18.
Während ihres ständigen Kampfes, Irina zu beschützen, überdachte Joanne immer wieder ihre Möglichkeiten. Sie fragte sich, ob sie etwas übersehen hatte, um die eigene Zukunft und die ihres Kindes zu retten. Eine Scheidung war unmöglich. Tony hatte ihr deutlich gesagt, dass er sie beide niemals gehen ließe, worauf Joanne einzuwenden versuchte, dass es bestimmt die einfachste Lösung für ihn wäre: Ruhe und Frieden ohne Frau und Tochter.
»Klingt verlockend«, sagte Tony. »Aber nicht verlockend genug bei alldem, was ich im Laufe der Jahre für euch berappt habe.«
»Wir sind doch keine Geldanlage«, mahnte Joanne.
»Ja, leider«, konterte er. »Denn wenn ihr es wärt, könnte ich euch jetzt einlösen und mir was Sinnvolles dafür kaufen.«
Joanne hatte es dabei belassen. Sie ließ das Thema jedes Mal rasch fallen, weil sie wusste, dass jeder Vorwurf, jede Andeutung einer Trennung, die Gefahr weiterer Schläge barg, und sein Zorn richtete sich immer noch ausschließlich gegen Irina – nach wie vor bestrafte er Joanne, indem er das kleine Mädchen bestrafte.
»Geht es Irina gut?«, hatte ihre Mutter erst eine Woche zuvor gefragt.
»Sehr gut«, antwortete Joanne, während ihr Magen sich zusammenzog. Sie fürchtete sich inzwischen, Irina irgendwo mit hinzunehmen und mied selbst den kürzesten Besuch bei ihrer Oma.
Natürlich ging es Irina alles andere als gut. Das Mädchen schien vor Joannes zunehmend angsterfüllten Augen immer mehr zu verblassen. Wie ein nicht lackiertes Gemälde, das anfangs strahlend und farbenfroh gewesen war und im Laufe der Zeit immer fahler wurde.
»Merkst du denn nicht, was du da tust?«, fragte Joanne Tony ein oder zwei Tage vor dem Besuch bei ihrer Mutter. »Was du nicht nur ihr antust, sondern auch dir selbst?«
Es war Morgen, Frühstückszeit, die sicherste Zeit des Tages, um eine Herausforderung zu wagen – die am wenigsten betrunkene Zeit.
»Natürlich merke ich das«, antwortete Tony rundhe-raus.
Joanne starrte ihn an, unsicher, ob sie richtig gehört hatte.
»Glaubst du, ich weiß nicht, dass ich ein Monstrum bin?«
Sie sah ihn an. »Wenn das so ist … warum?«
»Ich kann nicht anders«, sagte er, stand auf und ging zur Arbeit.
Zwei Samstage später war Joanne noch oben im Bad, während Tony Autorennen auf Channel Four schaute. Irina, die sich in einer Ecke leise eines ihrer Bibliotheks-Bilderbücher angeschaut hatte, stand auf, um sich ihr Lieblings-Stofftier zu holen, einen lila und weißen Hund, den sie zuvor auf den Boden hatte fallen lassen. Dabei stolperte sie über das lange Antennenkabel vor dem Fernseher.
»Guck doch, wo du hinläufst, du Balg!«, schrie Tony sie aus seinem Sessel an.
»Tut mir Leid, Daddy.« Das kleine Mädchen wollte aufstehen, doch einer ihrer Schuhe hatte sich unter dem Kabel verheddert, und als sie versuchte, sich zu befreien, zog sie zu fest, und das Antennenkabel flog aus der Dose.
»Verflixt!« Tony sprang auf. »Kannst du denn gar nichts richtig machen?«
»Tut Rina Leid!«, schrie das Kind vor Angst.
»Lass mich das machen«, brüllte ihr Vater sie an.
Irina sah ihn näher kommen und versuchte noch einmal panisch, ihren Fuß aus dem Kabel zu befreien, wobei es sich zur Seite schlängelte. Der Metallstecker am Ende sauste durch die Luft und schlug gegen den Fernsehbildschirm.
»Ich sagte, lass es!«, brüllte Tony.
Joanne hörte ihn von oben, erstarrte und öffnete die Badezimmertür.
»Tony?«, rief sie.
Und hörte die Schreie ihrer Tochter.
In der Notaufnahme wusste sie mit schrecklicher Gewissheit, dass die Fragen dieses Mal genauer gestellt würden, als die Dame an der Anmeldung, die Krankenschwester und später der Arzt und die Röntgenassistentin Irina und sie selbst ganz anders anschauten: forschend, misstrauisch.
»Sie ist über ein Kabel gestolpert und hat sich am Tisch und an der Wand gestoßen.«
Und ihr Vater hat sie in die Rippen getreten.
»Rina ist hingefallen.«
Die Tarngeschichte, die ihr armes, verängstigtes kleines Mädchen treu unterstützte.
Lieber Gott, mach, dass es ihr gut geht.
»Ihr Fuß ist stecken geblieben.«
Und wenn ihr auch dieses Mal nichts passiert ist, dann finde ich einen Weg, den Mistkerl aufzuhalten.
»Es ist meine Schuld, Doktor. Ich wollte das Kabel längst schon richtig befestigen.«
Wenn sie mir glauben, dann finde ich einen Weg, das schwöre ich!
