Mit offenem Mund betrachtete Bianka Skyhawk ihre neue Umgebung. Im einen Moment war sie noch einem eisigen Tal entgegengestürzt – in der Hoffnung, den immer unangenehmer werdenden Fragen ihrer Schwester zu entrinnen und außerdem ihr Wer-hat-die-wenigsten-Knochenbrüche-Spiel zu gewinnen –, und im nächsten hatte sie in den Armen eines umwerfenden blonden Mannes gelegen. Was nicht notwendigerweise etwas Gutes war. Sie hatte versucht, ihn abzustechen, und er hatte sie abgeblockt. Abgeblockt, verflucht noch mal. Niemand sollte in der Lage sein, den Todesstoß einer Harpyie abzublocken.
Jetzt stand sie im Inneren einer Wolke – oder eher eines Wolkenpalasts. Eines Palasts, der alles übertraf, was sie je gesehen hatte. Eines Palasts, der warm war und angenehm duftete – mit einem fast greifbaren Gefühl von Frieden in der Luft.
Die Wände bestanden aus nichts als weißem Nebel, und vor ihren Augen entstanden Fresken, scheinbar lebendig, von geflügelten Kreaturen – sowohl himmlischen als auch dämonischen –, die durch einen strahlenden Morgenhimmel glitten. Die Bilder erinnerten sie an Danikas Gemälde. Sie war das Allsehende Auge, das ungehindert in Himmel und Hölle blicken konnte. Obwohl der Fußboden aus derselben ätherischen Substanz zu bestehen schien, gab er den Blick auf das Land und die Menschen darunter frei – und war dabei trotzdem beruhigend solide.
Himmlisch. Wolke. Das Himmelreich? Pures Entsetzen durchströmte sie, als sie herumwirbelte und sich dem Mann entgegenstellte, der sie entführt hatte. „Himmlisch“ war das perfekte Wort. Von seinem blonden Kopf über die Kraft in jenem schlanken, muskulösen, sonnengeküssten Leib bis hin zu den goldenen Flügeln, die aus seinem Rücken ragten. Selbst das knöchellange weiße Gewand und die Sandalen an seinen Füßen verliehen ihm die Aura eines Heiligen.
War er also ein Engel? Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Menschlich war er nicht, so viel war sicher. Kein Mensch könnte je den Vergleich mit einer solchen blendenden Perfektion bestehen. Aber verdammt, diese Augen … dunkel und hart und fast … na ja … leer.
Seine Augen spielen keine Rolle. Engel waren Dämonenmörder, und sie war so nah an der Grenze zum Dämon, wie ein Mädchen nur sein konnte. Immerhin war Luzifer selbst ihr Urgroßvater. Luzifer, der ein Jahr lang ungebremst auf der Erde gewütet hatte, plündernd und vergewaltigend. Nur einige wenige Frauen waren schwanger geworden, doch diese wenigen hatten bald schon die ersten Harpyien zur Welt gebracht.
Unsicher, was sie tun sollte, marschierte Bianka einmal um den Blondschopf herum. Er blieb stehen, selbst als sie hinter seinem Rücken war, als hätte er von ihr nichts zu befürchten. Vielleicht hatte er das ja tatsächlich nicht. Offensichtlich verfügte er über Macht. Erstens hatte er sie geblockt – darüber kam sie immer noch nicht hinweg. Und zweitens irgendwie ihren Mantel und all ihre Waffen verschwinden lassen, ohne sie auch nur anzufassen.
„Bist du ein Engel?“, fragte sie, als sie wieder vor ihm angelangt war.
„Ja.“ Kein Zögern. Als wäre seine Herkunft nichts, wofür man sich schämen müsste.
Armer Kerl, dachte sie schaudernd. Augenscheinlich hatte er keine Ahnung, mit was für einem miesen Blatt er ins Leben geschickt worden war. Hätte sie sich entscheiden müssen, ob sie ein Engel oder ein Hund sein wollte, sie hätte den Hund genommen. Die konnte man wenigstens respektieren.
