58
Kathrine war der festen Überzeugung, dass im Grunde alle Menschen das Gleiche wollten. Selbst die verrücktesten Leute wollten einfach nur dazugehören.
Kathrine konnte Erik Månssons Faszination für ihre Tochter, seine Verzweiflung über den Verlust seiner Arbeit und seine Einsamkeit in so einem beengten Nest wie Helsingborg gut nachvollziehen. Und auch seine Gekränktheit, weil Anna ihn nach den intensiven Begegnungen plötzlich fallen ließ und nicht mehr treffen wollte.
Kathrine wollte mit Erik reden. Ihm ein paar Dinge verständlich machen. So schwer konnte das doch nicht sein.
Als sie vor seinem Haus ankam, nützten ihr alle guten Absichten nichts. Sie hatte keinen Türcode. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Tochter. Die Mailbox sprang sofort an, was darauf hindeutete, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hatte. Kathrine versuchte es stattdessen im Büro.
»Willkommen beim Familienjournal. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Hallo, hier ist Kathrine, Annas Mutter.«
»Hallo, Kathrine«, sagte Renée. »Alles in Ordnung?«
»Ja, und bei Ihnen?«
»Bestens, danke. Anna hat den ganzen Tag Besprechungen. Soll ich sie bitten, zurückzurufen?«
Ein Mann verließ das Haus, und Kathrine nutzte die Gelegenheit, zur Tür hineinzuschlüpfen. Der Mann salutierte und lächelte sie an.
Kathrine lächelte zurück.
»Nein, es war nichts Wichtiges«, sagte sie. »Richten Sie ihr einfach aus, dass ich angerufen habe?«
»Aber sicher«, erwiderte Renée. »Einen schönen Tag noch.«
»Ihnen auch.«
Kathrine studierte die Tafel mit den Namen der Bewohner und nahm den Fahrstuhl ins oberste Stockwerk. Sie klingelte. Rasche Schritte näherten sich. Die Tür wurde geradezu aggressiv aufgerissen. Erik Månsson sah sie erstaunt an, ein Erstaunen, das augenblicklich in Wachsamkeit überging.
Er war jünger, als Kathrine ihn sich vorgestellt hatte, weniger erwachsen. Er sah gut aus, im Moment aber auch gestresst und ertappt.
»Guten Tag. Ich heiße Kathrine Hansson. Ich bin Anna Stenbergs Mutter.«
Sie streckte die Hand aus. Er zögerte, schüttelte sie dann aber, weil es eine allzu offene Provokation gewesen wäre, es zu unterlassen.
»Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
Erik verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und reckte sich.
»Worüber?«
»Über meine Tochter. Darf ich reinkommen?«
Kathrine lächelte freundlich.
»Anna weiß nicht, dass ich hier bin«, fügte sie hinzu.
Erik hielt die Tür auf.
»Danke.«
Sie trat ein, und er schloss die Tür hinter ihr. Sie drehte sich um und schob das unbehagliche Gefühl, gerade einen Fehler zu begehen, von sich. Sie zog den Mantel aus, hängte ihn auf einen Bügel und stellte ihre Handtasche darunter.
»Darf ich die Schuhe anbehalten? Es ist etwas mühsam, sie auszuziehen.«
Erik nickte und ging in die Küche. Kathrine folgte ihm wachsam. Sie deutete fragend auf einen Stuhl, und er nickte knapp. Sie setzte sich. Erik verschränkte die Arme und lehnte sich an die Spüle.
»Also«, begann Kathrine zögernd, als feststand, dass er nicht vorhatte, ihr in irgendeiner Weise über ihre Verlegenheit hinwegzuhelfen. »Anna hat mir erzählt, dass Sie … dass Sie sich in Mölle kennengelernt haben, zu Ihrer beiderseitigen Freude, wenn ich es richtig verstanden habe.«
Sie versuchte seine Miene zu deuten, aber es war nicht zu erkennen, ob ihre Worte zu ihm durchgedrungen waren.
