5. KAPITEL

Viele Stunden lang arbeitete Geryon an der äußeren Mauer, während er immer wieder Kadences Versuche, ihm zur Hand zu gehen, im Keim erstickte. Er bekniete sie förmlich, hinter ihm zu bleiben. Dämonen seien nicht zu unterschätzen, sagte er. Witterten sie frisches, warmes Fleisch, wurden sie blind vor Gier und waren kaum noch zu bändigen. Es sei klüger, das zu vermeiden.

Was er nicht sagte, war, dass er sie offensichtlich für zu schwach hielt, einen solchen Angriff abzuwehren. Schwach und zerbrechlich, so sah er sie. Er brauchte es nicht auszusprechen. Sie konnte es an der wachsenden Sorge in seinen Augen ablesen.

Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn sie ihn ganz allein gelassen hätte, doch das kam für sie gar nicht infrage. Sie hatte nicht so hoch gepokert und etwas ausgehandelt, womit sie garantiert den Zorn der Götter auf sich ziehen würde, nur um ihn am Ende einen Kampf für sie ausfechten zu lassen, den er ohne sie unmöglich gewinnen konnte.

Sie mochte nicht diejenige sein, die über die Dämonen herrschte – ihnen ihren Willen aufzwingen konnte sie dennoch. Hoffte sie. Außerdem: So schwach und zerbrechlich sie wirken mochte, verbarg sich in ihrem Inneren doch ein stahlharter Kern.

Was sie Luzifer schlussendlich an diesem Tag auch bewiesen hatte. Ihm und sich selbst.

Als Kind war sie eine unbezwingbare Naturgewalt gewesen, ein Tornado, der jeden und alles niedermähte, was ihm in die Quere kam. Sie hatte es nicht absichtlich getan, es war einfach geschehen. Sie hatte nur dem leisen Drängen dieser Stimme in ihrem Geist nachgegeben. Dominiere. Unterwerfe.

Willst du wirklich jetzt daran denken?

Kein Zeitpunkt wäre passender als dieser, befand sie. Das Einzige, womit sie sich sonst hätte beschäftigen können, waren diese anderen, noch unangenehmeren Gedanken, die ihr nicht aus dem Kopf gehen wollten. Wieso hatte Geryon abgelehnt, als seine Belohnung zum Greifen nah war? Was hinderte ihn, sich diesen Kuss schon im Voraus geben zu lassen? Warum hatte ihn ihr Vorschlag so schockiert?

Hierfür gab es mehrere mögliche Erklärungen. Erstens: Er war in Wirklichkeit überhaupt nicht auf einen Kuss aus – doch weshalb hätte er dann ausgerechnet darum bitten sollen? Oder er verübelte ihr, dass sie ihn um seine Hilfe gebeten hatte – das war die wahrscheinlichste. Und letztlich gab es da noch Möglichkeit Nummer drei: Er verzehrte sich schlicht nach einer Frau, irgendeiner, und da sie nun einmal die einzig verfügbare war, musste er zunächst seinen Körper dazu bewegen, entsprechend zu reagieren.

Wie erniedrigend.

Wie ausgesprochen wenig hilfreich.

Sie hätte es vorgezogen, ihm tatkräftig zur Seite zu stehen, anstatt herumzusitzen und aus Langeweile mit dem Grübeln anzufangen. Aber nein, jedes Mal, wenn sie versuchte, mit anzupacken, hatte er sie verscheucht. Zum Schluss sogar gedroht, zu gehen, sollte sie nicht bald endlich Ruhe geben. So hockte sie also hier in ihrer Ecke, das Kinn auf die Hände gestützt, frustriert. Nutzlos.

Ich bin nicht schwach, verdammt. Auch wenn ich mich, zugegeben, lange Zeit wie ein Schwächling aufgeführt habe.