So nah war sie noch keinem Engel gekommen. Gesehen hatte sie schon einen, ja. Oder, na ja, etwas, das sie für einen Engel gehalten und das sich später als getarnter Dämon entpuppt hatte. So oder so, der Kerl hatte ihr nicht gefallen. Außerdem war er der Vater ihrer jüngsten Schwester. Sich selbst hielt er für einen Gott und alle anderen für unter seiner Würde.
„Hast du mich hergebracht, um mich zu töten?“, fragte sie. Nicht dass er damit Erfolg hätte. Er würde schon noch herausfinden, dass sie keine leichte Beute war. Über die Jahre hatten viele Unsterbliche versucht, sie abzumurksen, aber geschafft hatte es keiner. Offensichtlich.
Als er seufzte, strich sein Atem warm über ihre Wangen. Sicher keineswegs zufällig hatte sie den Abstand zwischen ihnen verringert; er roch wie die Gletscher, die sie so liebte. Frisch und rein mit einem Hauch von erdiger Würze.
Offenbar wurde ihm gerade erst bewusst, dass nur noch ein Flüstern sie trennte. Denn seine Lippen formten sich – für einen Mann zu voll, aber für ihn irgendwie trotzdem perfekt – zu einer störrischen Linie. Ohne dass sie eine Bewegung bemerkt hätte, stand er plötzlich ein paar Zentimeter weiter entfernt. Hm. Interessant. War er absichtlich von ihr abgerückt?
Neugierig trat sie auf ihn zu.
Er wich zurück.
Also tatsächlich. Warum? Hatte er Angst vor ihr?
Aus reinem Trotz, wie so oft, machte sie wieder einen Schritt in seine Richtung. Und wieder schritt er rückwärts. So, so. Der große böse Engel wollte also nicht in ihrer Reichweite sein. Fast hätte sie gegrinst.
„Also“, hakte sie nach. „Hast du?“
„Nein. Ich habe dich nicht hergebracht, um dich zu töten.“ Seine Stimme war tief und samtig, verführerisch, eine Sünde für sich. Und doch lag über allem ein Klang absoluter Wahrheit. Bianka hatte den Verdacht, sie hätte alles geglaubt, was er auch geantwortet hätte. Als wäre alles, was er sagte, vom Schicksal vorherbestimmt. Unveränderbar. „Ich will, dass du dir meinen Lebensstil zum Vorbild nimmst. Ich will, dass du von mir lernst.“
„Warum?“ Was würde er tun, wenn sie ihn berührte? Während sie sich das fragte, flatterten ihre winzigen, hauchfeinen Flügel zwischen ihren Schulterblättern. Ihr T-Shirt war extra für ihre Rasse geschnitten, gerade weit genug, um die Flügel nicht zu behindern, wenn sie auf Hochgeschwindigkeit umschaltete. „Warte. Antworte nicht. Lass uns erst ein bisschen fummeln.“ Das hatte sie zwar nicht vor, aber das musste er ja nicht wissen.
„Bianka“, entgegnete er, offensichtlich langsam an die Grenze seiner Geduld gelangt. „Das ist kein Spiel. Zwing mich nicht, dich an mein Bett zu fesseln.“
„Uuuh, das gefällt mir. Klingt versaut.“ Blitzschnell huschte sie um ihn herum, strich mit den Fingerspitzen über seine Wange und seinen Hals. „Deine Haut ist ja babyweich.“
Er sog den Atem ein und versteifte sich. „Bianka.“
„Aber bestückt bist du um einiges besser.“
„Bianka!“
Sie gab ihm einen Klaps auf den Hintern. „Ja?“
„Du wirst sofort damit aufhören!“
„Zwing mich doch.“ Sie lachte, und das amüsierte, sorglose Geräusch hallte zwischen ihnen wider.
Mit finsterer Miene streckte er die Hand aus und packte sie am Oberarm. Es blieb keine Zeit, ihm auszuweichen; schockierenderweise war er schneller als sie. Mit einem Ruck zerrte er sie vor sich, und verengte dunkle Augen starrten auf sie herab.
„Es wird keine Berührungen mehr geben. Hast du verstanden?“
„Und du?“ Ihr Blick huschte zu seiner Hand, mit der er immer noch ihren Arm umklammerte. „Im Augenblick bist du derjenige, der mich berührt.“
Als sein Blick dem ihren zu der Stelle folgte, an der seine Haut auf ihrer lag, leckte er sich die Lippen. Plötzlich wurde sein Griff fester, genau so, wie sie es mochte. Dann ließ er sie los, als stünde sie in Flammen, und vergrößerte aufs Neue den Abstand zwischen ihnen.
