14.
Obwohl Shad Tower wahrscheinlich einer der historisch unbedeutendsten und am wenigsten eindrucksvollen Bauten am Flussufer um Butler’s Wharf darstellte, war er zugleich – das musste Helen Shipley sich eingestehen, als sie dem Portier ihren Namen nannte – das glamouröseste Apartmenthaus, das sie je betreten hatte.
Als Robin Allbeury sie gestern Nachmittag angerufen hatte, um sie über seine Rückkehr aus Brüssel zu informieren, hatte er mit seiner tiefen, sanften Stimme zugleich angeboten, sich schon am nächsten Tag, zu einer Uhrzeit ihrer Wahl, mit ihr zu treffen. Helen hatte daraufhin ihre eigenen Pläne für den Samstagmorgen (einkaufen, Waschsalon und saugen) nur zu gern aufgegeben und sich gleich nach dem Aufstehen auf den Weg in den Süden der Stadt gemacht, wo das fünfzehnstöckige Gebäude nahe der Tower Bridge in die Höhe ragte.
Keine Vorurteile, versuchte sie sich bei ihrer Ankunft zu sagen, doch es fiel ihr schwer, in dieser marmornen, mit kostbaren Teppichen ausgelegten Lobby unvoreingenommen zu bleiben. Oder in dem fast lautlos in die Höhe gleitenden Fahrstuhl, ausgestattet mit Bildtelefonanlage und Kameras – ein Lift, der nur für die Wohnung eines Mannes da war. Ganz zu schweigen von dem Augenblick, als sie diese Wohnung betrat. Helens eigenes Apartment lag im ersten Stock eines fahrstuhllosen Hauses und wurde, wenn der Wind aus Norden kam, vom Geruch nach ranzigen Fish and Chips erfüllt; erst vor kurzem war sie dazu gekommen, das Linoleum im Badezimmer mit einem Schnäppchen aus dem örtlichen Teppich-Ausverkauf zu bedecken. Dennoch – wenn sie die Wohnungstür hinter sich schloss, umgab sie ein echtes Gefühl von Privatsphäre und Individualität.
Wie konnte jemand sich hier richtig heimisch fühlen?
»Nett von Ihnen, dass Sie den Weg hierher auf sich genommen haben.« Ein leger gekleideter Robin Allbeury erwartete sie mit ausgestreckter Hand vor dem Lift.
»Nett von Ihnen, dass Sie sich so schnell gemeldet haben.« Helen sah dem Anwalt in die Augen und wurde sich schlagartig des vergleichsweise minderwertigen Schnitts ihres Hosenanzugs bewusst, in dem sie sich zu Anfang des Tages noch ziemlich schick gefühlt hatte. Dann ließ sie den Blick bewusst zurück zu den wundervollen Blumen und den überwältigenden Kunstwerken in seiner Diele wandern.
»Nicht Ihr Geschmack«, bemerkte Allbeury scharfsinnig.
»Eine Tasse Tee wäre nach meinem Geschmack«, konterte Helen.
»Kommt sofort«, sagte der Anwalt. Dann bat er sie, in seinem Wohnzimmer Platz zu nehmen, und verschwand, offenbar, um den Tee selbst zu kochen.
»Scheiße«, flüsterte Helen vor sich hin, als sie sich im Wohnzimmer umsah.
Der Raum selbst war faszinierend möbliert; er war eine Mischung aus östlichen und europäischen Stilelementen, doch die Hauptattraktion der Wohnung war eindeutig der Blick auf den Fluss und die dahinter liegenden Stadtteile. Glastüren, die von einer Wand zur anderen reichten, öffneten sich zu einer riesigen Terrasse, und sowohl drinnen wie auch draußen standen große, dekorative Teleskope. Die Wände waren schlicht und in sanften Farben gehalten; einige waren mit großen, grazil gezeichneten Wandbehängen verziert, die chinesisch aussahen; davor standen schwarze Schleiflacktische. Auf dem Parkettboden lagen kunstvoll gewebte Teppiche, und überall standen schlanke Vasen mit Blumen, von denen Helen – die kaum eine Narzisse von einer Rose unterscheiden konnte – vermutete, es könnten Lilien oder vielleicht Orchideen sein.
