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Anna sah ihre Tochter an, die mit einem angebissenen Brot am Küchentisch saß und in ein Buch schaute.
»Beeil dich, Liebling. Papa fährt mich nach Mölle, und ich will nicht zu spät kommen.«
Hedda riss sich von ihrem Buch los und schaute auf die Küchenuhr.
»Aber dann komme ich zu früh.«
»Nein, tust du nicht.«
»Doch.«
»Höchstens zehn Minuten«, meinte Anna. »Das ist doch nicht schlimm. Dann kannst du die Hausaufgaben noch einmal durchgehen.«
»Nicht nötig«, erwiderte Hedda.
»Wenn du gefahren werden willst, musst du dich nach uns richten. So einfach ist das.«
»Dann nehme ich eben das Fahrrad.«
»Okay.«
»Wart mal, das geht nicht. Die Reifen sind nicht aufgepumpt.«
Lukas kam aus dem Schlafzimmer. Er knöpfte das Hemd zu. Es spannte über dem Bauch.
»Was?«, sagte er.
Anna schüttelte den Kopf.
»Nichts. Ich habe nur zu Hedda gesagt, dass sie sich ranhalten soll, wenn sie mitfahren will.«
»So eilig ist es doch nicht. Wir sind in einer Viertelstunde dort.«
»Genau«, meinte Hedda, die keine Ahnung hatte.
»Es dauert mindestens eine halbe Stunde«, sagte Anna.
Lukas runzelte die Stirn.
»Wirklich?«
»Ja. Bis Höganäs braucht man ja schon eine Viertelstunde.«
Lukas gab nach. Morgens war immer er der Nachgiebige. Abends waren die Rollen umgekehrt. Das war einer der Gründe, warum bei ihnen alles so gut funktionierte.
»Okay«, sagte er und wandte sich an Hedda. »Mädchen, hör jetzt auf Mama.«
»Schon gut.«
Hedda stöhnte übertrieben genervt und verließ mit dem Brot in der Hand den Tisch. Zehn Minuten später wurde sie vor der Schule abgesetzt.
»Dann bis morgen«, sagte Anna.
»Wieso? Übernachtest du da?«
»Nur eine Nacht. Morgen bin ich wieder zu Hause. Du kannst es dir heute Abend mit Papa gemütlich machen.«
»Ja, ja. Tschüs.«
»Tschüs, Liebling. Ich rufe dich dann an, um gute Nacht zu sagen.«
Hedda schlug die Autotür zu und ging auf die Schule zu. Amüsiert folgten sie ihr mit dem Blick, dann legte Lukas den ersten Gang ein und fuhr an.
Es war nicht viel Verkehr. Die meisten Autos waren in entgegengesetzter Richtung unterwegs, von den nördlichen Villenvororten an der Küste Richtung Helsingborg. Anna wechselte zu einem Nachrichtensender und schaute aufs Meer, das sich unterhalb von Christinelund ausbreitete. Die Aussicht war an diesem Tag nicht sonderlich aufregend. Der Himmel war grauweiß, die Erde braun. Farbloser, schonischer Winter im Endlosmonat November.
»Kommt die ganze Redaktion?«, fragte Lukas.
»Nein, nur Trude und Sissela.«
»Wie geht es ihr?«
»Wem? Sissela? Gut. Warum?«
»Ist sie immer noch verliebt?«
Anna sah ihn verständnislos an.
»Hatte sie nicht einen neuen Lover?«
»Das ist schon Jahre her. Aus und vorbei.«
»Sieh mal einer an«, meinte Lukas ironisch.
Er hatte für die Chefin seiner Frau nicht viel übrig, hielt sie für krankhaft egozentrisch.
»Jetzt ist sie also wieder Single?«, fragte er und bemühte sich, nicht zu abschätzig zu klingen.
Anna schüttelte den Kopf.
»Sie ist wieder mit ihrem Mann zusammen.«
»Soso.«
»Ein bisschen Türenknallen, dann war alles wieder gut.«
»Menschenskind«, meinte Lukas und seufzte.
Anna sah ihn an.
»Was?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Hätte sie die Affäre nicht für sich behalten können? Wieso musste sie ihren Mann damit belasten? Wer Mist baut, soll gefälligst selbst die Konsequenzen tragen, mehr sage ich gar nicht. Es dann noch dem armen Betrogenen aufzubürden, das ist nicht okay.«
»Nein«, meinte Anna. »Vielleicht nicht.«
»Schamlos ist das«, konstatierte Lukas. »Richtige Chefinnenallüren.«
»Ich glaube, sie ist rastlos. Es muss immer was los sein. Drama um des Dramas willen.«
»Wenn du über die Stränge schlägst, will ich es nicht wissen.«
»Keine Sorge, das wäre mir viel zu anstrengend.«
Lukas lachte.
