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Anna nahm weit hinten im Bus Platz und holte ihr Handy aus der Tasche. Keine verpassten Anrufe. Erik hatte nicht zurückgerufen. Sie hatte zwar gesagt, dass sie es noch einmal probieren würde, aber vielleicht wäre es ratsam, das zu unterlassen. Lieber keine schlafenden Hunde wecken.
Anna schämte sich. Mit ihrem Vorwurf, er stelle ihr nach, hatte sie seine Eitelkeit verletzt. Anstatt ihn sofort abzuweisen, hatte sie mit Erik Månsson geschlafen, und das nicht nur einmal, sondern dreimal. Viermal, genau genommen, wenn man den Quickie im Auto oben auf dem Berg mitzählte.
Wie sollte sie Erik nur klarmachen, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm wünschte, ohne ihn dabei zu kränken?
Als der Bus am Sofiero Slott hielt, war Anna zu dem Entschluss gelangt, den Stier bei den Hörnern zu packen. Der Spaziergang von fünfzehn Minuten würde ihr genügend Zeit geben, sich zu sammeln.
Sie stieg aus, nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte Eriks Nummer. Es klingelte. Einmal, ein zweites Mal. Beim dritten Klingeln antwortete Erik.
»Ja?«
Seine Stimme klang gereizt, als störe sie ihn gerade bei irgendwas. Im Hintergrund war ein Rauschen zu hören.
»Hallo, ich bin’s.«
»Ich kann gerade nicht reden. Ich bin im Auto unterwegs.«
Anna kam sich lächerlich vor. Wie rasch sich doch die Machtverhältnisse verschieben konnten. Das war fast unheimlich.
»Natürlich, ich …«
»Ruf mich in einer Stunde an.«
Stille.
»Hallo? Erik?«
Anna schaute auf das Display. Das Gespräch war unterbrochen. Hatte er einfach aufgelegt? Sie öffnete die Gesprächsliste, um seine Nummer zu löschen, als ein lautes Hupen sie aufschreckte.
Sie drehte sich um und sah ihr eigenes Auto. Ihr Blick fiel automatisch auf den Beifahrersitz, weil sie erwartete, dort Hedda zu sehen. Stattdessen saß dort ihr Ehemann und winkte fröhlich. Sie schaute auf die Fahrerseite.
Erik Månsson lächelte sie an.
Ihr Mann ließ das Seitenfenster herunter.
»Hallo, Liebling! Was machst du denn hier?«
»Was? Ich? Ich bin nur etwas früher aus dem Bus ausgestiegen, weil ich einen Spaziergang machen wollte. Bei dem schönen Wetter, ich …«
»Das ist Erik«, sagte Lukas und lehnte sich zurück.
Erik beugte sich über die Gangschaltung und hob die Hand.
»Hallo!«
»Er ist an dem Wagen interessiert«, erklärte Lukas. »Wir machen gerade eine Probefahrt.«
Anna nickte schweigend. Sie bekam kein Wort über die Lippen. Ob Lukas gesehen hatte, dass sie telefoniert und gleichzeitig mit Erik aufgelegt hatte? Das konnte ihm eigentlich nicht entgangen sein. Er war einfach nur zu gutgläubig, um einen Zusammenhang herzustellen. Dazu bestand ja auch eigentlich keinerlei Veranlassung. Er traute seiner Frau eine solche Gemeinheit einfach nicht zu.
»Steig ein«, sagte Lukas.
Anna brach der kalte Schweiß aus.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und suchte nach einer Ausrede. »Ich wollte noch rasch einkaufen gehen.«
»Steig ein, wir wollen nur eben noch rasch Hedda am Stall absetzen.«
Lukas deutete mit dem Daumen über die Schulter. Erst jetzt entdeckte Anna ihre Tochter auf der Rückbank. Sie sah fröhlich und glücklich aus. Anna hätte sie am liebsten aus dem Auto gezerrt.
Lukas wandte sich an ihre Tochter.
»Rück beiseite, Kleine, damit Mama Platz hat.«
Anna blieb nichts anderes übrig. Sie öffnete die Autotür und setzte sich wie eine Fremde auf den Rücksitz ihres eigenen Autos. Sie saß in der Falle, konnte nichts tun. Sie strich Hedda über die Wange.
»Hallo, Liebling.«
Hedda wehrte sich, als sei sie plötzlich zu groß für diese Nähe, zumindest im Beisein eines Außenstehenden. Erik fuhr wieder an.
»Das ist wirklich ein ausgezeichnetes Familienauto«, sagte Lukas. »Auf dem Rücksitz können locker drei Erwachsene sitzen. Und der Stauraum ist unerschöpflich. Hier geht es geradeaus.«
Er zeigte in die gewünschte Richtung. Erik fuhr lässig und verlangsamte vor den Bodenschwellen.
»Haben Sie Familie?«, fragte Lukas.
»Noch nicht.«
Erik betrachtete Anna im Rückspiegel. Sie wandte ihr Gesicht ab.
»Ist Zuwachs in Aussicht?«, fragte Lukas. »Entschuldigen Sie bitte, die Frage geht vielleicht etwas zu weit.«
Erik schüttelte den Kopf.
»Ach was«, erwiderte er fröhlich. »Ich warte nur darauf, dass sie sich entscheidet. Einen Tag will sie, am nächsten wieder nicht.«
Anna wandte sich Hedda zu und tat so, als höre sie den Männern nicht zu.
»Wie war es in der Schule?«, fragte sie. »Irgendwas Lustiges passiert?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Hedda mit abweisendem Tonfall und drehte den Kopf demonstrativ in die andere Richtung.
