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Lukas fuhr Anna zur Bushaltestelle, beugte sich zu ihr rüber und küsste sie auf den Mund.

»Einen schönen Tag, Liebling.«

»Dir auch. Bis heute Abend.«

Anna stieg aus und wartete, bis sie das Auto nicht mehr sehen konnte, dann nahm sie ihr Handy aus der Handtasche und schaltete es ein. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis sie im Netz war. Anna starrte auf das Display. Jede Sekunde war von banger Erwartung erfüllt. Nichts, stellte sie nach einer halben Minute fest. Hatte sie sich ganz umsonst verrückt gemacht? Hatte sie grundlos die halbe Nacht wach gelegen und sich gewälzt? Vielleicht stellte er ihr gar nicht nach, sondern sie litt an Verfolgungswahn?

Der Bus kam, und sie stieg ein, nickte ein paar Leuten zu, die sie flüchtig kannte, und ging nach hinten durch. Sie hatte gerade Platz genommen, da vibrierte ihr Handy. Unbekannt stand auf dem Display.

»Anna.«

»Hallo, ich bin’s, Erik. Ist das ein schlechter Zeitpunkt?«

»Ich sitze im Bus.«

»Kannst du reden?«

»Eher nicht, worum geht’s?«

»Worum geht’s«, äffte Erik sie nach. »Ich hätte gerne eine Antwort auf eine Frage oder zwei.«

»Bitte …«

»Du musst schon entschuldigen, aber ein bisschen Zeit kannst du dir ruhig nehmen.«

»Ich sitze im Bus.«

»Das hast du bereits gesagt, aber es reicht mir völlig, wenn du mit Ja oder Nein antwortest. Okay?«

Anna holte tief Luft.

»Okay«, sagte sie.

»Erstens: Verstehst du, wie sehr es mich kränkt, dass du mir vollkommen grundlos vorwirfst, ich würde dich verfolgen?«

Anna schwieg.

»Das war eine einfache Ja-oder-Nein-Frage. Soll ich sie noch mal wiederholen?«

»Ich habe die Frage gehört. Doch, das kann ich verstehen.«

Anna sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte, dann beugte sie sich vor und sprach leiser.

»Es war nicht meine Absicht, dich zu kränken. Ich hoffe, du verstehst das.«

»Aber es ist dir trotzdem recht gut gelungen, das muss ich schon sagen.«

»Und dafür entschuldige ich mich. Ich habe nur versucht, Missverständnisse zu vermeiden.«

»Der Zweck heiligt die Mittel, oder was willst du damit sagen?«

»Das verstehe ich nicht.«

»Dass du einfach meinen Ruf ruinieren kannst, wenn es dir passt?«

»Ich will wirklich nicht deinen Ruf ruinieren. Du, ich sitze im Bus. Sei so gut und schick mir eine Mail.«

»Nein, jetzt, wo ich dich endlich am Telefon habe, will ich Antworten auf meine Fragen.«

»Was meinst du mit endlich?«

»Du hattest das Handy den ganzen Morgen abgestellt.«

»Es ist acht Uhr.«

»Und?«

Anna sah sich ein weiteres Mal um. Der Mann auf der anderen Seite des Mittelgangs schaute zur Seite, von ihm war nichts zu befürchten.

»Genau das meine ich«, sagte Anna. »Du kannst um diese Tageszeit nicht einfach anrufen, geht das endlich in deinen Kopf?«

»Das ist doch wohl dein Handy?«, sagte Erik. »Sag einfach, dass es jemand anders ist.«

»Das kann ich nicht.«

»Nicht? Warum nicht? Kannst du nicht lügen? Schämst du dich? Will der Schlappschwanz wissen, wer am Apparat ist?«

»Das geht jetzt wirklich zu weit«, sagte Anna scharf. »Extrem zu weit.«

»Du darfst zu weit gehen und mir alles Mögliche unterstellen, aber ich darf nicht einmal versuchen, meinen Ruf zu verteidigen? Auch das ist eine simple Ja- oder-Nein-Frage. Antworte.«

»Ich lege jetzt auf.«

»Okay. So weit sind wir also schon? Anna, lass mich nur noch eins sagen: Ich habe so viel gegen dich in der Hand, das ahnst du nicht mal im Traum. Glaube mir, du willst mich nicht zum Feind haben.«

Anna unterbrach die Verbindung, und das Display erlosch. Sie behielt das Handy in der Hand und sah sich um. Hatten die Fahrgäste, die ihre Gesichter abwandten, etwas mitbekommen, oder bildete sie sich das nur ein? Die Leute, die sie beim Einsteigen erkannt hatte, saßen glücklicherweise weiter vorne und dürften von der Unterhaltung kaum etwas mitbekommen haben. Oder doch?