»Zu anstrengend?«
»Zu kompliziert und lästig. Nein, das ist wirklich nicht mein Ding. Außerdem riechst du gut.«
»Sieh da, auch ein Vorzug. Vielleicht sollte ich das in meinem Lebenslauf erwähnen.«
»Vielleicht. Wir haben übrigens einen Neuen in der Anzeigenabteilung«, meinte Anna und schüttelte sich innerlich. »Der riecht wie ein Hund aus dem Maul. Ammoniak. Dummerweise rückt er einem immer fürchterlich auf die Pelle, wenn er mit einem redet. Aber er ist wahnsinnig gut drauf und nett. Also: Lächeln und Luft anhalten.«
»Du solltest ihn darauf aufmerksam machen.«
»Ja, vielleicht«, meinte Anna und schluckte.
Sie nahmen die neue Straße über Viken und mussten erst vom Gas runter, als sie Höganäs erreichten.
»Das Auto«, sagte Lukas und schreckte Anna aus ihren Gedanken auf.
Anna sah ihn verständnislos an, woraufhin er mit den Achseln zuckte.
»Meinst du nicht, es wäre mal wieder Zeit für ein neues?«
»Wieso das?«
»Es hat jetzt achtzigtausend auf dem Tacho. Bald sind die ersten Reparaturen fällig. Das wäre sicher nicht das Dümmste.«
»Und das Dach?«, fragte Anna.
Lukas setzte sich anders hin.
»Das hat doch keine Eile.«
»Nicht?«
»Wir haben es schließlich abgedichtet. Seitdem hat es nicht mehr reingeregnet.«
»Die Dachpappe ist schon über zwanzig Jahre alt. Bitte, Lukas, fang nicht wieder davon an.«
»Wir haben den ältesten Wagen in der ganzen Straße«, meinte er mit einem vorwurfsvollen Blick in ihre Richtung.
»Und?«
Anna betrachtete ihn mit hochgezogenen Brauen.
»Ich meine ja nur«, sagte Lukas.
»Du meinst was? Dass wir auf ein neues Dach verzichten sollen, damit wir uns für unser knapp vier Jahre altes Auto nicht mehr schämen müssen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Sowohl als auch geht nicht.«
»Ich sage nur, dass es nicht eilig ist. Das Dach ist dicht.«
»Einstweilen.«
»Wir haben es letzten Sommer repariert«, sagte Lukas. »So schnell sickert da nichts durch.«
Anna holte tief Luft und schloss die Augen.
»Was?«, sagte Lukas unsicher.
»Das Auto funktioniert einwandfrei, es …«
»Noch, ja.«
»… besteht keine Veranlassung, einen neuen Wagen zu kaufen, höchstens, um mit den Nachbarn gleichzuziehen. Und dieser Unsinn steht mir wirklich bis zum Hals.«
Lukas schwieg. Anna hoffte, das Thema sei damit abgehakt, doch vergebens.
»Er läuft zufriedenstellend, weil er relativ neu ist«, sagte er trotzig. »Deswegen würden wir auch noch einigermaßen viel bekommen, wenn wir ihn in Zahlung geben. Je länger wir warten, desto mehr verliert er an Wert. Ihn zu behalten ist ein schlechtes Geschäft.«
»Inwiefern?«
»Was meinst du mit inwiefern? So ist das einfach. Will man noch was für seinen alten Wagen bekommen, darf er nicht zu alt sein, das ist nun einmal so.«
»Merkst du eigentlich gar nicht, was für einen Blödsinn du redest?«
»Du willst es wohl einfach nicht kapieren«, meinte Lukas und legte hitzig den nächsten Gang ein. »Du hältst es für wirtschaftlich, zu flicken und zu reparieren. Aber das gilt nicht für alles. Manchmal muss man …«
»Das Auto funktioniert einwandfrei. Mir will nicht in den Kopf, dass ich Geld spare, indem ich ein neues kaufe. Erklär mir, was daran sinnvoll sein soll, ein einwandfreies Auto auszutauschen, statt unser zwanzig Jahre altes Dach zu reparieren.«
Lukas schüttelte den Kopf.
»Du hörst mir ja doch nicht zu«, erwiderte er eingeschnappt.
»Lukas, ich höre dir zu. Aber der Teufel soll mich holen, wenn …«
Sie schwiegen.
»Und? Wie geht es Trude?«, fragte Lukas, als sie an Schloss Krapperup vorbeifuhren.
»Bestens.«
»Die zweitschönste Frau der Welt.«
Anna sah ihren Mann an. Auch wenn sie sich gelegentlich in die Haare gerieten, dauerte es nie lange, bis sie sich wieder versöhnten.
»Du bist süß«, sagte Anna und legte Lukas eine Hand zwischen die Beine. »Zweitschönste …«
»Bitte, nicht, während ich fahre.«
»Okay.«
Sie betrachtete ihn amüsiert.
»Ich dachte, es gefällt dir, wenn ich dich anfasse.«
»Sex beim Fahren überlassen wir doch lieber den Teenagern. Aber ich könnte doch irgendwo halten, und wir …«
»Gerne, wenn wir etwas mehr Zeit hätten«, erwiderte Anna.
Sie schaute aus dem Seitenfenster. Den Rest des Weges schwiegen sie.
»Fast eine halbe Stunde«, stellte Anna mit einem Blick auf die Armbanduhr fest, als Lukas vor dem Hotel hielt.
»Viel Spaß, Liebling.«
Sie beugte sich vor und küsste Lukas auf den Mund.
»Dir auch. Wir telefonieren heute Abend.«