War sie über Nacht zum pubertierenden Teenager mutiert?
»Vielleicht ist sie ja zu jung?«, meinte Lukas. »Ich meine, um schon eine Familie zu gründen. Vielleicht will sie noch etwas warten?«
»Zu jung ist sie nicht«, sagte Erik und suchte erneut Annas Blick im Rückspiegel. »Sie ist etwas älter als ich.«
»Dann sollten Sie es vielleicht wirklich nicht mehr zu lange rauszögern«, meinte Lukas welterfahren. »Wir werden alle nicht jünger, oder was meinst du dazu, Liebling?«
»Wie bitte? Ich weiß nicht«, antwortete Anna abwesend.
Jetzt betrachtete Erik sie quälend lange im Rückspiegel.
»Entschuldigen Sie«, sagte er schließlich. »Aber irgendwoher kenne ich Sie.«
»Mich?«
Anna wurde panisch. In ihrem eigenen Auto, in Anwesenheit ihres Mannes und ihrer Tochter, bekam sie Angst.
»Wir müssen uns schon einmal begegnet sein«, sagte Erik.
»Ach?«
»Warten Sie, jetzt weiß ich es wieder. Mölle, im Hotel. Vor ein paar Wochen?«
»Kann sein.«
»Wir sind uns nur flüchtig begegnet. Sie waren mit zwei anderen Frauen da und haben sich mit meinen Kollegen unterhalten, zwei Werbeleuten.«
»Richtig, jetzt weiß ich es wieder.«
»Ich war an diesem Abend etwas müde«, sagte Erik, »und bin früh zu Bett gegangen. Offenbar hatten Sie einen netten Abend.«
»Ja, es war nett«, erwiderte Anna und lächelte unsicher.
»Das ist ja lustig«, meinte Lukas. »Die Welt ist wirklich klein.«
»Das war ein schönes Hotel«, fuhr Erik fort.
Er plauderte unbekümmert weiter. Als wäre das sein Auto, in dem er die Regeln bestimmen konnte.
»Waren Sie da auf Fortbildung?«, fragte Lukas.
»Ich weiß nicht, ob ich es so nennen würde. Wir haben Golf gespielt und ein gutes Geschäftsjahr gefeiert.«
»Spielen Sie Golf?«, fragte Lukas. »Dann ist es das perfekte Auto für Sie. Im Kofferraum haben problemlos zwei Trolleys Platz. Hier müssen Sie links abbiegen, und dann geht es geradeaus.«
Sie kamen zur Schule.
»Jetzt rechts auf den Kiesweg.«
»Wir holen dich dann ab«, sagte Anna.
»Hm«, murmelte Hedda sauer und sagte dann bedeutend munterer: »Tschüs!«
Der freundliche Abschied galt Erik. Darum also verhielt sie sich ihr gegenüber so abweisend. Sie hatte sich in den jungen Mann verguckt und wollte erwachsen wirken.
»Tschüs, viel Spaß beim Reiten.«
Anna spürte, wie Hass in ihr aufstieg. Er hatte nicht das Recht, so mit ihrer Tochter zu sprechen, und schon gar nicht so freundlich und einschmeichelnd. Wie konnte er es nur wagen? Annas rotfleckige Wangen nahmen eine tiefrote Färbung an.
»Und?«, fragte Lukas. »Sind Sie zufrieden, oder wollen Sie noch eine Runde fahren?«
»Das genügt mir vollkommen«, antwortete Erik. »Vielen Dank.«
»Dann sollten wir vielleicht den Platz tauschen?«
Lukas löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. Erik blieb, die Arme ausgestreckt auf dem Lenkrad, sitzen und betrachtete Anna im Rückspiegel. Lukas hatte bereits das Auto umrundet, klopfte verständnislos an die Seitenscheibe und öffnete dann die Tür.
»Entschuldigen Sie«, sagte Erik, öffnete den Sicherheitsgurt und stieg aus. »Ich wollte nur auf mein Gefühl horchen.«
»Das ist wichtig«, meinte Lukas.
Erik setzte sich neben Anna auf den Rücksitz. Sie stieg wie in der Verlängerung seiner Bewegung auf der anderen Seite aus und nahm vorne auf dem Beifahrersitz Platz.
»Und? Was sagen Sie?«, fragte Lukas, als sie vor ihrem Haus anhielten, vor dem Erik sein eigenes Auto geparkt hatte.
Erik tat so, als würde er nachdenken.
»Ich brauche noch etwas Bedenkzeit. Lässt sich am Preis noch was machen?«
»Tja«, meinte Lukas gedehnt und hielt sich für einen gerissenen Verkäufer. »Ein oder zwei Tausend könnte ich schon runtergehen. Aber bedenken Sie, dass er vergleichsweise wenige Kilometer auf dem Tacho hat, und der Zustand ist so gut wie neu …«
»Ich verstehe.«
»Es gibt noch weitere Interessenten«, meinte Lukas. »Falls Sie ernsthaft interessiert sind, sollten Sie sich schnell entscheiden.«
»Falls ich mich für den Wagen entscheide, rufe ich heute Abend vor acht Uhr an. Ist das okay?«
»Natürlich, einverstanden.«
Erik streckte seine Hand aus. Erst ergriff Lukas sie, dann Anna. Es blieb ihr nichts anderes übrig.
»Nett, Sie noch einmal getroffen zu haben«, sagte Erik. »Auf Wiedersehen.«
Er setzte sich in sein Auto und fuhr davon.
»Netter Bursche«, meinte Lukas. »Dass du ihn nicht wiedererkannt hast?«
»Ich habe ihn nur mit halbem Auge wahrgenommen.«
»So einen Schönling?«