„Hast du verstanden?“ Sein Ton war hart und gepresst.
Wo war das Problem? Eigentlich sollte er darum betteln, sie berühren zu dürfen. Sie war eine begehrenswerte Harpyie, verdammt noch mal. Ihr Körper war ein Kunstwerk und ihr Gesicht die absolute Perfektion. Ihm zuliebe sagte sie dennoch: „Ja ja, ich hab’s verstanden. Das heißt aber nicht, dass ich gehorchen werde.“ Ihre Haut kribbelte, sehnte sich danach, ihn wieder zu spüren. Böses Mädchen. Böses, böses Mädchen. Das ist ein dämlicher Engel und deshalb ganz sicher kein angemessenes Spielzeug.
Es dauerte einen Moment, bis er ihre Worte aufgenommen hatte. „Hast du keine Angst vor mir?“ Er faltete die Flügel auf dem Rücken, sodass sie in hohen Bögen über seine Schultern hinausragten.
„Nein“, erwiderte sie, hob eine Augenbraue und tat ihr Bestes, sich unbeeindruckt zu zeigen. „Sollte ich?“
„Ja.“
Tja, dafür würde er sich erst die feurigen Klauen der Rasse ihres Vaters wachsen lassen müssen. Das war das Einzige, wovor sie sich fürchtete. Nachdem sie als Kind gekratzt worden war, das ätzende Brennen des Feuers durch ihren gesamten Leib hatte strömen spüren, nachdem sie sich tagelang unter quälenden, scheinbar niemals enden wollenden Schmerzen gewunden hatte, würde sie alles tun, um diese Erfahrung nicht noch einmal zu machen.
„Tja, hab ich aber immer noch nicht. Und langsam fängst du an, mich zu langweilen.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte böse zu ihm hinauf. „Ich hab dir eine Frage gestellt, aber du hast sie nicht beantwortet. Warum willst du, dass ich wie du werde? So sehr, dass du mich von allen Orten auf der Welt ausgerechnet in den Himmel verfrachtet hast?“
Unter seinem linken Auge zuckte ein Muskel. „Weil ich gut bin und du böse.“
Wieder entschlüpfte ihr ein Lachen. Er runzelte die Stirn. Jetzt wurde ihr Lachen stärker, bis ihr Tränen über die Wangen liefen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, kicherte sie. „Gute Arbeit. Hast die Langeweile auf Abstand gehalten.“
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. „Das war kein Scherz. Ich habe vor, dich für immer hierzubehalten und dir beizubringen, sündenfrei zu leben.“
„Götter, wie – ups, sorry. Ich meinte, du meine Güte, wie süß bist du denn? ‚Ich habe vor, dich für immer hierzubehalten und dir was beizubringen‘“, wiederholte sie und imitierte ihn, so gut sie konnte. Es gab keinen Grund, sich mit ihm über ihre spätere Flucht zu streiten. Sie würde ihm seinen Irrtum schon vor Augen führen, sobald sie beschloss, abzuhauen. Für den Augenblick war sie viel zu neugierig geworden. Auf ihre Umgebung, versicherte sie sich, nicht auf den Engel. Der Himmel war kein Ort, den zu besuchen sie je erwartet hätte.
Sein Kinn hob sich eine Spur, doch seine Augen blieben ausdruckslos. „Ich meine es ernst.“
„Da bin ich mir ganz sicher. Aber du wirst bald herausfinden, dass du mich nirgendwo festhalten kannst, wo ich nicht sein will. Und – ich? Sündenfrei? Was für ein Knaller!“
„Wir werden sehen.“
Möglicherweise hätte seine Sicherheit sie nervös gemacht, hätte sie weniger Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gehabt. Als Harpyie konnte sie einen Halbtonner mit einer Hand heben, als wäre er nichts weiter als ein Kieselstein, konnte sich schneller bewegen, als für das menschliche Auge wahrnehmbar – und hatte keinerlei Skrupel, einen unwillkommenen Gastgeber abzuschlachten.