»Ich hatte nur noch Teebeutel.« Robin Allbeury trug ein Tablett mit Teekanne, Tassen, Untertassen und einem Teller Gebäck herein, während Helen in einem der bequemen Sessel Platz nahm. »Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Ja.« Helen hatte eigentlich etwas Exotischeres erwartet. »Vielen Dank.«
»Es hat mir schrecklich Leid getan, von Mrs Bolsovers Tod zu erfahren.« Allbeury schenkte Tee ein und reichte Helen ihre Tasse.
»Ermordung«, korrigierte sie.
»Ja, das habe ich gehört.«
Allbeury hielt ihr den Teller mit Gebäck hin. Helen sah, dass es sich um ganz normale Löffelbiskuits und Vollkornkekse handelte – beides liebte sie –, bediente sich und wartete, dass der Anwalt sich entschuldigte, nichts Besseres im Haus zu haben. Doch er biss einfach nur in seinen Vollkornkeks und lehnte sich im Sessel zurück.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er dann.
»Indem Sie mir alles erzählen, was Sie über das Opfer wissen«, sagte Helen. »Alles, was Ihnen einfällt, ob Sie es für relevant halten oder nicht.«
Allbeury schlug die Beine übereinander. »Ich fürchte, Lynne Bolsover war schon lange ein Opfer – lange, bevor sie getötet wurde.«
»Wie lange ist es her, dass Sie ihr zum ersten Mal begegnet sind?« Helen hielt inne. »Wenn ich richtig verstehe, hat das möglicherweise nichts mit Ihrer Firma zu tun. Mr Novak sprach, glaube ich, von Ihrem ›inoffiziellen‹ Geschäft.«
»So in der Art.« Er lächelte leise. »Ich traf sie letzten August. Allerdings war ich schon einen Monat zuvor auf sie aufmerksam geworden … aufmerksam gemacht worden.« Er hielt inne. »Ich hätte nie von ihrer Existenz erfahren, hätte ich nicht einen anonymen Brief bekommen.« Er sah Helens skeptischen Gesichtsausdruck. »Ich weiß. Ich habe genauso reagiert, als ich zum ersten Mal einen Brief bekam.«
»Sie bekommen Briefe?«, fragte Helen.
»Es waren nur zwei.«
»Was stand darin?«
»Dass Lynne Bolsover eine zutiefst unglückliche Frau sei, die von ihrem Ehemann John regelmäßig geschlagen werde. Dass Lynne zwei kleine Kinder habe und ihren Mann gern verlassen würde, dass sie aber zu eingeschüchtert sei und zu sehr unterdrückt werde, um einen Ausweg zu finden.« Allbeury runzelte die Stirn bei der Erinnerung. »Und dass sie ohnehin das Gefühl hätte, ihr bliebe keine andere Wahl, weil sie selbst kein Geld besaß.«
»War der Brief handgeschrieben oder getippt?«
»Gedruckt. Mit einem Tintenstrahldrucker, Arial-Schrift auf weißem Kopierpapier. Keine Fingerabdrücke. Abgestempelt in London Mitte. Keine Möglichkeit, ihn zurückzuverfolgen – zumindest keine, auf die Mike Novak oder ich gekommen wären.« Er zuckte die Achseln. »Allerdings hatte ich mir nicht allzu viele Sorgen darüber gemacht, wer den Brief geschrieben hatte.«
»Ihre Sorge galt Lynne«, sagte Helen.
»Ja.«
»Warum?«
Allbeury neigte den Kopf leicht auf die Seite. »Ist das nicht offensichtlich? Eine Frau, die in solchen Schwierigkeiten steckte und nicht fähig war, einen Ausweg zu sehen.«
»Es gibt viele Frauen wie sie«, sagte Helen.
»Ich kann nicht allen helfen.«
»Aber einigen helfen Sie.«
»Ja.«
»Nur Frauen?«, fragte Helen.
»In meiner Eigenschaft als Anwalt tue ich mein Bestes, sowohl Männern als auch Frauen zu helfen.«
»Aber wir sprechen hier nicht von Ihrer Eigenschaft als Anwalt, nicht wahr, Mr Allbeury?«
»Nicht im Augenblick, nein.« Er hielt inne. »Ich habe den fraglichen Brief hier, Inspector, falls Sie ihn sehen oder ihn untersuchen lassen möchten.«
Helen bejahte und fragte ihn auch nach dem ersten anonymen Brief. Der habe dasselbe Format gehabt, erklärte Allbeury und bot an, ihr auch dieses Schreiben zur Verfügung zu stellen. Helen fragte, ob es in diesem Brief ebenfalls um eine unglückliche Frau gegangen sei. Allbeury bestätigte das; nachdem er gehört habe, was Lynne Bolsover zugestoßen sei, sagte er, habe er Mike Novak gebeten, Erkundigungen zur Situation dieser Person einzuholen.
