Sag nichts. Tu es nicht. Geryon schluckte trocken. „Es tut mir leid.“ Nein. Hör auf damit. Bitte sie um diesen einen Kuss; wenigstens das, wenn du schon zu allem anderen zu feige bist. „Wie ich bereits sagte, ich kann Euch nicht helfen.“ Nein, nein, nein.
Wie sehr er sich in diesem Augenblick hasste.
Enttäuscht ließ sie die zarten Schultern sinken, und sein Selbsthass wurde umso größer.
„Aber weshalb? Dir muss doch ebenso viel daran gelegen sein wie mir, die Dämonen dort zu halten, wo sie hingehören. Oder nicht?“
„Sicher.“ Geryon wollte ihr die Gründe für seinen Widerstand nicht nennen. Er schämte sich zutiefst, auch nach all dieser langen Zeit. Und doch würde er es tun. Vielleicht würde sie sich dann endlich abwenden und zu ihrer alten Gewohnheit zurückkehren, so zu tun, als existierte er überhaupt nicht. So wie jetzt konnte es jedenfalls nicht weitergehen, er musste diesem Irrsinn ein Ende setzen. Seine Sehnsucht nach ihr wurde von Minute zu Minute stärker, übermächtiger, und sein Körper reagierte, machte sich bereit.
Sie ist nichts für dich.
Wie oft würde er sich das noch in Erinnerung rufen müssen?
„Ich habe meine Seele verkauft“, gestand er leise. Geryon war einer der ersten Menschen gewesen, die dereinst die Erde bevölkert hatten. Trotz seines hünenhaften Körpers und der damit verbundenen Unbeholfenheit war er mit seinem Los zufrieden gewesen. Er hatte das Glück gehabt, eine hinreißende Frau an seiner Seite zu wissen, auch wenn seine Familie sie für ihn ausgesucht hatte und er umgekehrt für sie – wie auch für alle anderen weiblichen Wesen, die er kannte – nicht sonderlich anziehend gewesen war.
Ein Jahr nach ihrer Heirat war sie von einer schlimmen Krankheit heimgesucht worden. Tiefe Verzweiflung hatte ihn gepackt, denn nichts schien ihr zu helfen. Obwohl er sie nicht hatte glücklich machen können, so gehörte sie doch zu ihm, und er hatte es als seine Pflicht angesehen, für ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden Sorge zu tragen. So hatte er in seiner Not die Götter um Hilfe angerufen.
Sie aber hatten seinem Flehen keine Beachtung geschenkt, und die Angst und Ohnmacht waren ins schier Unerträgliche gewachsen.
In jenem Moment war Luzifer auf der Bildfläche erschienen. Was für ein gerissener Bursche.
Um seine Angetraute zu retten – und vielleicht sogar endlich ihr Herz zu gewinnen –, hatte Geryon sich dem Fürsten der Finsternis ausgeliefert. Und kurz darauf hatte die Verwandlung ihren Lauf genommen. Hörner waren aus seinem Schädel gewachsen, die Hände zu riesigen Pranken geworden und die Fingernägel zu scharfen, tödlichen Krallen. Dunkles, rötliches Fell hatte plötzlich seine Beine bedeckt, an deren Enden sich zu seinem Entsetzen keine Füße mehr befanden, sondern Hufe.
Binnen Sekunden war er vom Mann zum Ungeheuer geworden, mehr Tier als Mensch.
Seine Frau indes war tatsächlich gesundet, so wie Luzifer es ihm versprochen hatte. Doch an ihrer fehlenden Zuneigung zu Geryon hatte auch das nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Nicht genug damit, dass seine selbstlose Tat ihr nicht das Geringste bedeutet hatte, nein: Obendrein hatte sie ihn für einen anderen Mann verlassen. Einen Mann, mit dem sie sich offenbar von Anfang an heimlich getroffen hatte.
Welch ein Trottel er gewesen war. Ein Rindvieh. Alles umsonst, für nichts und wieder nichts.
„Was beschäftigt dich, Torwächter? Nie habe ich dich so … gebrochen gesehen.“
Er ballte die Fäuste, so fest, dass sich die Krallen tief in seine Haut drückten, und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart zu richten. Und auf die zauberhafte Göttin, die ihn besorgt ansah. Mitgefühl. In ihrem Gesicht ebenso wie in ihrer Stimme. Mitgefühl, von dem er sich nicht erweichen lassen durfte. Kalt und hart, das war es, was er sein musste. Immer. Denn anders würde er seine Zeit hier nicht überleben.