Anna erwog, auszusteigen und auf den nächsten Bus zu warten. Dann riskierte sie jedoch, jemanden zu treffen, der sich wunderte, warum sie dort und nicht an ihrer normalen Haltestelle einstieg. In diesem Moment hasste sie die spießigen Moralfesseln der Kleinstadt. Sie blieb sitzen. Als der Bus am Knutpunkten im Helsingborger Zentrum hielt, stiegen die letzten der schweigenden Zeugen aus, und Annas Puls beruhigte sich etwas.

Was meinte er damit, dass er viel gegen sie in der Hand hatte? Hatte er die gelöschten Fotos wiederhergestellt? Hatte sie ihm irgendwelche Geheimnisse anvertraut? Ihm ihre Liebe beteuert? Sie hatte nicht abfällig über Lukas gesprochen, das würde sie niemals tun, niemandem gegenüber. Wovon hatte Erik also gesprochen? Wusste er von irgendwelchen Sünden, die sie begangen hatte, oder hatte er das einfach nur so dahingesagt?

Es war sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jetzt galt es, weitere Konflikte zu vermeiden, damit die Sache nicht eskalierte.

Sie betrat das Verlagsgebäude und grüßte Renée am Empfang, die mit ihrem offenen und herzlichen Wesen die ideale Besetzung dieses Postens war.

Anna nahm den Fahrstuhl in die Redaktion und ging an ihren Platz. Sie schaltete den Computer ein und öffnete das Mailprogramm. Die Betreffs tauchten auf dem Monitor auf. Ihr Blick fiel auf den Betreff der neuesten Mail.

Nicht löschen – lesen!!!

Drei Ausrufezeichen. Meine Güte, wie theatralisch. Anna öffnete die Mail.

Entschuldige. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Das war natürlich unakzeptabel. Entschuldige.

Bevor ich in die Redaktion gekommen bin, hatte ich mich tagelang nach dir gesehnt. Der Schock, festzustellen, dass du nicht sehr erfreut warst, mich zu sehen, im Gegenteil, saß tief. Als du mich dann noch beschuldigt hast, dir nachzustellen, hat sich ein Abgrund vor mir aufgetan.

Unsere Begegnungen bedeuten mir offenbar mehr als dir, obwohl etliche deiner Reaktionen auf das Gegenteil schließen lassen. Wie auch immer, ich werde mich wohl oder übel damit abfinden müssen. Es ist sicher nicht das erste Mal, dass eine Frau einem Mann das Herz bricht, und auch nicht das letzte.

Ich möchte nicht, dass wir als Feinde auseinandergehen. Freuen wir uns über die Erinnerung an die gemeinsamen Stunden. Ich bitte dich, ruf mich an, damit wir uns aussprechen können.

Anna löschte die Mail und starrte aus dem Fenster. War Erik ein wenig beschränkt? Offenbar. Anna überlegte, ob ihr das vielleicht entgangen war, weil sie von seinem Aussehen geblendet gewesen war. Anders ließ es sich nicht erklären. Die Lust, die sie anfänglich empfunden hatte, kam ihr jetzt vollkommen abwegig vor. Es gab nichts Abstoßenderes als Dummheit.

Sollte sie ihn ein letztes Mal anrufen? Um ihm die Gelegenheit zu geben, die Sache zu beenden, ohne das Gesicht zu verlieren? Denn ganz offensichtlich war seine verletzte männliche Eitelkeit das Problem.

»Good morning, early birds.«

Sissela gab lautstark ihr Eintreffen in der Redaktion bekannt. Ein eventueller Anruf bei Erik Månsson musste warten.