»Gesund und munter, erfreulicherweise, und darüber hinaus glücklich geschieden.«
»Ohne Ihre Hilfe?«, hakte Helen nach.
»Korrekt.« Allbeury nickte. »Und um jede Neugier zu befriedigen, die vielleicht noch an Ihnen nagt: Ich hatte dieser ersten Dame ebenfalls meine Hilfe angeboten, und sie lehnte ab. Sie sagte Mike Novak, sie bräuchte meine Hilfe nicht.«
»Offenbar stimmte das«, sagte Helen.
»Ja, zu meiner großen Freude.«
»Tatsächlich?«
»Ja«, antwortete Allbeury. »Sie wollten mehr über mein Treffen mit Mrs Bolsover hören, nicht wahr?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Helen.
»Wie Sie bereits wissen«, sagte der Anwalt, »bat ich Mr Novak, den ersten Kontakt herzustellen. Vor allem, weil Mike ein sanftmütiger Mensch ist und sich besser in unterschiedliche Umgebungen einfügen kann.«
»Weil er gewöhnlicher ist als Sie«, sagte Helen in Erinnerung an den Privatdetektiv.
»Ich finde Mike ganz und gar nicht gewöhnlich«, sagte Allbeury. »Aber er sagt mir immer, dass ich an manchen Orten hervorsteche wie ein bunter Hund.«
»Sie sagten, Sie trafen Lynne Bolsover im letzten August.«
»Im McDonald’s bei der U-Bahnstation Tottenham Court Road. Ihre Wahl«, fügte er hinzu. »Es war zu voll und zu laut, also zogen wir um in einen großen Pub in der Nähe – ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern, aber das spielt keine große Rolle, nehme ich an.«
»Nicht besonders«, sagte Helen.
»Allzu viel kann ich Ihnen nicht sagen, fürchte ich«, fuhr Allbeury fort. »Mrs Bolsover war sehr nervös und wirkte bedrückt. Sie schien nicht bereit, mir zu vertrauen … oder überhaupt jemandem, erst recht nicht einem Fremden.«
»Manchmal fällt es bei Fremden leichter«, bemerkte Helen.
»Manchmal«, pflichtete Allbeury bei. »Aber leider nicht in diesem Fall.«
»Hat sie Ihnen irgendetwas über sich erzählt? Über ihre Probleme mit ihrem Mann?«
»Sie beantwortete nur meine Fragen«, sagte Allbeury. »Ich wollte wissen, ob sie Angst vor John habe, und sie sagte, ja, aber es sei nicht allzu schlimm und es gebe keinen Grund, sich um sie zu sorgen.«
»Wusste sie von dem Brief?«
»Mike Novak hatte ihr davon erzählt. Ich fragte sie, ob sie wüsste, wer ihn geschrieben haben könnte, aber sie wirkte völlig perplex, schien nicht die leiseste Ahnung zu haben.« Er hielt inne. »Ich habe herauszufinden versucht, ob ihre Situation ein Risiko für ihre Kinder darstellte, aber sie verneinte. Sie wirkte sehr entschieden, was das betraf, allerdings nicht im Hinblick auf ihre eigene Person, hatte ich den Eindruck.«
»Wenn sie nicht bereit war, Ihnen zu vertrauen«, fragte Helen, »warum war sie dann überhaupt einverstanden, sich mit Ihnen zu treffen?«
»Vielleicht«, antwortete Allbeury, »war sie gerade sehr verzweifelt, als sie dem Treffen zustimmte, fand dann aber doch alles zu beängstigend. Die Sorge, dass ihr Mann davon erfahren könnte, meine ich, nicht so sehr unser Treffen als solches.« Ihm fiel etwas ein. »Ich erinnere mich, dass sie einen Brandy wollte, sich dann aber doch für Weißwein entschied, falls er es an ihrem Atem riechen würde.«
Helen schüttelte leicht den Kopf.