„Sei ehrlich“, meinte sie. „Du hast mich gesehen und wolltest mal probieren, hab ich recht?“
Für einen Sekundenbruchteil lag blanker Horror auf seinen Zügen. „Nein“, brachte er heiser hervor, räusperte sich und sagte noch einmal etwas glatter: „Nein.“
Beleidigender Bastard. Warum dieses Entsetzen bei der Vorstellung, etwas mit ihr anzufangen? Sie war diejenige, die entsetzt sein sollte. Offensichtlich war er ein richtiger Streber-Gutmensch, noch viel mehr als sie vermutet hatte. Ich bin gut und du bist böse, hatte er gesagt. Uff.
„Dann erklär mir noch mal, warum du mich ändern willst. Hat dir niemand beigebracht, dass man an Perfektion nicht rumpfuschen soll?“
Wieder zuckte dieser Muskel unter seinem Auge. „Du bist eine Bedrohung.“
„Ja, klar, Kumpel.“ Sie klaute eben gerne – na und? Sie konnte töten, ohne mit der Wimper zu zucken – noch einmal: na und? Sie war schließlich keine Finanzbeamtin oder so was. „Wo ist meine Schwester Kaia? Sie ist mit Sicherheit genauso eine Bedrohung wie ich. Warum versuchst du nicht, sie zu ändern?“
„Sie ist immer noch in Alaska und fragt sich, ob du in einer Eishöhle begraben bist. Und du bist im Moment mein einziges Projekt.“
Projekt? Arschloch. Aber der Gedanke, wie Kaia auf der Suche nach ihr jeden Stein umdrehte, ohne eine Spur von ihr zu entdecken, gefiel ihr. Das war fast, als würden sie Verstecken spielen. Diesmal würde Bianka gewinnen, keine Frage.
„Du wirkst … begeistert“, stellte er fest und legte den Kopf schief. „Warum? Beunruhigt es dich nicht, wenn du an die Sorge deiner Schwester denkst?“
Jep. Gutmensch mit Sternchen. „Ist ja nicht so, als würde ich lange hierbleiben.“ Sie lugte über seine Schulter und entdeckte nur noch mehr von dem nebligen Weiß. „Hast du was zu trinken da?“
„Nein.“
„Essen?“
„Nein.“
„Klamotten?“
„Nein.“
Langsam hoben sich ihre Mundwinkel. „Ich schätze, das bedeutet, du läufst gern nackt rum. Heiß.“
Seine Wangen wurden rot. „Genug. Du versuchst, mich in die Falle zu locken, und das gefällt mir nicht.“
„Dann hättest du mich nicht herbringen sollen.“ Hey, Moment mal. Er hatte ihr immer noch nicht wirklich gesagt, warum er sich gerade sie als Projekt ausgesucht hatte. „Sei ehrlich. Brauchst du bei irgendwas meine Hilfe?“ Immerhin war sie wie viele ihrer Harpyienschwestern eine Söldnerin. Sie ließ sich dafür bezahlen, Dinge ausfindig zu machen und zurückzuholen. Ihr Motto lautete: Wenn’s unethisch und illegal ist und du die Kohle hast, bin ich genau die Richtige für dich! „Ich meine, ich weiß, dass du mich nicht bloß hergebracht hast, um die Welt vor meinem schlechten Einfluss zu retten. Sonst wären ja noch Millionen anderer Leute hier.“
Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust.
Sie seufzte. Mit Männern hatte sie genug Erfahrung, um zu wissen, dass er solche Fragen erst mal nicht mehr beantworten würde. Ach, na gut. Sie hätte ihn vom Gegenteil überzeugen können, indem sie ihn nervte, bis er nachgab, aber das war ihr die Mühe nicht wert.
„Also, was machst du so, wenn du mal Spaß haben willst?“
„Ich vernichte Dämonen.“
Wie dich, beendete sie seinen Satz im Stillen. Aber er hatte bereits erklärt, dass er nicht vorhatte, sie umzubringen. Und sie glaubte ihm – wie könnte sie auch nicht? Diese Stimme … „Also du willst mir nichts tun. Du willst mich nicht anfassen, aber du willst, dass ich bis in alle Ewigkeit hierbleibe.“
„Ja.“