„Mein Handeln unterliegt nicht mehr meinem Willen. Sosehr ich auch wünschte, es wäre anders, ich kann nichts für Euch tun. Nun … bitte. Ihr habt doch sicher Pflichten, denen Ihr nachgehen solltet?“
„Ich tue genau jetzt meine Pflicht. Wie steht es mit dir?“
Er wurde rot.
Sie seufzte erneut. „Verzeih, ich wollte nicht schnippisch sein. Ich bin erschöpft.“
Die Göttin musterte ihn, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Beklommen trat er von einem Bein aufs andere. Ihrem durchdringenden Blick ausgesetzt zu sein machte ihn nervös – schließlich wusste er nur allzu genau, wie abstoßend sein Äußeres war. Doch zu seiner Überraschung zeigte sich in ihren warmen Augen noch immer keine Spur von Abscheu, als sie nachdenklich die Brauen zusammenzog und fragte: „Deine Seele gehört dem Fürsten der Finsternis?“
„Ja.“
„Aber wäre sie dein, würdest du mir in dieser Sache deine Unterstützung gewähren?“
„Ja“, wiederholte er heiser. Und sie? Würde sie ihm nach wie vor eine Belohnung für seine Hilfe anbieten?
„Nun gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Seine Augen weiteten sich entsetzt. Mit Luzifer verhandeln?
„Nein! Das dürft Ihr …“
Doch ehe er sie aufhalten konnte, war sie verschwunden.
In den Gewölben der Hölle:
„Luzifer, höre meine Worte. Ich verlange, mit dir zu sprechen. Du wirst dich mir zeigen. Zu dieser Stunde, heute, in diesem Raum. Allein. Ich werde genauso bleiben, wie ich gegenwärtig bin.“ Kadence, Göttin der Unterdrückung, wusste ihre Forderungen klar und unmissverständlich zu formulieren. Andernfalls nämlich würde der oberste Dämonenherrscher sie „auslegen“, wie es ihm gefiel, was sehr unangenehme Überraschungen mit sich bringen konnte. „Und du wirst vollständig bekleidet sein.“
Hätte sie schlicht um eine Unterredung mit ihm ersucht, wäre es gut möglich gewesen, dass sie sich unversehens in seinem Bett wiedergefunden hätte, an Händen und Füßen gefesselt, splitternackt und von einer Horde geifernder Monster umgeben.
Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass eine Reaktion auf ihre Forderung kam. Doch das hatte sie auch nicht erwartet. Er liebte es, sie warten zu lassen. Es gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Gib dich beschäftigt und desinteressiert.
Eingehend betrachtete Kadence ihre Umgebung, als sei sie nur gekommen, um sich in Luzifers Gefilden umzuschauen. Anstelle von Stein und Beton bestanden die Wände seines Palastes aus Flammen. Ein knisterndes, goldorangefarbenes Inferno. Tödlich bei der leisesten Berührung.
Sein Thron war geformt aus schwarzer Asche und Knochen, zwischen denen weitere züngelnde Flammen tanzten. Daneben, nur wenige Schritte entfernt, stand ein blutverschmierter Opferstein. Darauf lag noch immer ein lebloser Körper – abzüglich des Kopfes. Der allerdings würde bald schon von allein an seinen Platz zurückkehren, auf dass die Folterung von Neuem beginnen konnte. Das war der Lauf der Dinge hier unten.
Keine Seele würde dem endlosen Martyrium jemals wieder entrinnen, wenn sie erst einmal der Unterwelt anheimgefallen war. Nicht einmal im Tod.
Kadence verabscheute alles an diesem Ort. Dichte Schwaden beißenden Qualms stiegen aus den Feuern auf und legten sich um ihre Schultern wie körperlose Finger der Verdammten. Wie gern hätte sie mit der Hand den Gestank wegzufächeln versucht, doch sie tat es nicht. Sie würde keine Schwäche zeigen, und sei es auch nur durch solch eine winzige Geste.
Ließe sie sich etwas anmerken, das wusste sie genau, wäre sie innerhalb von Sekunden in eine riesige Wolke dieses giftigen, pechschwarzen Rauchs eingehüllt. An nichts fand Luzifer mehr Gefallen, als Schwachpunkte zu entdecken und sie auszunutzen.