»Wie ist Bolsover?«, fragte Allbeury leise. »Falls Sie mit mir darüber sprechen können.«
»Er hat sich bei den Verhören recht gut gehalten und zeigt nach wie vor Trauer und Entsetzen.« Sie hielt inne. »Ich bezweifle nicht, dass er ein gewalttätiger Tyrann ist, aber ich weiß nicht, ob er ein Mörder ist.«
Allbeury nickte. »Mrs Bolsover trank nur wenig von ihrem Wein«, sagte er dann. »Sie blieb nicht länger als fünfzehn Minuten mit mir im Pub, dann sagte sie, sie wisse gar nicht, warum sie gekommen sei. Sie dankte mir für mein Interesse, meinte aber, es gebe nichts, das ich für sie tun könnte. Dann ging sie.«
»Sie haben keinen weiteren Versuch gemacht, Kontakt zu ihr aufzunehmen?«
»Nein«, sagte er. »Ich musste ihren Wunsch respektieren. Außerdem wusste sie ja, wo sie mich finden konnte, falls sie mich noch einmal sprechen wollte.«
»Aber das hat sie nie getan.«
Allbeury schüttelte den Kopf.
»Sie sagten, Lynne Bolsover habe nervös und deprimiert auf sie gewirkt«, sagte Helen. »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Natürlich weiß ich, dass es nach einer solch kurzen Begegnung schwierig ist …«
»Ja«, sagte Allbeury. »Aber ein erster Eindruck bildet sich oft gefährlich leicht, finden Sie nicht?«
Helen war nicht sicher, ob sie bei diesen Worten leisen Spott in den warmen braunen Augen des Anwalts sah. »Welchen Eindruck hatten Sie denn von ihr?«
»Sie wirkte einsam und verzweifelt«, antwortete er.
»Fürchtete sie um ihr Leben? Soweit Sie es beurteilen können?«
»Soweit ich es beurteilen kann, nein. Sie war völlig am Boden und verängstigt, aber mehr aus Schmerz – körperlichem und emotionalem – als aus Angst, getötet zu werden.«
Helen lehnte eine zweite Tasse Tee ab, nahm sich aber noch einen Löffelbiskuit und bekam auch die zwei anonymen Briefe, die der Anwalt für sie geholt hatte, sorgfältig in eine Plastikhülle gesteckt.
»Ich nehme an, Sie brauchen meine Fingerabdrücke wegen des Ausschlussverfahrens«, sagte er. »Bitten Sie Ihre Kollegen, mich zu kontaktieren, um einen Termin zu vereinbaren?«
»Mach ich«, sagte Helen. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, sagte Allbeury.
»Wissen Sie, warum dieser anonyme Briefschreiber sich ausgerechnet an Sie gewandt hat?«, fragte Helen, während sie zum Aufzug gingen.
»Schwer zu sagen, weil ich nicht weiß, um wen es sich handelt«, sagte Allbeury.
»Offensichtlich jemand«, sagte Helen, »der von Ihrer Vorliebe weiß, unglücklichen Ehefrauen zu helfen.«
Allbeury blieb etwa fünf Meter vor dem Aufzug stehen. »Sie sind skeptisch.«
»Ein wenig, ja.«
»Vielleicht sollte ich Sie beruhigen.«
»Können Sie das?«
Sein Lächeln war bedauernd. »Ich kann Ihnen sagen, dass ich tatsächlich nichts weiter getan habe, als mehreren Frauen meinen juristischen Rat zur Verfügung zu stellen, kostenlos und ohne die bürokratischen Hindernisse der öffentlichen Rechtshilfe.«
»Und das ist wirklich alles, was Sie diesen Frauen anbieten?«, fragte Helen leise.
Allbeury trat vor und drückte auf einen Knopf neben der Fahrstuhltür. Die Tür glitt nahezu geräuschlos auf.
»Was sollte da sonst noch sein?«, fragte er mit einem Lächeln.
Helen hatte Ally King bereits gebeten, sowohl Allbeury als auch Novak durch HOLMES laufen zu lassen, die Datenbank des Innenministeriums, doch es hatte sich nichts ergeben, das einen der beiden Männer mit einem aktenkundigen Verbrechen in Verbindung brachte. Der eine war ein erfolgreicher, auf seinem Gebiet sehr angesehener Mann, der andere weniger auffallend, und keiner der beiden war vorbestraft.