Damals, als Kind, hatte sie eines schrecklichen Tages feststellen müssen, dass sie den Willen ihrer eigenen Mutter gebrochen hatte. Dass von der einst so energischen, lebensfrohen Göttin nur noch eine leblose Hülle übrig geblieben war. Verstört hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen, voller Angst vor den Kräften, die in ihr schlummerten. Vor dem, was sie noch alles anrichten könnte, beabsichtigt oder nicht.

Leider gesellten sich zu dieser Angst bald weitere, als hätte sie eine Tür aufgestoßen und ein Willkommensschild darüber aufgehängt. Nur hereinspaziert. Und das waren sie, eine nach der anderen. Furcht vor Fremden, Orten, Gefühlen. Jahrhunderte lang hatte sie sich wie eine verschüchterte Maus verhalten, genau wie Luzifer gesagt hatte.

Unter all diesen Ängsten jedoch war sie noch immer die Göttin, als die sie geboren worden war. Unterdrückung. Sie forderte heraus. Sie wich niemals zurück, egal, wie übermächtig ihr Gegner auch schien. Bitte lass mich nicht zurückweichen. Nie wieder.

„Mehr kann ich nicht tun. Hoffen wir, dass es lange genug hält“, sagte Geryon.

Kadence hatte sich auf einen Felsbrocken in der Nähe gesetzt und erhob sich nun eilig. Das Gewand fiel ihr über die Knöchel, leicht flatterte der Saum im Luftzug.

„Sobald ich das Tor geöffnet habe“ – das Tor, hinter dem sich der Schlund der Hölle auftat –, „müssen wir schnell sein. Es wird nur einen schmalen Spalt weit aufgehen, kaum genug, sich hindurchzuzwängen, aber es geht nicht anders.“ Denn sonst würden sie riskieren, dass jemand – oder etwas – die Gelegenheit nutzte und entkam.

„Ich verstehe“, sagte sie und trat dicht neben ihn.

„Auf der anderen Seite ist weder ein Vorsprung noch sonst etwas, das uns Halt geben würde. Wir müssen uns an der Mauer entlang bis nach unten hangeln.“

Erst als sie ihm mit einem knappen Nicken signalisiert hatte, dass sie bereit war, begann er die Steine auseinanderzuschieben, und laut knirschend gab das Tor langsam nach.

Kaum war der besagte Spalt entstanden, schossen auch schon glühend heiße Flammen und schuppige Arme daraus hervor, und schrille, wahnsinnige Schreie erfüllten die Luft. Geryon ging als Erster hinein und brüllte den herbeigeströmten Massen entgegen, sie sollten gefälligst verschwinden. Zu ihrer Überraschung sah sie die Dämonen tatsächlich auseinanderstieben, als sie ihm kurz darauf folgte. Die Flammen erloschen, und die Schreie verstummten. Ein Teil von ihr wollte glauben, dies wäre geschehen, weil sie Angst vor ihr hatten. Der andere wusste, es waren Geryons tödliche Klauen, die sie fürchteten.

Mit aller Kraft klammerte sie sich an der steil nach unten führenden Steinwand fest, während Geryon den Spalt von innen wieder schloss. Loszulassen hätte den freien Fall in den Höllenschlund bedeutet, ein klaffendes, brodelndes Loch, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen.

Handflächen… schweißnass…

„Bereit?“ Zentimeter für Zentimeter kam Geryon vorsichtig auf sie zugeklettert. Er hatte sich auf die linke Seite des Tores geschwungen, sie auf die rechte. „Bereit?“, fragte er noch einmal und streckte ihr die Hand entgegen.

„Ja.“ Endlich erfahre ich, wie er sich anfühlt. Sicherlich nicht so traumhaft, wie ich es mir erhoffe. Nichts kann so wunderbar sein. Doch kurz bevor es so weit war, glitt sein Arm über ihren Kopf hinweg und er befand sich plötzlich hinter ihr, dann neben ihr – und das alles, ohne sie auch nur zu berühren. Sie seufzte enttäuscht und krallte die Finger noch fester in die Mauerritzen, während sie versuchte, auf einem winzigen, bröckligen Vorsprung unter ihren Füßen die Balance zu halten, so gut sie konnte.

