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Karlsson nahm ein warmes Pfefferminzbonbon aus seiner Jackentasche und wickelte es aus dem Papier.
»Was ich glaube?«, sagte er und schob das Bonbon in den Mund. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Annas Mutter Eriks Haus betreten hat, als ich es verließ. Ich dachte noch, was für eine gut aussehende Frau.«
»Mit siebenundsechzig?«
»So etwas sieht man an den Augen.«
Der Fahrstuhl blieb im obersten Stockwerk stehen, und Karlsson und sein Kollege mit dem Spitznamen Gerda stiegen aus. Karlsson hielt den Klingelknopf gedrückt. Erik Månsson öffnete. Als er Karlsson sah, ließ er ergeben die Schultern hängen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
Karlsson lächelte ihn an.
»Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Ich habe mich dieser Irren nicht genähert. Ich habe sie nicht angerufen, ihr keine SMS geschickt und auch sonst nichts getan.«
»Immer mit der Ruhe. Das wissen wir.«
»Ihre Mutter war auch schon hier«, sagte Erik. »Sie kam direkt nach Ihnen. Dasselbe Lied. Nicht ich verfolge Anna Stenberg, sondern sie verfolgt mich. Sie verleumdet mich. Das ist vollkommen bizarr.«
»Dürfen wir reinkommen?«
Widerwillig hielt Erik die Tür auf.
»Das ist mein Kollege.«
Gerda streckte die Hand aus und begrüßte Erik.
»Haben Sie Umzugspläne?«, fragte er und deutete auf die Umzugskartons, die an der Wand standen.
»Ich bin ernsthaft am Überlegen«, sagte Erik. »Diese Stadt ist nicht sehr einladend.«
Karlsson sah ihn an.
»Anna Stenbergs Mutter war also hier?«, sagte er.
»Ja«, sagte Erik. »Sie kam sofort nach Ihnen. Wieso?«
Karlsson zuckte mit den Achseln.
»Sie hat eine Weile nicht von sich hören lassen. Was wollte sie von Ihnen?«
»Das Gleiche wie Sie. Sie lag mir damit in den Ohren, ich solle ihre Tochter in Frieden lassen.«
Erik holte tief Luft.
»Wie können Sie ihr überhaupt nur zuhören? Begreifen Sie denn nicht, dass ich das Opfer bin? Anna Stenberg ist besessen. Mal ehrlich! Was will man schon mit einer wie der? Stimmt, wir haben in Mölle eine Nacht zusammen verbracht und ein paar Nachmittage hier in der Wohnung. Es war dumm von mir, unsere Begegnung zu filmen, aber ich habe den Film ja wieder gelöscht.«
»Dürfte ich kurz Ihre Toilette benutzen?«, fragte Gerda.
Erik deutete auf die entsprechende Tür.
»Wie lange war Annas Mutter hier?«, fragte Karlsson und zwang ihn zu dem unbehaglichen Thema zurück.
»Ich weiß nicht. Eine Viertelstunde, vielleicht auch eine halbe? Wieso? Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber sie wollte mir nicht zuhören. Sie stand voll und ganz hinter ihrer Tochter.«
»Wurden Sie zornig?«
»Zornig? Nein. Das kann ich nicht behaupten. Aber es ist nicht sonderlich spaßig, so beschuldigt zu werden, erst von der Polizei und dann von jemand, dem man noch nie begegnet ist.«
»Sie haben also diskutiert?«, fragte Karlsson.
»So würde ich es nicht nennen. Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich den Film im Internet verbreite oder so. Aber auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Die Wahrheit ist, dass Anna ihrem trostlosen Vorortleben mit einer Affäre etwas Pfiff verleihen wollte. Dann hat sie versucht, sich interessant zu machen, indem sie mich als verrückten Stalker hinstellt. Lasst mich einfach in Ruhe, sage ich nur.«
Karlsson nickte eifrig und musterte Erik interessiert.
»Ihrer Meinung nach erfindet sie das alles nur?«, fragte er.
»Ja. Zumindest verdreht sie alles. Ich bin in diesem Zusammenhang nicht die Person, die verrückt ist.«
Gerda kam aus der Toilette.
»Das tat gut«, sagte er und sah sich in der übrigen Wohnung um. »Es riecht ziemlich penetrant nach Chlorreiniger im Bad. Haben Sie Kleider entfärbt?«
»Was? Ja.«
Karlsson meldete sich wieder zu Wort.
»Hat Kathrine gesagt, was sie vorhatte, nachdem sie bei Ihnen war?«
»Warum hätte sie das tun sollen?«
»Sie wissen also nicht, wie lange sie hier war?«
»Das habe ich doch gesagt.«
»Wenn Sie die Zeit ungefähr schätzen sollten, waren es dann fünfzehn oder eher dreißig Minuten?«
»Keine Ahnung. Vielleicht war es auch länger.«
»Vielleicht sogar eine Stunde?«
»Ich weiß nicht, ich habe nur versucht, entgegenkommend zu sein.«
»Aber mehr als eine Stunde war es also nicht?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Wieso?«
»Schöne Wohnung«, rief Gerda unnötig laut. Er stand am Fenster und bewunderte die Aussicht.
Erik drehte sich zu ihm um, holte tief Luft, um etwas zu sagen, fand aber keine Worte.
»Könnte interessant sein, die genauen Zeiten mit den Daten von Kathrines Handy zu vergleichen«, fuhr Karlsson fort.
»Was für Daten?«
»Man kann sehen, wo sie war, als sie SMS geschickt und telefoniert hat.«
»Wieso? Ist sie verschwunden?«
Erik blinzelte und schluckte, was Karlsson nicht entging.
»Das sagte ich bereits«, erwiderte er und lächelte.
»Ich verstehe nicht …«
»Warum, glauben Sie, dass wir hier sind? Wir rekonstruieren, was sie vor ihrem Verschwinden getan hat.«
»Vielleicht ist sie ja ins Ausland gefahren?«
Karlsson nickte.
»Guter Gedanke. Das wäre durchaus vorstellbar. Auf der anderen Seite des Sunds kommt ja gleich Dänemark. Vielleicht ist sie ja dort …«
Erik trat von einem Fuß auf den anderen.
»Es hat jemand angerufen, als sie hier war, sie hat den Anruf aber nicht entgegengenommen. Offenbar eine Person, mit der sie nicht sprechen wollte.«
Karlsson lächelte Erik an. Das waren erstaunlich viele Informationen, nach denen er gar nicht gefragt hatte. Erik wurde unsicher.
»Ich meine, wenn sie jetzt weg ist, fühlte sie sich vielleicht bedroht?«
Karlsson sah Erik wie bei ihrer ersten Begegnung intensiv in die Augen. Gerda schlich von hinten an Erik heran und streckte seine Hand zum Abschied aus. Erik übersah sie geflissentlich.
»Wir sehen uns sicher bald wieder«, verabschiedete sich Karlsson.