»Anna hat mir weiter erzählt, dass die Geschichte zunehmend ausartet«, fuhr Kathrine fort und breitete die Arme aus. »Ich kenne nur Annas Version und würde gerne Ihre hören.«
Erik sah sie forschend an.
»Da schickt sie also ihre Mutter vor«, stellte er fest. »Sie traut sich nicht, ihrem Mann etwas zu erzählen, und heult sich bei der Mama aus. Mama tröstet und rückt alles ins rechte Licht. Mama verspricht, dem störrischen Bengel ins Gewissen zu reden und ihn zur Vernunft zu bringen.«
»Anna weiß nicht, dass ich hier bin.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Bloß weil Sie diese Lüge wiederholen, wird sie noch lange nicht wahrer.«
»Zufälligerweise ist das aber die Wahrheit.«
»Okay«, sagte er und nahm auf der Spüle Platz. »Sie sind also aus eigenem Antrieb hier. Das bedeutet, dass Anna Ihnen erzählt hat, wie ich heiße und wo ich wohne. Hat sie Ihnen auch den Code für die Haustür gesagt?«
»Ein Mann hat das Haus verlassen, als ich davorstand.«
»Wie praktisch.«
Seine Aggression war in Sarkasmus übergegangen. Kathrine wusste nicht, ob das ein Schritt in die richtige Richtung war.
»Können Sie nicht einfach sagen, was Sie stört?«, sagte Kathrine. »Es muss doch möglich sein, miteinander zu reden.«
»Wie denn bitte, wenn sie nie abhebt?«
»Wollen Sie, dass ich mit ihr rede?«
Erik lachte so spontan los, dass er husten musste. Kathrine ließ sich nicht provozieren.
»Sozusagen als meine Anwältin, meinen Sie? Da weiß ich meine Sache ja in guten Händen! Und Sie würden natürlich nicht parteiisch sein.«
Kathrine setzte sich auf.
»Natürlich bin ich parteiisch, ich bin schließlich ihre Mutter. Sie hat erzählt, dass Sie ein Video aufgenommen haben.«
»Ach, wirklich?«
»Ohne dass sie davon wusste. Finden Sie das fair?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Ich habe nichts Ungesetzliches getan.«
»Ob das erlaubt ist oder nicht, weiß ich nicht. Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie das fair finden.«
Erik schaute an ihr vorbei.
»Es ist mein gutes Recht, meinen Alltag zu dokumentieren.«
»Ihren Alltag?«, fragte Kathrine.
Er nickte.
»Das ist es also, womit Sie sich beschäftigen?«, meinte Kathrine. »Mit dieser Art von Filmaufnahmen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Kathrine hob die Hand.
»Warten Sie«, sagte sie. »Lassen Sie uns von vorne beginnen, einverstanden?«
Sie sah Erik fragend an, dieser breitete die Arme aus, eine ironische Geste der Großzügigkeit.
»Ich weiß Folgendes über Sie«, sagte Kathrine. »Sie haben meine Tochter in dem Hotel in Mölle kennengelernt. Sie haben miteinander geschlafen. Dann haben Sie sich einige Male in dieser Wohnung getroffen, auch um miteinander zu schlafen. Meines Wissens hatten Sie beide Freude daran.«
Erik kommentierte das nicht.
»Anschließend«, sagte Kathrine, »haben Sie auf verschiedene Weise versucht, zu Anna Verbindung aufzunehmen, obwohl sie sich das ausdrücklich verbeten hat.«
Sie sah ihn an. Er verzog keine Miene. Kathrine hob fragend die Handflächen.
»Irre ich mich?«, fragte sie.
Erik sprang von der Spüle, nahm ein Glas aus dem Schrank, drehte den Kaltwasserhahn voll auf und hielt seinen Finger darunter. Als das Wasser kalt genug war, füllte er sein Glas. Er trank die Hälfte in einem Zug, bevor er antwortete.
