6. KAPITEL

Atlas schritt durch die Flügeltüren zu Cronus’ Thronsaal. Bewaffnete Wachen, unsterbliche Krieger, die Cronus selbst geschaffen hatte, standen an den Wänden aufgereiht. Jeder hielt einen Speer in der Hand, und an ihren Hüften hingen Schwerter. Wachsam warteten sie auf einen Befehl und hielten Ausschau nach einer Bedrohung. Bei beidem würden sie ohne Zögern handeln.

Natürlich standen auch entlang des purpurnen Lammvliesteppichs, der den Weg zu der juwelenbesetzten Empore bedeckte, Krieger. Atlas empfand sie als ziemlich bedrohlich. Seine Waffen waren ihm bereits abgenommen worden, doch die Wachen gingen kein Risiko ein und beäugten jeden seiner Schritte voller Misstrauen.

Er fragte sich, ob Nike, als sie noch frei gewesen war, jemals in diesen Thronsaal beordert worden war. Natürlich hätte sie damals Zeus hier angetroffen, ihren König. Und wenn sie hier gewesen war, war es für eine Belohnung oder eine Bestrafung gewesen?

Hör auf, an sie zu denken. Konzentrier dich auf Cronus. Der Typ ist hinterhältig. Der Götterkönig war nicht mehr derselbe wie vor seiner Gefangenschaft. Die abertausend Jahre im Tartarus hatten ihn verändert. Er war härter, strenger geworden. Unerbittlich. Auf jegliche Schwäche stürzte er sich sofort.

Dieser Tage weigerte sich Cronus, sich im Himmel aufzuhalten, wenn ihn nicht eine Armee zu seinem Schutz umringte. Aber ein Mann, der mit seiner eigenen Ehefrau im Krieg lag, konnte auch nicht vorsichtig genug sein. Vor allem, wenn diese Frau eine Königin mit mächtigen Kräften und Verbündeten war. Eine Frau, die …

Schwindel erfasste Atlas, seine Gedanken zerstreuten sich, und er runzelte die Stirn. Doch er hielt nicht an, bis er das Ende des Vliesteppichs erreicht hatte. Unverwandt hielt er seine Aufmerksamkeit auf Cronus gerichtet, so benebelt er auch sein mochte. Was war nur mit ihm los?

Der König saß auf einem Thron aus massivem Gold. Dunkle Strähnen durchzogen sein silbernes Haar, und sein Bart war dünner geworden, seit Atlas ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sogar einige Falten waren von seinem wettergegerbten Gesicht verschwunden. Er trug ein weißes Gewand, ganz ähnlich wie die Gefangenen im Tartarus. Schon oft hatte Atlas sich gefragt, warum.

Zwei mögliche Erklärungen kamen ihm in den Sinn. Cronus hatte ein solches Kleidungsstück jahrhundertelang getragen, vielleicht fühlte er sich einfach wohl darin. Oder er wollte nicht vergessen, was ihm einst widerfahren war – und erneut widerfahren konnte, wenn er nicht aufpasste. Atlas hingegen war mehr als froh gewesen, sein weißes Gewand ablegen zu können. Würde Nike dasselbe tun, wenn sie jemals wieder freikam? Nicht, dass sie das würde.

Du denkst schon wieder an sie.

Eine Frau stand neben dem Thron. Ihr Gesicht war eines der langweiligsten, die Atlas je gesehen hatte, und ihre Haut war blass und mit Sommersprossen übersät. Dunkles, lockiges Haar fiel über ihre schmalen Schultern auf einen spindeldürren Körper. Von ihr ging keine machtvolle Aura aus. Vielmehr wirkte sie … unwirklich. Beinahe durchsichtig. Anwesend, aber irgendwie flimmernd. Ihre Augen waren verschattet, leer, als wäre niemand zu Hause.