Diese Lektion hatte Kadence bereits kurz nach ihrer Ankunft gelernt. Gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen – als sie gekommen war, um Hades und Luzifer darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie zu ihrer Wächterin ernannt worden war. Wer wäre besser geeignet als sie – die Verkörperung der Eroberung und der Unterwerfung –, um sicherzustellen, dass Dämonen und Verdammte genau dort blieben, wo sie hingehörten? Zumindest waren die Götter dieser Ansicht gewesen und hatten sie dafür ausgewählt.
Zwar teilte sie deren Meinung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten nicht, aber sich zu widersetzen hätte Bestrafung zur Folge gehabt. Mittlerweile war sie jedoch mehr als einmal zu dem Schluss gekommen, dass sie vielleicht besser die Strafe hätte in Kauf nehmen sollen. Mit Steinen beworfen zu werden, blutige Tierleichen auf ihren Eingangsstufen vorzufinden, die man als Warnung hinterlassen hatte … All das wäre erträglich im Gegensatz zu dem Dasein, das sie jetzt führte. Ein Dasein, dessen Tage sie damit zubrachte, in einer nahe gelegenen Höhle zu schlafen – doch es war kein echter Schlaf; es war ein ruheloses Dämmern, währenddessen ihr geistiges Auge in glasklaren Visionen pausenlos über die verschiedenen Dämonenlager schweifte –, und in dessen Nächten sie eine kahle, hässliche Steinmauer bewachte.
Während der Torwächter sie die ganze Zeit über beobachtete.
Das jedoch war kein so hartes Los.
Viele Jahre lang hatte es sie verunsichert, wie er jede ihrer Bewegungen verfolgte. Er unterschied sich so sehr von allem, was sie bis dahin gesehen hatte; halb Mann, halb Ungeheuer, und in seiner Gesamtheit seltsam … anders. Aber nach einer Weile hatte sie sich nicht nur an seinen ausdruckslosen Blick gewöhnt, sondern sogar begonnen, Trost darin zu finden. Er beschützte sie vor Dämonen und bösen Seelen, wenn sie durch das Tor schlüpften und bei ihren Fluchtversuchen jeden angriffen, der ihnen im Weg stand. Der Wächter drängte sie zurück, streckte sie nieder; ganz egal, wie schwer er selbst dabei verletzt wurde.
Dies war das Mindeste, das Kadence für ihn tun konnte.
Ich habe meine Seele verkauft, hatte er gesagt. Wofür? fragte sie sich. Was hatte er im Gegenzug bekommen? Hielt er diesen Tausch für ein gutes Geschäft oder bereute er ihn mittlerweile? Beinahe hätte sie ihn danach gefragt, doch dann war ihr wieder eingefallen, wie unangenehm ihm schon ihr Gespräch über die Risse in der Mauer gewesen zu sein schien. Mit persönlichen Fragen konfrontiert zu werden wäre ihm wohl kaum behaglicher gewesen, und so hatte sie es sein lassen.
Was vermutlich auch besser so war. Im Moment musste sie sich einzig und allein auf das konzentrieren, weswegen sie hier war. Wie hatte ihr entgehen können, welches Unheil sich in den Tiefen der Hölle zusammenbraute? Dass Hohe Herren ein für alle Mal zu entfliehen versuchten?
Sollte Luzifer etwa ihren geistigen Blick von den entscheidenden Gegenden seines Reiches ferngehalten haben? Nur er war mächtig genug dazu. Doch wenn ihr Verdacht tatsächlich stimmte: Was hoffte er zu erreichen, indem er seinen Untergebenen bei ihren Ausbruchsversuchen half? Würde sie ihn direkt darauf ansprechen, bekäme sie nichts als Lügen zu hören. So viel stand fest.
Also, was tun? Sie fühlte sich hilflos, mehr als je zuvor in ihrem Leben.
Nein, das war nicht ganz richtig. Während ihres ersten Besuchs hier in seinem Palast hatte Luzifer sofort ihre Unsicherheit gespürt – und seitdem auch die winzigste Gelegenheit genutzt, sie zu schüren. Eine flüchtige Berührung mit seiner plötzlich flammenlodernden Hand hier, eine anzügliche Bemerkung dort. Jedes Mal, wenn sie ihn aufsuchte, um irgendeine Unregelmäßigkeit zu besprechen, hatte sie erneut feststellen müssen, dass sie ihm nicht gewachsen war. Dass er mit ihr spielte und sie es sich gefallen ließ.