»Hat sie vergessen, Ihnen zu erzählen, dass ich ihretwegen meine Arbeit losgeworden bin? Ein kleiner Kollateralschaden, um ihren Kolleginnen nicht erzählen zu müssen, dass sie untreu gewesen ist.«
»Sie sagt, dass sie nichts damit zu tun hat.«
»Ach was?«
Erik goss den Rest des Wassers aus und stellte das Glas ins Spülbecken. Er schüttelte den Kopf.
»Was wollen Sie hier?«, fragte er.
»Mit Ihnen reden«, sagte Kathrine. »Halten Sie sich fern von ihr, wenn nicht Annas wegen, so wenigstens ihrer Tochter zuliebe.«
Kathrine beugte sich vor, stützte die Unterarme auf den Oberschenkeln ab und faltete die Hände zwischen den Knien.
»Ich glaube, dass die Menschen im Grunde alle gleich sind«, sagte sie. »Wenn Situationen ausarten, beruht das meist auf verletzten Gefühlen und Missverständnissen.«
»Wenn ich mich nur im Geringsten für solches Geschwafel interessieren würde, dann würde ich mir Dr. Phil im Fernsehen ansehen«, sagte Erik. »Sie wollen Ihrer Tochter helfen, deswegen sind Sie hier?«
»Das versteht sich von selbst.«
»Wollen Sie mir auch helfen?«
»Ich kenne Sie nicht.«
»Sie wollen also Ihrer Tochter helfen, mir aber nicht?«
Kathrine wechselte die Strategie.
»Ich versuche nur, zu verstehen«, sagte sie.
»Was?«, erwiderte Erik.
»Warum Sie sie nicht in Ruhe lassen können. Sie sind sich ein paarmal begegnet. Warum ist das nicht genug?«
Erik lächelte breit, als hätte sie etwas Lustiges gesagt.
»Sie kommen hierher und machen mir moralische Vorhaltungen. Ihre Tochter hat mich sexuell ausgenutzt. Dann hat sie ein schlechtes Gewissen bekommen, und jetzt versucht sie, alles ungeschehen zu machen. Finden Sie das okay?«
»Sie haben miteinander geschlafen. Meine Güte, Sie sind beide erwachsene Menschen.«
»Oh«, meinte Erik. »Sie meinen also die fleischliche Lust hätte nichts mit der Einsamkeit der Seele zu tun? Sie war also für ihre Handlungen nicht verantwortlich? Es ist einfach so passiert?«
»Sie hatten doch wohl auch was davon?«
»Und deswegen muss ich mich mit ihrer Willkür abfinden? Ich soll bereitstehen, wann immer sie Lust hat, und im Übrigen soll ich mich fernhalten und nicht stören? Anna hat mich belogen, mir einen anderen Eindruck vermittelt. Sie ist mir was schuldig.«
»Was soll sie Ihnen schuldig sein? Sie ist nicht interessiert. Wie schwer ist das zu verstehen? Kommen Sie über die Sache weg. Es wird Ihnen ja wohl kaum schwerfallen, eine andere Frau kennenzulernen?«
Kathrine ließ die Frage fast vorwurfsvoll in der Luft hängen.
»Wissen Sie, warum ich das Video aufgenommen habe?«, sagte Erik ruhig. »Um zu dokumentieren, wie es war. Um mir zu beweisen, dass ich mir das Ganze nicht nur eingebildet habe. Wenn Sie es sähen, würden Sie mich verstehen. Was zwischen Anna und mir ist, ist wahrhaftig. Sie lügt, wenn sie sagt, dass sie mich nicht mehr treffen will. Sie belügt sich selbst.«
»Darf ich es anschauen?«, fragte Kathrine. »Können Sie mir den Film zeigen, damit ich die Möglichkeit habe, mir ein Urteil zu bilden?«
Erik sah sie verächtlich an.