Als sie sich eine Locke aus der Stirn strich, konnte er sie nur mit offenem Mund anstarren. Die Grazie ihrer Bewegung war Ehrfurcht gebietend. Elegant, als würde sie tanzen, und zarter als ein Schmetterlingsflügel. Da war definitiv jemand zu Hause, es interessierte die Frau bloß nicht, was um sie herum geschah.

Atlas riss seine Aufmerksamkeit von der Unbekannten los und sah sich im Thronsaal um. Tausende Kronleuchter hingen von der Kuppeldecke, über und über behängt mit glitzernden Kristalltropfen. Ein vielfarbiger Glimmer erfüllte die Luft. Seltsam, dachte er und legte den Kopf auf die Seite, um besser sehen zu können. Die Luft hier roch sogar süß nach – tief atmete er ein – Ambrosia. Ah. Jetzt verstand er sowohl das Schwindelgefühl als auch das Schimmern in der Luft. Im Raum wurde pulverisierte Ambrosia zerstäubt. Um ihn gefügig zu machen?

„Atlas, Gott der Stärke“, sprach ihn Cronus mit einem Nicken an und riss ihn aus seinen Gedanken.

Atlas verbeugte sich, wie es sich gehörte. „Mein König. Es ist eine Ehre, dass Ihr mir diese Audienz gewährt.“

Cronus beugte sich vor, die glänzenden Augen von Sorge erfüllt. „Im Tartarus ist alles in Ordnung, oder?“

„Natürlich.“

Sofort wich die Beunruhigung auf Cronus’ Gesicht Erleichterung. „Warum hast du dann um dieses Treffen gebeten?“

Niemand hasste die Griechen mehr als dieser Mann, Herrscher der Titanen, und mit gutem Grund. Sie hatten ihm seine Macht genommen, ihn vor seinem Volk erniedrigt. Selbst Nike hatte ihren Teil dazu beigetragen.

Sag’s einfach. Bring’s hinter dich. „Ich möchte eine Frau aus dem Gefängnis holen und sie …“

„Stopp. Sag kein Wort mehr.“ Mit finsterem Blick hob Cronus eine Hand. „Niemand wird aus dem Tartarus geholt. Das ist zu gefährlich.“

Diese Antwort hatte er erwartet. Doch er blieb hartnäckig. „Es könnte das Risiko wert sein. Ich würde sie in meinem Haus gefangen halten, Eure Majestät. Ich würde ihr zu keinem Zeitpunkt das Halsband abnehmen …“ Na ja, außer um sie in sein Haus zu bringen, denn während sie es trug, konnte sie nicht aus dem Tartarus teleportiert werden. Aber er würde es ihr in derselben Sekunde wieder anlegen, in der sie ihr Ziel erreichten. „… ich würde sie zu meiner persönlichen Sklavin machen. Ich würde dafür sorgen, dass sie leidet.“ Die erste Lüge des Tages, aber vermutlich nicht die letzte. Alles, wofür er sorgen wollte, war Nikes Ekstase.

Hatte er ihr vergeben, was sie ihm angetan hatte? Er war sich nicht sicher. Alles, was er wusste, war: Wenn er jetzt an sie dachte, wollte er sie nicht mehr umbringen. Irgendwann würde er ihrer überdrüssig werden, und auf diesen Tag freute er sich schon heute. Aber bis dahin war dies seine einzige Chance auf Erleichterung.

Der König fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Von welcher sie sprichst du?“

„Nike. Griechische Göttin der Stärke.“ Penibel achtete er darauf, dass aus seiner Stimme nicht das kleinste bisschen Zuneigung herauszuhören war.

Die Augen des Königs weiteten sich. „Diejenige, die …“ Er ließ den Blick zu Atlas’ Brust wandern, wo Stoff das Tattoo verdeckte.

„Ja. Genau die.“ Hör meinen Zorn, nur meinen Zorn. Bloß dass das, was sie mit ihm gemacht hatte, ihn nicht länger erzürnte. Der Schriftzug war jetzt ein Teil von ihm, genau wie der auf ihrem Rücken ein Teil von ihr war.

