Ja.«
Lizzie wusste, die Frau wartete darauf, dass sie etwas sagte, vielleicht eine Frage stellte oder einen Vorschlag machte, wie eine kompetente Mutter es tun sollte. Aber dazu schien sie in diesem Augenblick nicht fähig zu sein.
»Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es nichts ist«, sagte Christine Connor.
»Aber Sie gehen nicht davon aus«, sagte Lizzie.
»Ich glaube, Sie sollten mit dem Arzt sprechen.«
Die Angst, die an diesem Morgen zum ersten Mal an die Oberfläche stieg, war seither nie wieder verschwunden.
Lizzie war auf direktem Weg nach Hause gefahren, um mit Gilly zu sprechen.
»Ich hatte gehofft, es mir nur einzubilden«, sagte Gilly.
»Da bist du nicht die Einzige«, erwiderte Lizzie und rief Christopher an. Der ließ, wie erwartet, alles stehen und liegen, übergab zwei Operationen einem anderen Chirurgen, vertagte eine HANDS-Versammlung, sprang in seinen BMW und fuhr auf der A40 – zu langsam, wegen des Verkehrs – und dann auf der M40 – zu schnell – nach Marlow.
Als Jack aus dem Kindergarten zurück war, verbrachten seine Eltern die nächsten vierundzwanzig Stunden damit, jeden seiner wachen Momente – und auch viele seiner schlafenden – mit einem wachsenden Gefühl der Angst akribisch zu beobachten.
»Warum tut ihr das?«, fragte Edward einmal.
»Was, Schatz?«, fragte Lizzie.
»Jack so angucken«, sagte der Sechsjährige, der die dunklen Haare und Augen seiner Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte.
»Das tun wir doch gar nicht, Liebling«, log seine Mutter.
»Wir sehen ihn deshalb so an«, sagte sein Vater mit der natürlichen Offenheit, die Kinder seiner Ansicht nach am liebsten hatten und die ihn, wie Lizzie zugeben musste, zu einem besonders talentierten Vater machte, »weil wir glauben, dass Jack vielleicht krank ist.«
»Wie eine Erkältung, meinst du?«, fragte Edward.
»So ähnlich«, antwortete Christopher, der keinen Grund sah, seinem älteren Sohn Angst zu machen, solange noch die Chance bestand, dass alles sich als harmlos erweisen könnte. Und dafür betete er inbrünstig.
»Okay«, sagte Edward und hatte schon das Interesse verloren.
Das war für lange Zeit das Letzte, das gut gelaufen war, erinnerte sich Lizzie. Denn ihre Beobachtungen – und anschließend eine ungewohnt ernste Anna Mellor in der Londoner Praxis – bestätigten, dass Jacks Oberschenkelmuskeln schwächer waren, als sie hätten sein dürfen, und dass er darüber hinaus Schwächen im Bereich der Hüfte und der Schultern zeigte.
»Was meinst du?«, fragte Lizzie die Kinderärztin nach der Untersuchung, während Jack im Zimmer nebenan mit einer Arzthelferin spielte.
»Ich meine«, sagte Anna Mellor, »Jack sollte zu einem Spezialisten.«
»Warum?«, fragte Lizzie. »Was glaubst du denn, was mit ihm nicht stimmt?«
Christopher sah sie daraufhin mit einem Blick an, in dem so viel Mitleid und Verzweiflung lagen, dass sie das Gefühl hatte, das Blut würde ihr in den Adern gefrieren.
»Wir müssen abwarten, Liebling«, sagte er sanft.
Und Lizzie begriff, dass es Christopher – einem Mann, der gewohnt war, durch Haut und Knochen zu schneiden und seine Hände in das Blut anderer Menschen zu tauchen – in diesem Augenblick kein bisschen anders erging als ihr selbst.
Er klammerte sich mit aller Kraft an die Unwissenheit.
Die Zeit danach verschwamm zu einem Nebel – etliche Tage am Telefon in der Londoner Wohnung, die Bemühungen, Jack zu beschäftigen und zu beruhigen, endlose Arzt- und Krankenhaus-Wartezimmer mit veralteten Zeitschriften und voller Patienten und Angehörigen mit guten Manieren und erbärmlichem Aussehen. Untersuchungszimmer und Röntgenabteilungen und Labors, durch die der arme Jack, der sich niemals beklagte, geschoben und geschubst wurde und in denen er vor einer endlosen Aufeinanderfolge von Männern und Frauen in Anzügen und weißen Kitteln laufen, sich hinsetzen und wieder aufstehen musste – vorgeführt wurde, wie Lizzie es in ohnmächtiger Wut empfand. Sie gingen zu einem Kinder-Neurologen, einem Orthopädie-Chefarzt und einem Genetiker; man stellte Lizzie und Christopher zahllose Fragen und beantwortete die ihren; man präsentierte ihnen Dutzende von Fakten, Statistiken und Ratschlägen.