»So etwas Privates würde ich niemals Außenstehenden zeigen.«
»Ist das ein Versprechen?«
Erik verstand sie nicht.
»Dass Sie den Film niemand anderem zeigen. Verstehen Sie denn nicht, wie unangenehm das für Anna ist? Sie drohen damit, ihr Leben zu zerstören.«
»Sie meinen, ihre gelebte Vorortlüge?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Denken Sie an das Mädchen. Sie ist erst zehn Jahre alt.«
»Wie rührend«, erwiderte Erik amüsiert. »Verdammt rührend.«
»Was?«
»Dieses ständige Gequassel über das Wohl der Kinder. Gnadenlos.«
Kathrine runzelte verständnislos die Stirn.
»Sobald es ungemütlich wird, werden die Kinder vorgeschoben. Diese falsche Fürsorge, die alles verbergen soll, was ihr verlogenes Selbstbild bedroht. Ihre Kinder sind diesen Leuten doch scheißegal, sie interessieren sich nur für sich. Kinder sind in ihrer Welt Accessoires, sonst nichts.«
Er war inzwischen so aufgebracht, dass er beim Reden spuckte.
»Warum den Kindern die Schuld geben, weil man zu faul ist, sich scheiden zu lassen, und zu müde, sich zu streiten? Das ist eine billige Ausrede. Sie wissen genauso gut wie ich, dass Anna nie bei diesem Holzkopf geblieben wäre, wenn es Hedda nicht gäbe.«
Kathrine wurde fast übel, als er den Namen des Mädchens in den Mund nahm.
»Sie hätte ihn schon längst verlassen«, fuhr Erik fort. »Wenn sie ihren Mann so wahnsinnig lieben würde, wie sie behauptet, hätte sie ja wohl kaum ihr Glück woanders gesucht.«
»Anna liebt ihren Mann«, sagte Kathrine. »Sie haben zusammen ein schönes Leben, das gut funktioniert. Sie hatten einen Flirt, ein Abenteuer. Können Sie sich damit denn nicht zufriedengeben?«
»Wenn Anna ihren Mann nun so ungemein liebt, warum ist sie dann mit mir ins Bett gegangen? Seien Sie ehrlich.«
»Das weiß ich auch nicht. Sie fand Sie vermutlich attraktiv.«
»Attraktiv?«
»Offenbar.«
»Und dann ist es okay, den Ehemann zu betrügen?«
»Nein, ist es nicht. Aber, meine Güte, haben Sie denn nie etwas falsch gemacht? Ich gebe zu, sie hat sich in der Situation nicht sehr vernünftig verhalten.«
Erik lachte und schüttelte den Kopf. Er trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter.
»In jener Situation?«, sagte er und drehte sich um. »Wir haben es vier Mal gemacht. Vier Mal.«
Er hielt vier Finger in die Luft, überdeutlich wie ein Kind.
»Wie auch immer«, sagte Kathrine, »es wird nicht wieder vorkommen. Wenn Anna gewusst hätte, dass es so enden würde, hätte sie sich gar nicht erst mit Ihnen eingelassen. Sie brauchen Hilfe. Ärztliche Hilfe.«
Kathrine stand auf und baute sich vor ihm auf.
»Ich habe einige Informationen über Sie eingeholt«, sagte sie. »Beim Einwohnermeldeamt habe ich erfahren, dass Ihre Mutter vor zwei Jahren gestorben ist. Und Ihre ehemaligen Nachbarn haben erzählt, dass Sie Ihrer Mutter sehr nahegestanden haben. Wenn Sie meine Tochter nicht in Ruhe lassen, werde ich Ihnen das Leben sauer machen. Verstehen Sie mich? Ich werde Sie öffentlich diskreditieren.«
Eriks Unterlippe zitterte kurz. Es war nicht klar, ob aus Nervosität oder unterdrückter Wut. Kathrine ließ sich aber nicht einschüchtern.
»Es liegt ganz bei Ihnen«, sagte sie.