„Interessant.“ Cronus lehnte sich in seinem Thron zurück, der Inbegriff des nachdenklichen Souveräns. „Denkst du nicht, dass sie im Tartarus genug leidet?“

Zeit für die zweite Lüge. „Nein, das denke ich nicht.“ In Wahrheit musste die Göttin unglaublich leiden, so niedergeschmettert, wie sie bei ihrer letzten Unterhaltung gewirkt hatte. Und das gefiel ihm nicht.

„Und was wirst du tun, um ihr Leid zu vergrößern?“

„So sehr, wie sie mich hasst …“, begehrt, fügte er in Gedanken hinzu, damit Cronus nicht erkannte, welches Unbehagen ihn bei dem Gedanken erfasste, sie könnte ihn hassen, „… wird sie es besonders unerträglich finden, mein Haus zu säubern, meine Mahlzeiten zuzubereiten und mein Bett zu wärmen.“

Lächelnd blickte der Götterkönig zu dem geisterhaften Mädchen hoch. „Dasselbe, was du gern mit deinem Paris anstellen würdest, hm, meine Sienna? Ihn zu deinem Sklaven machen.“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im Geringsten. Und sie antwortete nicht.

Welcher Paris, fragte sich Atlas und zuckte dann mit den Schultern. Das interessierte ihn nicht. Im Moment war Nike das Einzige, was ihn beschäftigte.

„Mein König?“, brachte Atlas seine Frage in Erinnerung. „Ich brauche nur Eure Erlaubnis, um mit Nikes Folter zu beginnen. Meine Entschlossenheit sucht ihresgleichen. Ihr werdet nicht enttäuscht sein.“

Cronus wandte sich wieder ihm zu, sein Lächeln war nun wie weggewischt. Eine Minute verstrich unter Schweigen, dann eine zweite. Schließlich seufzte der Götterkönig. „Ich fürchte, ich muss bei meiner Antwort bleiben: Nein. Zwar gefällt mir der Gedanke, Nikes Qualen unter deiner Hand zu verstärken, doch ich bin nicht bereit, das Risiko einzugehen und ihr die Halsfessel abnehmen zu lassen. Selbst wenn es nur für die paar Sekunden ist, die es dauert, sie zu teleportieren. Sie ist die personifizierte Stärke, und sollte sie entkommen und ihre Brüder und Schwestern befreien, würde ein neuer himmlischer Krieg ausbrechen. Ich kann meine Aufmerksamkeit nicht auch noch darauf richten. Ich stelle ohnehin fest, dass ich einen Großteil meiner Zeit damit verbringe, die Herren der Unterwelt zu überwachen.“

Die Herren der Unterwelt. Soso. Atlas hatte nie mit ihnen zu tun gehabt. Es hatte sich dabei zwar um seine Feinde gehandelt, aber Atlas war schon lange ein Gefangener gewesen, bevor Zeus sie geschaffen hatte.

Doch er hatte Geschichten gehört und wusste, dass sie grausam waren … brutal.

„Mein König. Wenn Ihr mir nur …“

„Du hast meine Antwort gehört. Ich verstehe nicht, warum du immer noch hier bist.“

Nun spürte Atlas selbst Niedergeschlagenheit – und Wut – in sich wachsen. Am liebsten wäre er auf die Empore marschiert, hätte den König an der Kehle gepackt und geschüttelt. Wie konnte es jemand wagen, seine Bitte abzulehnen? Wie konnten seine Wünsche so achtlos beiseitegefegt werden? Stattdessen sagte er: „Wie Ihr wünscht, mein König. Ich danke Euch für Eure Zeit“, und wandte sich um. Jede andere Reaktion hätte eine Strafe nach sich gezogen.

Er marschierte aus dem Thronsaal, entschlossener denn je. Schon jetzt war die Entscheidung getroffen: Nichts würde ihn davon abhalten, Nike für sich zu beanspruchen, zur Hölle mit der Entscheidung des Königs! Er würde diese Frau besitzen, genau wie er es wollte.