»Wir warten nur noch auf die Röntgenbilder, Mrs Patston.«
Bitte, lieber Gott.
An diesem Abend hätte sie Irina beinahe nicht wieder nach Hause gebracht. Beinahe hätte sie den glücklichen Augenblick genutzt, als die Ärzte ihrem Kind Entwarnung gaben, um mit ihm zu fliehen. Beinahe wäre sie mit Irina in die Nacht gefahren, um nie mehr zurückzukehren. Beinahe hätte sie das Auto auf die Straße zur M25 gelenkt – jede Autobahn wäre Joanne in dieser Nacht recht gewesen, solange sie nur wegführte von dem Mann, der seine Tochter trat und sagte, er könne nicht anders.
Beinahe.
Gott hatte sie erhört, aber Joanne war nicht sicher, ob Er ihr damit einen so großen Gefallen getan hatte. Ganz und gar nicht sicher, ob Er Irina damit sehr geholfen hatte.
Freier Wille, Joanne.
Es war nicht Gottes Aufgabe.
Es ist deine.
Deiner Tochter zu helfen.
Doch sie fuhr nicht auf die Autobahn. Es hatte keinen Sinn. Nicht ohne genügend Bargeld und einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie hatte eine Kreditkarte und eine Geldkarte, doch Tony kontrollierte beide und würde die Karten sofort sperren lassen. Selbst wenn sie jetzt zu einem Geldautomaten ging und die größtmögliche Summe abhob – wie lange würde das Geld reichen?
Sie lenkte den Fiesta an den Straßenrand und hielt, um ihre Handtasche zu durchwühlen.
»Mami?«
Irinas schläfrige Stimme vom Rücksitz.
»Ist schon gut, Schätzchen. Schlaf weiter.«
Sie hatte ihre Karten zu Hause gelassen.
Kein Bargeld. Keine Autobahn.
Nach Hause.
Sie begann Traumbilder zu entwerfen. Von einer Flucht. Von sicheren Orten, an denen sie sich mit Irina verstecken konnte … weit entfernte Orte, wo Tony sie niemals finden würde. Sie sorgte dafür, dass Irina jede einzelne Minute des Tages an ihrer Seite blieb, selbst wenn sie auf die Toilette ging, selbst wenn Tony nicht da war, falls er plötzlich ohne Vorwarnung zurückkäme.
»Kann ich vorbeikommen?«, fragte Sandra sie eines Morgens am Telefon.
»Wir sind gerade auf dem Sprung.«
»Vielleicht können wir uns irgendwo treffen?«
»Wir machen nur ein paar Einkäufe.«
»Ich kann ja kommen, wenn ihr zurück seid.« Sandra hielt inne. »Da ich weiß, dass du sie nicht zu mir bringst … auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, warum.«
»Ich bringe sie dir bald vorbei, Mom.«
»Du tust mir damit weh, Joanne, und ich verstehe es einfach nicht.«
»Es gibt nichts zu verstehen. Ich hatte in letzter Zeit nur viel um die Ohren.«
»Natürlich«, sagte Sandra kühl.
»Ich hab dich lieb, Mom.«
»Ich habe dich auch lieb«, sagte ihre Mutter. »Und ich habe auch meine Enkelin lieb.«
»Ich weiß.«
Joanne wusste auch, dass sie ihrer Mutter wehtat, doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte zu viel Angst, dass Sandra Irina irgendwann die Wahrheit aus der Nase ziehen würde. Dieses Risiko konnte sie nicht eingehen. Sie riskierte schon genug, indem sie bei Tony blieb, und sie war nicht sicher, ob sie noch mehr Anspannung ertragen konnte. Eines Tages, wenn sie einen Weg aus dem Albtraum gefunden hatte, würde sie ihrer Mutter alles erklären müssen.
Keine Traumbilder mehr, sagte sie sich. Tu etwas.
Sie fuhr mit Irina in die South-Chingford-Bibliothek in der Hall Lane, setzte sie mit einem Buch an einen Fenstertisch, behielt sie im Auge und versuchte mit Hilfe der Broschüren, die in der Bibliothek auslagen, herauszubekommen, welchen Schutz und welche Zufluchtsorte es für Menschen wie sie gab. Von einer Telefonzelle zwei Straßen weiter rief sie die Nummer eines 24-Stunden-Krisentelefons an und sprach mit einer sehr netten ruhigen Frau, während Irina sich an ihre Beine schmiegte. Aber noch während die Frau am anderen Ende der Leitung ihr von Hilfsangeboten, sicheren Plätzen, richterlichen Verfügungen und Prozesskostenhilfe erzählte, wusste sie schon, dass dies alles für sie und Irina nicht geeignet war. Denn unter dem Strich war sie schließlich eine Kriminelle, weil sie ihr kleines Mädchen illegal ins Land gebracht hatte; sie hatte ihrem Mann dabei geholfen – hatte Beihilfe geleistet –, ihre Tochter zu kaufen.
Aber das war eine Lappalie. Tausend Mal schlimmer war es, wenn sie daneben stand, sobald er Irina schlug.
Wenn er sie trat.
Es gab keine Zuflucht für sie. Alles reine Fantasie.
Hoffnungslos.