29
Anna stellte ihre Tasche auf den Schreibtisch und ging in die Küche. Ihre Hand zitterte, als sie sich Kaffee eingoss. Als sie wieder an ihren Platz zurückkehrte, tat sie so, als würde sie Sisselas prüfenden Blick nicht wahrnehmen.
»Verkatert?«
»Nein, ich habe schlecht geschlafen und praktisch die ganze Nacht wach gelegen.«
»Warum das?«
»Weiß nicht.«
»Oje, furchtbar. Ich hatte vor einem halben Jahr auch so eine Phase. Ich wäre fast verrückt geworden. Das ist wie ein Teufelskreis. Hast du mal probiert, den ganzen Körper anzuspannen? Ich meine, jeden Muskel. Dann hält man die Spannung ein paar Sekunden und lässt wieder locker. Das hilft.«
»Sissela …«
»Entschuldige, ich wollte dir nur helfen.«
Anna schaltete ihren Computer ein, stellte ihre Tasche neben sich auf den Fußboden und blätterte in dem Stapel ausgedruckter Reportagen auf ihrem Schreibtisch. Sie redigierte immer zuerst auf Papier, dann gab sie die Änderungen am Computer ein. Anschließend druckte sie alles noch einmal aus und fand immer noch irgendwelche Kleinigkeiten. Redigieren dauerte ewig, es gab keinen Text auf der Welt, der sich nicht besser oder straffer formulieren ließ.
Die Artikel auf dem Tisch waren im Großen und Ganzen fertig, nur die Überschriften mussten noch zugespitzt werden, als Trude in die Redaktion gerauscht kam, strahlend schön wie immer. Anna fiel das besonders an Montagen auf, wenn sie ihre Kollegin ein ganzes Wochenende nicht gesehen hatte. Bis Mittwoch hatte sie sich wieder daran gewöhnt, und wenn sie sich freitags trennten, nahm sie es gar nicht mehr wahr.
»Nimm dich vor Anna in Acht«, sagte Sissela. »Sie hat schlecht geschlafen.«
»Wie kommt’s?«, wollte Trude wissen.
Anna zuckte mit den Schultern.
»Nichts Besonderes, ich konnte einfach nicht mehr einschlafen.«
»Hast du keine Schlaftabletten?«
»Ich nehme nie welche, weil ich anschließend immer so k. o. bin.«
»Und wie fit bist du, wenn du nicht geschlafen hast?«
Anna nippte an ihrem Kaffee und öffnete die zu bearbeitende Datei. Sie markierte die Überschrift und blätterte in den Ausdrucken auf der Suche nach etwas Verwendbarem.
»Ich onaniere«, meinte Trude. »Das funktioniert in der Regel.«
»Das macht einen doch nur noch wacher«, meinte Sissela.
»Nicht, wenn man es schnell macht. Ich komme, gähne noch einmal ausgiebig und bin weg. Wie mit dem Holzhammer.«
Anna hörte nicht zu. Sie hielt den Manuskriptstapel in der Hand und tat so, als würde sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, dabei verschwamm der Text vor ihren Augen.
Sie hatte Angst vor dem, was ihr bevorstand. Die große Enthüllung, die Abrechnung. Wie würde es danach weitergehen? Was würde aus ihrer Ehe werden? Würde Lukas bei ihr bleiben? Wenn nicht, wie würden sie dann all die praktischen Fragen lösen? Ihr jetziges Leben war nur mit zwei Gehältern möglich, der finanzielle Spielraum war klein. Und der Gedanke, Hedda vielleicht nur jede zweite Woche bei sich zu haben, war unerträglich. Sie wollte sich einen Alltag ohne ihre Tochter gar nicht erst vorstellen. Fast wünschte Anna sich, dass Lukas eine entsprechende Dummheit beginge, damit sie quitt waren. Doch das würde nicht passieren. Ihr Mann war kein Schürzenjäger, und seine Libido nicht zügellos. Er war ein glücklicher Märtyrer, der das Recht auf seiner Seite hatte.
»Das muss ich das nächste Mal ausprobieren«, meinte Sissela. »Vielleicht hilft das ja besser als meine Muskelan- und -entspannungsübungen.«
Anna langte in ihre Tasche und überprüfte ihr Handy, ohne es herauszunehmen. Keine SMS, kein Anruf. Immerhin hatte Erik nach diesem wahnsinnigen Anruf vom Vortag nicht mehr versucht, sie zu erreichen.
Wenn er nun wirklich verrückt war? Warum hatte er sich dann ausgerechnet sie ausgesucht? Natürlich war es fantastisch gewesen, aber doch nichts Ernstes, eine zufällige Begegnung, eine einmalige Ausnahme, die mit dem Alltag nichts zu tun hatte. Warum konnte er sich damit nicht zufriedengeben?
Er war in Laröd an der Bushaltestelle aufgetaucht und hatte behauptet, er hätte einen Freund besucht. Wie hieß dieser Freund noch gleich? Ein häufiger Name, Andersson. Johan Andersson.
Sie öffnete das Online-Telefonbuch und gab den Namen und Helsingborg ein. Ein Dutzend Treffer, keiner in Hittarp oder Laröd. Ihr Puls beschleunigte sich, als ihr einfiel, dass der Telefonanschluss natürlich auch auf den Namen der Frau laufen konnte. Sie gab nur Andersson ins Suchfeld ein. Über zweitausend Treffer, zu viele, um sie alle durchzusehen. Außerdem war gar nicht gesagt, dass sie verheiratet waren, und selbst wenn, musste sie ja nicht unbedingt seinen Namen angenommen haben.
»Nein«, sagte sie laut, als wollte sie sich ermahnen, der Sache nicht weiter nachzugehen.
»Nein, was?«, fragte Sissela.
Anna fuchtelte mit der Rechten.
»Nichts, ich habe nur laut gedacht.«
Sie betrachtete die Ausdrucke und tat so, als würde sie lesen.
»Was geschieht jetzt eigentlich mit den Werbefritzen?«, fragte Trude.
Anna blickte auf und stellte fest, dass die Frage an Sissela gerichtet war.
»Wie meinst du das?«
»Wird da was draus? Aus ihrer Kampagne?«
»Ach richtig, stimmt. Ich muss ihnen noch Bescheid geben. Nein, ich fand die Präsentation nicht sehr überzeugend.«
Trude zuckte mit den Achseln. Sissela wandte sich an Anna.
»Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht.«
Sissela verzog das Gesicht.
»Ich weiß nicht?«, wiederholte sie. »Komm schon, sag, was du denkst.«
»So katastrophal war es auch wieder nicht«, meinte Anna.
»Aber?«
»Ich denke nur, dass sie sich die falsche Strategie ausgedacht haben.«
»Gut«, meinte Sissela, »dann sind wir uns einig.«