„Dort entlang.“ Er nickte zu dem Riss hinüber, den die Dämonen verursacht hatten. Auf dieser Seite war er deutlich breiter, als es von außen den Anschein machte.

„In Ordnung. Und Geryon? Danke. Für alles.“ Normalerweise teleportierte sie sich direkt in Luzifers Palast, ohne das Tor auch nur zu berühren, so groß war ihre Angst davor. Doch heute konnte sie das nicht tun. Denn Geryon konnte sie nicht teleportieren. Geschweige denn irgendjemand anderen. Diese Fähigkeit erstreckte sich nur auf ihren eigenen Körper.

„Gern geschehen.“

Im Vorbeihangeln erhob Kadence kurz die Hand über den nun wieder geschlossenen Spalt. Da es draußen keine zweite Verteidigungslinie in Form eines Wächters mehr gab, war eine zusätzliche Stabilisierung der ersten bitter nötig – ungeachtet der Tatsache, dass diese Verdichtung Kadence schwächte, denn für so etwas musste sie jedes Mal etwas von sich selbst opfern.

Auch als die so freigegebenen Funken ihrer Energie mit den Steinen des Tores verschmolzen, hütete sie sich davor, ihm zu nahe zu kommen. Geryon war vermutlich der Einzige, der ungestraft die gigantischen Torgriffe berühren konnte. Abgesehen von Hades und Luzifer natürlich. Jeder andere, der damit in Kontakt kam, gewollt oder nicht, spielte mit seinem Leben, hieß es. Sie hatte es nie gewagt, diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Plötzlich fiel ihr etwas auf, und mit nachdenklichem Blick auf ihren Begleiter legte sie den Kopf schief. Wenn Geryon fort war, wer öffnete von außen das Tor, um die Seelen der Verdammten hineinzulassen?

Vielleicht hatte Luzifer in der Zwischenzeit schon für Ersatz gesorgt. Vielleicht? Kopfschüttelnd lachte sie in sich hinein. Auf jeden Fall hatte er das. Er würde das Tor niemals unbewacht lassen, selbst wenn er wusste, dass Kadence es verstärken würde, so gut sie konnte.

Die Vorstellung, dass Geryon in Zukunft nicht mehr derjenige wäre, den sie jeden Tag sah … bedrückte sie. Sobald die Barriere nicht länger in Gefahr war – die Möglichkeit ihres Versagens verdrängte sie rigoros –, stand es Geryon frei, zu gehen. Sie aber blieb weiter hier gefangen.

Denk jetzt nicht darüber nach. Sonst würden ihr am Ende noch die Tränen kommen. Ihre Sicht würde verschwimmen. Wenn das passierte, könnte sie bei der nächsten Vertiefung im Stein leicht danebengreifen, und ihre Hand würde abrutschen. Ihre klatschnasse Hand.

Sie blickte sich um. Die Luft wurde bereits stickiger, bemerkte sie, heißer. So heiß, dass nicht nur ihre Hände, sondern auch Arme, Nacken, sogar ihr Gesicht mit einem Schweißfilm überzogen waren. Tropfen sammelten sich an ihrem Haaransatz und rannen ihre Schläfen hinab. Gelangten in ihre Augen, die sofort anfingen zu brennen und sich mit Tränen zu füllen, was ihre Sicht verschwimmen ließ.

„Geryon“, rief sie, hektisch umhertastend.

„Ich bin hier, Kadence.“ Im nächsten Moment kletterte er halb über sie hinweg und blieb dieses Mal schützend hinter ihr stehen. Sein herber, männlicher Duft hüllte sie ein, verscheuchte die fauligen Schwaden der Verwesung, von denen ihr langsam übel geworden war. „Alles in Ordnung?“

„Ja“, flüsterte sie. Aber bei den Göttern, in was für eine Lage hatte sie sich da nur manövriert?