Und irgendwann inmitten dieses Nebels kam die Diag-nose, verkündet wie das Urteil, auf das Lizzie wartete, seit Christine Connor sie in ihr Büro gebeten hatte.
Duchenne Muskeldystrophie aufgrund eines fehlerhaftes Gens des X-Chromosoms. Dem weiblichen Chromosom.
Mit anderen Worten, seine Mutter hatte es ihm vererbt.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Lizzie viel später an diesem letzten, endlosen Tag-Nacht-Albtraum zu Hause in Marlow. »Wie kann das sein? Es gibt doch in der Familie keine Vorgeschichte solcher Krankheiten, oder?«
Die Frage galt ihrer Mutter, die aus London gekommen war, um Gilly mit Edward und Sophie zu helfen.
»Nicht, soweit ich weiß«, sagte Angela, die sich nicht ganz zu Unrecht angegriffen fühlte.
Alle drei Kinder waren oben und schliefen – Jack aus purer Erschöpfung –, und Gilly war vor einer Weile in ihre Wohnung in Maidenhead gefahren. Die anderen Erwachsenen saßen erschöpft im Wohnzimmer vor dem Holzfeuer, das knisterte und glühte wie gewöhnlich, aber so gar nichts von der üblichen Wärme und Behaglichkeit auszustrahlen schien.
»Was ist mit deinem Bruder?«, fragte Lizzie.
Solange sie denken konnte, wusste sie schon, dass es einen Onkel namens James gegeben hatte, der sehr jung verstorben war. Angela hatte Lizzie bereits vor Jahren erzählt, dass sie nie genau erfahren hatte, woran ihr Bruder gestorben war; ihre Eltern, die inzwischen ebenfalls beide tot waren, hatten nie mit ihr darüber sprechen wollen.
»Könnte es das gewesen sein?«, drängte Lizzie.
»Ich weiß es nicht.« Angelas Gesicht war blass. »Möglich ist es, nehme ich an.«
»Finde es heraus, ja?« Lizzie wusste, dass sie schroff klang, aber sie konnte sich nicht helfen.
»Im Ernst?«, fragte Angela.
»Ja, sicher.«
»Würde es denn etwas ausmachen, wenn wir es wüssten?«
»Nein.« Es war Christopher, der Angela antwortete. »Es würde keinen Unterschied machen. Nicht für Jack.«
Lizzie starrte ihn mit wirrem Blick an. »Aber vielleicht täuschen sie sich«, sagte sie. »Vielleicht war das, woran James gestorben ist, etwas Ähnliches wie bei Jack, aber nicht genau dasselbe. Vielleicht ist es etwas, gegen das man inzwischen ein Mittel gefunden hat.«
»Sie irren sich nicht, Lizzie«, sagte Christopher sanft. »Und auch wenn die Möglichkeit besteht, dass man irgendwann ein Heilmittel entdeckt – noch gibt es keins.«
In diesem Augenblick hasste Lizzie ihn aus tiefstem Herzen, so wie sie zuvor schon von brennendem Hass gegen Anna Mellor erfüllt gewesen war.
»Ich habe sie schon vor zwei Jahren darauf angesprochen«, hatte sie im Wartezimmer des Genetikers zu Christopher gesagt. »Ich habe sie gefragt, ob mit ihm alles in Ordnung ist, und sie sagte, es ginge ihm bestens … es gebe nichts, weswegen ich mir Sorgen machen müsste.«
Christopher antwortete, er habe Anna kurz zuvor angerufen, als Lizzie mit Jack auf dem Klo war, um ihr genau diese Frage zu stellen: Anna hatte gesagt, sie habe damals sofort an DMD gedacht und Jacks Waden nach Vergrößerungen untersucht, was bei Kleinkindern oft ein Warnzeichen sei.
»Sie sagte, seine Beine hätten normal ausgesehen«, sagte Christopher zu Lizzie. »Was sie unglaublich erleichtert habe.«
»Wie schön, dass Anna erleichtert war«, entgegnete Lizzie giftig.
