22
»Du brauchst mich nicht abzuholen«, sagte Kathrine. »Ich nehme den Bus.«
»Nein, Mama, ich hole dich ab«, sagte Anna, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, weil sie gerade den Kühlschrank einräumte. »Ich muss ohnehin was in Väla besorgen.«
»Das musst du dann aber vorher erledigen«, sagte ihre Mutter. »Da setze ich keinen Fuß rein.«
Anna musste fast lachen.
»Was hast du nur gegen das Einkaufszentrum?«
»Es ist furchtbar da.«
»Ich wollte aber noch in den Weinladen dort.«
»Warum gehst du nicht in den Weinladen in der Drottninggatan?«
»Da findet man nie einen Parkplatz.«
»Ich bleibe im Auto sitzen.«
»Okay. Dann hole ich dich zuerst ab.«
Anna legte auf und sah, dass ihre Tochter das Gespräch belauscht hatte.
»Ich will mitkommen und Oma abholen.«
»Nein, Liebling. Heute nicht.«
»Aber ich will nach Väla.«
»Wir fahren aber nicht nach Väla.«
»Das hast du aber gesagt.«
»Oma will da nicht hin, also fahre ich zu einem anderen Weinladen. Wir beide können ja morgen Nachmittag nach Väla fahren. Jetzt ist zu wenig Zeit.«
Hedda seufzte enttäuscht, fügte sich aber in ihr Schicksal. Anna zog ihre Jacke an und ging zum Auto. Sie klopfte ans Badezimmerfenster, das gekippt war, damit der Wasserdampf entweichen konnte.
»Ich fahre und hole Mama ab«, rief sie.
»Okay«, antwortete Lukas, der in der Dusche stand.
Anna setzte sich ins Auto und fuhr rückwärts von der Einfahrt. Langsam fuhr sie durch das Wohnviertel und hob gelegentlich die Hand, um jemanden zu grüßen.
Kathrine wartete vor ihrem Haus in der Kopparmöllegatan. Sie stieg ein und küsste Anna auf die Wange.
»Hallo.«
»Ich verstehe wirklich nicht, was du gegen Väla hast.«
Kathrine schüttelte sich.
»Das Shoppingcenter ist ein Mekka der Hässlichkeit. Ich weigere mich, da reinzugehen. Väla hat die Stadt kaputt gemacht. Bald haben wir hier amerikanische Zustände. Große Parkplätze, Tristesse und übergewichtige Menschen.«
»Ja, Mama«, sagte Anna belustigt.
Sie fuhr durch die engen Straßen Richtung Stadt, hielt in einer Ladezone und schaltete den Kultur-Sender ein, damit ihre Mutter sich nicht langweilte. Als sie zurückkam, klang Hip-Hop aus den Lautsprechern.
Anna sah sie an.
»Das machst du nur, um mich zu ärgern.«
Kathrine wiegte den Kopf im Takt der Bässe und schaltete dann aus.
»Okay«, sagte sie. »Lass hören.«
»Was?«, erwiderte Anna.
»Was du auf dem Herzen hast.«
Anna zog den Kopf ein und lächelte unschuldig.
»Was meinst du?«
»Du bestehst darauf, mich abzuholen. Hedda ist nicht dabei. Du willst reden. Was ist los?«
Anna schaute nach vorne, Kathrine legte eine Hand auf ihren Arm.
»Ich mag Lukas«, sagte sie. »Das tue ich wirklich. Aber du bist meine Tochter.«
Zehn Minuten später hatte ihr Anna eine geschönte Version erzählt, in der sie Eriks Lüge über seine Mutter, die Filmerei mit der Handykamera und das zerschmetterte Glas ausgelassen hatte. Sie hatte von dem Kuss vor der Toilette erzählt, der darauf folgenden Begegnung im Zimmer, dem Ausflug auf den Kullaberg und den zwei Treffen in seiner Wohnung.
»Ich dachte schon, es sei was Ernstes«, fasste Kathrine zusammen.
»Wie meinst du das?«
»Ich hab befürchtet, dass ihr euch scheiden lassen wollt.«
»Warum sollten wir uns scheiden lassen?«
Kathrine zuckte mit den Achseln.
»Das kommt vor. Das Vorortleben gibt vielen den Rest. Plötzlich zieht die Jugendliebe ins Nachbarhaus, und man begibt sich auf eine Zeitreise in die Ära, als alles jung, unbeschwert, kinderlos und unkompliziert war. Deine Geschichte klingt wunderbar, mal abgesehen davon, dass er offenbar nicht ganz dicht ist. Urschrei übers Meer, also wirklich, da ist die Grenze.«
»Du findest also, dass ich Lukas nichts erzählen sollte?«
»Auf keinen Fall. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Glaubst du etwa, du wärst die erste Ehefrau, die über die Stränge schlägt? Freu dich, dass es ein positives Erlebnis war.«
»Er will mich wiedersehen«, sagte Anna.
»Und was willst du?«
Anna dachte nach.
»Ich will das nicht.«
»Du wirkst unentschlossen.«
»Nein, nicht wirklich.«
Kathrine nickte zustimmend.
»Das klingt vernünftig«, meinte sie. »Freu dich über das, was war. Es bringt nichts, wenn es ernst wird.«
»Aber …«
»Ja?«
»Also rein …«
»Sexuell?«, fragte Kathrine.
Anna nickte. Ihre Mutter lachte und klopfte ihr aufs Knie.
»Wie hieß er noch gleich?«
»Erik Månsson.«
Kathrine schaute nach vorn.