19. KAPITEL

Beinahe eine Stunde lang waren sie unterwegs, eine endlos lange, quälende Stunde, die gleichzeitig viel zu schnell verstrich, bis Geryon schließlich von Weitem die Mauer erkennen konnte. Als sie näher kamen und das ganze Ausmaß der Verwüstung sahen, traute er seinen Augen kaum. Die Dämonen hatten sich so fanatisch darauf gestürzt, dass die Barriere getränkt war von ihrem Blut. Stück für Stück hatten sie den Fels abgetragen – Fels, von dem nur noch eine papierdünne Schicht übrig war. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie ein Loch hineinbrechen würden.

Und da waren sie, die komplette Meute auf einem Fleck versammelt. Gigantische Kreaturen, jeder von ihnen mindestens drei Meter groß, und ihre Schultern so breit, dass selbst Geryon dagegen wie ein Zwerg wirkte. Unter ihrer pergamentartigen Haut schimmerte ihr Skelett hervor. Einige hatten Flügel, andere Schuppen – ihnen allen gemein war jedoch, wie grotesk sie in ihrer Bösartigkeit anmuteten. Rote Augen, Hörner wie Geryons, nur viel gewaltiger, und Klauen wie Dolche.

„Kadence“, zischte er.

„Ich versuche es, Geryon, ich schwöre, ich versuche es ja.“ Mit jedem Wort wurde ihre Stimme leiser, schwächer. „Aber …“

Eins der … Dinger hatte sie erspäht und lachte. Ein Laut, bei dem sich jedes einzelne seiner Haare aufstellte.

„Jetzt“, rief er Kadence zu. Bitte.

„Bleibt, wo ihr seid. Ich befehle es euch!“

Sie dachten nicht daran.

„Versuch es noch mal.“

„Tue ich.“ Sie starrte einem von ihnen so fest in die Augen, wie sie nur konnte. Nichts. Streckte gebieterisch die Hände in ihre Richtung aus – nichts. Stieß einen drohenden Schrei aus, in den sie all ihren Willen legte – doch noch immer geschah nichts. Die Hohen Herren zeigten keine Reaktion.

„Ich schaffe es nicht.“ Sie stöhnte erschöpft.

„Was ist mit dir?“ Alarmiert musterte er sie und bemerkte voller Entsetzen, dass sie kalkweiß geworden war. Genau wie in der Taverne. Er rannte zu ihr, schlang einen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen, gerade noch rechtzeitig, bevor sie umfiel. War sein Plan mit der Bindung fehlgeschlagen? Hatte sich denn gar nichts an ihrer Abhängigkeit von der Mauer geändert? „Sprich mit mir, Kleines.“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Dämonen die Köpfe zusammensteckten. Lachend. Malten sie sich schon aus, wie sie ihn töten würden?

„Ich bin mit dir und der Barriere verbunden. Ich spüre deine Stärke, ebenso wie ich ihre Schwäche spüre, und diese Gegensätze reißen mich auseinander!“ Sie schluchzte verzweifelt auf. „Es tut mir leid. So unendlich leid. All die Strapazen waren umsonst, Geryon. Umsonst! Ich bin verdammt. Das war ich von Anfang an, ich wollte es nur nicht wahrhaben.“

„Nicht umsonst. Sag so etwas nicht. Wir haben uns.“ Aber für wie lange noch? „Ich werde dich nicht sterben lassen.“

„Es ist vorbei, du kannst nichts mehr tun.“

Langsam kamen die Dämonen auf sie zu – Jäger, fixiert auf ihre Beute.

„Ich töte sie alle. Wir fliehen einfach. Wir …“

„Du bist das Beste, das mir jemals passiert ist“, sagte sie schwach und legte die Wange an seine Schulter.

„Ich verbiete dir, so zu reden, Kadence.“ Sich von ihm zu verabschieden. Denn genau das war es, was sie tat.

„Töte sie und rette dich. Flieh. Bitte. Lebe in Frieden und Freiheit, mein Liebster. Beides soll dein sein. Du verdienst es.“

Nein. Nein!

„Du wirst nicht sterben.“ Doch noch während er das sagte, begann die Mauer, bereits irreparabel beschädigt, zu knirschen. Kleine Stücke brachen heraus, das lange gefürchtete Loch erschien. „Versprich es!“

Kadences Knie gaben nach, und er wirbelte herum, hielt sie, legte sie sacht auf den Boden. Ihre Augen waren geschlossen.

„… so … leid … Liebster.“

„Nein. Du musst leben. Hörst du mich? Leben!“

Ihr Kopf sackte zur Seite.

Dann … nichts.

„Kadence.“ Er schüttelte sie. „Kadence!“

Keine Antwort. Doch ihre Brust hob und senkte sich noch immer, wenn auch fast unmerklich. Sie war nicht tot. Den Göttern sei Dank, tausendmal Dank.