»Die ganze Geschichte nimmt sie sehr mit, und sie sorgt sich um uns alle«, sagte Christopher. Dann fügte er mit ruhiger Stimme, aber tiefem Schmerz hinzu: »Ich habe es auch nicht gesehen, Lizzie. Und wenn doch, habe ich vorgezogen, es zu ignorieren.«
»Hast du?«, fragte sie ihn heftig. »Hast du es gesehen?«
»Ich sah unseren hübschen kleinen Jungen, der nicht so sportlich war wie sein älterer Bruder.« Christopher bemühte sich, ehrlich zu sein. »Ich wusste, dass er später anfing zu laufen als andere, und ich sah seine Schwierigkeiten, nach einem Ball zu treten und zu rennen und zu springen, und ich sah, dass er manchmal ein wenig unbeholfen wirkte, aber ich sagte mir, es mache nichts, solange er glücklich und gesund ist.«
»Ich auch«, sagte Lizzie.
»Aber ich bin Arzt.«
»Plastischer Chirurg«, sagte Lizzie aus Freundlichkeit.
Doch sie war in ihr Hass-Stadium eingetreten, und dieser Hass zielte in alle Richtungen: auf Anna Mellor, weil sie es nicht gleich festgestellt hatte, auf den Kinder-Neurologen, weil er es festgestellt hatte, auf alle Eltern in den Wartezimmern, deren Söhne nicht DMD hatten, auf Christopher – auch wenn sie ihm das Gegenteil versicherte –, weil er die Anzeichen nicht erkannt hatte.
Dann wurde ihr klar, dass eigentlich Christopher allen Grund hatte, ihr Vorwürfe zu machen, wenn es darum ging, Schuldzuweisungen zu machen.
Schließlich war es ihr defektes Gen.
Doch er tat nichts dergleichen, weder an diesem Abend noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Auch in den finsteren Stunden, als Jacks künftiger Albtraum sich zu entfalten begann, blieb er der zärtlichste Ehemann, den man sich vorstellen konnte. Christopher begriff, unter welchen irrationalen und doch vielleicht unvermeidlichen Schuldgefühlen Lizzie litt, und seine Liebe und Fürsorge für Jack, Edward und Sophie war umfassend.
Doch eines änderte sich. Christopher konfrontierte Lizzie jetzt wieder offen mit seinen perverseren sexuellen Bedürfnissen, die er lange Zeit unterdrückt hatte.
»Die Therapie«, erklärte er ihr, »hat eher den Schwerpunkt verlagert, sie ist mir keine große Hilfe mehr. Und ich will niemals zu jemand anderem als zu dir, Lizzie. Ich habe durchzuhalten versucht, aber ich bin nicht so stark wie du. Und so beschämend es ist … ich scheine das zu brauchen. Deshalb habe ich dich gebeten, dass du versuchst, meine Gefühle zu verstehen.«
Lizzie konnte die Bedürfnisse ihres Mannes zwar nicht annähernd begreifen, besaß aber ausreichend Fantasie, um zu erkennen, dass er die Befriedigung dieser Bedürfnisse jetzt dringender brauchte als je zuvor, um mit der traurigen neuen Welt, in der sie beide lebten, besser zurechtzukommen – ein dunkler Kanal, durch den er wenigstens einen kleinen Teil seiner aufgestauten Qualen und Schmerzen freisetzen konnte.
Also hatte Lizzie sich bereit erklärt, es zu versuchen. Sie hatte beinahe vergessen gehabt, wie abstoßend, wie völlig anders dieser andere Christopher war. Manchmal verachtete sie sich selbst, wenn sie mit ihm im Bett lag und er Dinge mit ihr tat, die sie sich geschworen hatte nie wieder zuzulassen. Dann aber zwang sie sich, daran zu denken, was ihrem Sohn bevorstand, und der Hass auf sich selbst und ihre Schmerzen verschwanden im Nichts.
Ich bin nicht wichtig, sagte sie sich. Nicht mehr.
Bei Tageslicht verstaute sie dann alle Erinnerungen an die Nacht, an die Schmerzen und Erniedrigungen in die unterste Schublade ihrer Emotionen – wohl wissend, was sie tat. Sie verachtete Christopher nicht mehr. Stattdessen erkannte sie immer wieder, weshalb sie sich in ihn verliebt hatte und wie viel aufrichtige Güte und Kraft in ihm waren. Es war so, wie er gesagt hatte, als er ihr seine eigene Krankheit zum ersten Mal eingestand: Seine guten Eigenschaften überwogen seine Schwächen.
Und abgesehen davon vergötterte Jack ihn.