Das enttäuschte die Götter natürlich. Unter anderen Umständen hätten sie Kadence schon lange zurückbeordert, davon war sie überzeugt – wäre da nicht ihre unumkehrbare Verschmelzung mit der Barriere gewesen. So war sie für immer und alle Zeiten an die Mauer gebunden, für deren Unversehrtheit sie die Verantwortung trug. Eigentlich hatte diese Maßnahme dazu dienen sollen, ihr die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern. Doch nicht einmal die Götter selbst hatten damals geahnt, wie tief greifend jene Verbindung sein würde. Was mit ihr geschehen war, ging weit über die bloße Fähigkeit hinaus, reparaturbedürftige Stellen zu erspüren. Nein, Kadence hatte bald schon erkennen müssen, dass die Mauer zu ihrem einzigen Lebenszweck geworden war.
Mit jedem Herzschlag wurde sie von ihrer Essenz durchströmt, als sei das steinerne Bollwerk ein lebendiges Wesen, dessen Empfindungen sie wahrnahm, als wären es ihre eigenen, ob sie wollte oder nicht.
Das erste Mal, dass nach ihrer Ankunft einer der Dämonen von innen wütend daran gescharrt hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt, weil der heftige Stich in ihrer Brust sie vollkommen unerwartet getroffen hatte. Inzwischen hatte sie sich an dieses Gefühl gewöhnt, und es schockierte sie nicht mehr, obwohl sie nach wie vor jede kleinste Erschütterung spürte. Streifte eine Seele im Vorbeiflug den Felsen auch nur leicht, verursachte das ein Prickeln auf Kadences Haut. Züngelten die Flammen daran empor, spürte sie ein schmerzhaftes Brennen. Und dennoch, die jüngsten Attacken der Hohen Herren hatte sie nicht bemerkt. Warum?
Natürlich, in letzter Zeit war ihr schleichend bewusst geworden, dass sie immer öfter ohne ersichtlichen Grund mit Müdigkeit und Erschöpfung zu kämpfen hatte. Dann diese unerklärlichen Schmerzen, die sie überkamen wie Blitze, die ihren Körper durchzuckten. Doch ihre Visionen hatten nichts Beunruhigendes gezeigt. Nun, jedenfalls nichts Beunruhigenderes als das, was sie gezwungenermaßen jeden Tag mit ansehen musste.
Zumindest wusste sie jetzt, was die Schmerzen verursachte: der Riss in der Mauer. So eng, wie sie an diese düstere Unterwelt gebunden war, brachte er sie wortwörtlich um.
Du schweifst ab. Konzentrier dich! Unaufmerksamkeit konnte sie teuer zu stehen kommen. Sehr teuer. Dabei war der Ausgang dieser Verhandlung von so immenser Wichtigkeit. Alles hing davon ab, dass sie erfolgreich war. Sich gegen Luzifer durchsetzte.
Die Geräusche, die das Geschehen außerhalb des Palastes begleiteten, wurden immer unerträglicher. Das irre Lachen der Dämonen, die Schreie der Gefolterten, das feuchte Schmatzen von Fleisch, das sich vom Knochen ablöste. Und dieser widerliche Gestank … Der allein war schon eine Hölle für sich.
Inmitten eines solchen Grauens gelassen zu bleiben war nicht leicht. Ganz besonders nicht in einer Situation wie dieser. Bereits seit Wochen musste dieses Rudel der gefährlichsten aller Dämonenherrscher sein heimliches Zerstörungswerk vorangetrieben haben. Denn wenn schon die äußere Seite einen sichtbaren Riss hatte, dann jagte ihr der Gedanke, wie die andere wohl erst aussehen mochte, einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie hätte doch zumindest sehen müssen, wie die Dämonen ihre Lager verließen und sich der Mauer näherten. Aber nein, nicht einmal das hatten ihre sonst so unfehlbaren Visionen ihr gezeigt.
Genug jetzt. Offenbar hatte ihre Konzentrationsfähigkeit stärker gelitten, als sie gedacht hatte.
„Luzifer“, rief sie abermals. „Du hast meine Wünsche vernommen. Nun komm ihnen nach. Sonst gehe ich, und du verpasst eine einmalige Chance, einen Handel mit mir abzuschließen.“
Schritte hallten über den Boden, ließen ihn erbeben, und plötzlich teilten sich die Flammen. Endlich. Hindurch kam Luzifer geschlendert, gut gelaunt und frisch wie ein Sommermorgen.
„Selbstverständlich habe ich deine wohlklingende Stimme vernommen“, schmeichelte er in seidigem Tonfall. Und er lächelte, sein Gesichtsausdruck der Inbegriff von Verschlagenheit. „Du erwähntest einen Handel? Was kann ich für dich tun, meine Süße?“