„Sag mir, wie ich dir helfen kann, Kadence. Bitte.“

Sie rührte sich nicht.

„Bitte.“ Tränen brannten in seinen Augen. Er hatte nicht um die Frau geweint, die ihn verlassen hatte, nicht um das Leben, das er verloren hatte, aber um diese Frau weinte er bitterlich. Ich brauche dich doch. Ihr letzter Wunsch war gewesen, dass er die Hohen Herren aufhielt und dann der Hölle für immer den Rücken zukehrte. Aber er brachte es nicht über sich, von ihrer Seite zu weichen.

Ohne sie gab es für ihn keinen Grund, weiterzuleben. Was sollte er dann noch auf der Welt?

Etwas Scharfes riss die Haut an seinem Hals auf, und er drehte den Kopf. Die Hohen Herren umkreisten sie in der Luft wie Aasgeier, überschlugen sich fast vor Schadenfreude.

„Verschwindet“, grollte er. Er würde hier bei ihr bleiben, so lange es nötig war; sie halten, bis es sicher genug wäre, sie zu bewegen.

„Tötet sie“, krächzte einer der Dämonen.

„Vernichtet sie“, stimmte ein anderer ein.

„Lasst uns sie zerfleischen.“

„Zu spät. Die ist hinüber.“

Mehr Gelächter.

Diese Bastarde! Einer von ihnen flog einen blitzschnellen Scheinangriff und ritzte mit seiner Kralle Kadence’ Wange, sodass Blut hervorquoll, ehe Geryon begriff, was geschah. Sie reagierte nicht. Aber er tat es. Er brüllte mit solch einer Wut, dass der Widerhall seines eigenen Schreis in seinen Ohren dröhnte.

Die übrigen Dämonen witterten den frischen Lebenssaft einer Göttin und schnurrten, berauscht von seinem appetitlichen Duft. Dann wurde es für einen Moment vollkommen still. Die Ruhe vor dem Sturm. Und im nächsten Augenblick stürzten sie sich auf ihre scheinbar hilflosen Opfer.

Wieder brüllte Geryon, warf sich über Kadence’ leblosen Körper, um sie mit seinem zu schützen. Bald schon war sein Rücken mit Striemen und tiefen Wunden übersät, eins seiner Hörner abgebrochen, dicke Büschel seines Fells herausgerissen. Und die ganze Zeit schlug er wild um sich, in der Hoffnung, so viele von ihnen zu erwischen wie nur möglich. Doch nur einer schaffte es nicht rechtzeitig, einem seiner Schläge auszuweichen, und stürzte zu Boden.

Weiter und weiter ging das Gemetzel, das Gelächter wurde immer irrsinniger.

„Ich liebe dich“, flüsterte Kadence plötzlich. „Dein Schrei hat mich … aus der Dunkelheit … geholt. Musste es dir … sagen.“

Sie war zu ihm zurückgekehrt? Seine Muskeln verkrampften sich, er konnte es kaum glauben.

„Ich liebe dich. Bleib bei mir, geh nicht wieder in die Dunkelheit. Bitte. Wenn du nur noch ein bisschen durchhältst, lang genug, um dich zu verteidigen, dann kann ich sie töten. Und danach gehen wir von hier fort.“

„Es tut mir … leid. Keine … Kraft.“

Dann würde er eben einen Weg finden, sie weiter zu beschützen und sie zu retten. Niemals hätte er sie in die Hölle geführt, hätte er geahnt, was sie erwartete. Er wäre für den Rest seines Daseins vor dem Tor stehen geblieben, ein lebendes Bollwerk, an dem nichts und niemand vorbeikam.

Moment. Bollwerk. Vorbeikommen. Diese Dämonen wollten nur eins: entkommen. Deshalb waren sie hier.

„Geht“, schrie er sie an. „Verlasst diesen Ort. Die Erde mit all ihren Bewohnern gehört euch.“ Das Schicksal der Menschen interessierte ihn nicht länger. Nur Kadence war wichtig.

Als hätte die Mauer nur noch auf seine Erlaubnis gewartet, begann sie zu beben und zu knacken … und brach in sich zusammen. Was bedeutete …

„Nein!“, schrie er. Das hatte er nicht kommen sehen. Doch es war zu spät, das Unheil war angerichtet.

Hämisch grinsend ließen die Dämonen von ihnen ab und flatterten in die Höhle hinaus, und binnen kürzester Zeit waren sie außer Sichtweite.

Neue Tränen brannten in Geryons Augen, als er Kadence in seine zerkratzten, blutigen Arme zog.

„Sag mir, dass die Mauer nicht mehr wichtig ist. Sag mir, dass ich dich in Sicherheit bringen kann. Dass wir zusammen sein werden.“

„Leb wohl, mein Geliebter“, hauchte sie und starb in seinen Armen.