Helen hielt Mike Novak für ein ebenso offenes Buch, wie wohl jeder Privatdetektiv es war. Er war nur zwei Jahre lang Polizist bei der Metropolitan Police gewesen, und seine Akte war tadellos, wenn auch mit der Bemerkung versehen, dass Novak zwar engagiert und intelligent, aber auch allzu kritisch der Bürokratie gegenüber und manchmal übermäßig sensibel war – was genau mit dem Eindruck übereinstimmte, den Novak Helen bei ihrer kurzen Begegnung vermittelt hatte: offen, hilfsbereit, entsetzt über Lynne Bolsovers Tod – und glücklich verliebt in seine Frau Clare.
Robin Allbeury verwirrte sie weit mehr. Seine Ausbildung und Karriere waren ausführlich dokumentiert, doch der Rest lag ziemlich im Dunkeln. Er war zweiundvierzig Jahre alt und nie verheiratet gewesen, aber mit ziemlicher Sicherheit heterosexuell. Anfang der Neunziger war er häufig mit Frauen gesehen worden – zum Teil nachzulesen in der Boulevardpresse, denn er hatte in dieser Zeit diverse High-Society-Scheidungsfälle vertreten und einige Bekanntheit erlangt. Die Damen an seiner Seite, stellte Helen fest, waren keine dekorativen Püppchen gewesen, sondern Frauen, die attraktiv, erfolgreich und meistens unabhängig waren. Abgesehen davon schien Allbeury sein Leben nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. Er legte Wert auf seine Privatsphäre und war in der Lage, dafür tief in die Tasche zu greifen.
»Allem Anschein nach«, sagte sie am Montag nach ihrem Termin im Shad Tower zu Ally King, »gibt es also nur zwei Männer, die von der schrecklichen Ehe dieser Frau wussten … die darauf aufmerksam gemacht wurden und versucht haben, ihr zu helfen, wenn auch vergeblich.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich lag es nicht an ihnen. Eine ungewöhnliche, merkwürdige Verbindung, aber sie sind höchstwahrscheinlich unschuldig.«
»Es gibt noch nichts von der Spurensicherung wegen der Briefe«, sagte King. »Aber ich hake noch mal nach.«
»Danke.«
Als Constable King gegangen war, konzentrierte Helen ihre Gedanken wieder auf John Bolsover. Er war drei Jahre älter als seine Frau und sein Haar so kurz geschoren, dass die mausbraune Farbe fast nicht zu erkennen war. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war er ein körperlich starker Mann, übergewichtig, aber muskulös; er hatte den Namen seiner Frau auf den linken Arm tätowiert, und an beiden Schläfen traten dicke Adern hervor. Ein Mann, den Helen sich mühelos in rasender Wut vorstellen konnte, ein Mann, den sie nur allzu leicht verabscheuen könnte, selbst wenn sie von seiner Vorliebe für das Schlagen und das Schikanieren seiner Frau nichts gewusst hätte.
Das war genau die Art Voreingenommenheit, vor der eine Kriminalbeamtin sich hüten musste, wenn sie in einem Mordfall ermittelte. Doch nicht nur aus diesem Grund war Helen noch nicht bereit, Bolsover offiziell des Mordes zu beschuldigen. Es war auch eine Sache des Instinkts.
Irgendetwas stimmte nicht bei diesem Fall, sagte Helens Bauchgefühl. Es gab noch vieles, das sie herausfinden musste. Vielleicht fehlte ihr der rauchende Colt, mit dem sie Bolsover den Weg zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe bereiten konnte. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes. So oder so, sie war einfach noch nicht bereit, sich mit einer Behelfslösung zufrieden zu geben.
Auch wenn sie Ally King eben das Gegenteil gesagt hatte – ihre Gedanken kreisten immer noch unaufhörlich um Robin Allbeury, und sie hoffte mit kritischer Selbstanalyse, dass es nichts damit zu tun hatte, dass er ein außergewöhnlicher und attraktiver Mann war.
Denn ihr Leben war jetzt schon sehr lange ohne interessante Männer gewesen, überhaupt ohne Männer. Und sie war schließlich nur eine Frau.
Aber sie glaubte nicht, dass es das war.
Was war es dann?