Folge einfach meinen Bewegungen“, forderte Geryon sie auf. „Meinst du, du schaffst das?“
„Ja. Natürlich.“ Wirklich? Sie presste die Lippen aufeinander und begann, sich synchron mit ihm an der zerklüfteten Mauer entlangzuschieben. Schrecken erfüllte sie beim Gedanken an das bodenlos erscheinende Loch, das unter ihr wartete – weit mehr noch war sie allerdings mit dem männlichen Wesen hinter sich beschäftigt, das sie mit seinem breiten Rücken schützte, ihr Halt gab. „Wer weiß, vielleicht ist die Mauer ja gar nicht so schlimm beschädigt, wie ich befürchtet hatte. Eine Göttin wird doch noch hoffen dürfen, nicht wahr?“
„Richtig. Eine Göttin darf hoffen.“
Wie sehr ihr Körper danach hungerte, sich an seinen zu schmiegen. Sie wollte seine Stärke spüren, ihm nah sein, wenn auch nur für einen Augenblick. Doch sie tat es nicht, zu groß war ihre Angst, ihn abzulenken. Oder zu erschrecken. Oder durch die plötzliche Verlagerung ihres Gewichts aus der Balance zu bringen.
Ein Felsstück löste sich von der schmalen Erhebung, auf die sie gerade ihren Fuß gestellt hatte, und sie schrie auf.
„Ruhig bleiben. Du darfst auf keinen Fall deine Angst zeigen, egal wodurch“, raunte er ihr zu. „Die Dämonen und das Feuer weiden sich daran. Sie werden mit allen Mitteln versuchen, mehr davon in dir auszulösen.“
„Sie sind lebendig? Die Flammen?“
„Einige von ihnen, ja.“
Bei allen Gottheiten, wie viele Dinge gab es denn noch hier unten, von denen sie nichts wusste? „Ich hatte nicht erwartet, dass der Abstieg so schwierig sein würde. Wenn ich uns doch nur beamen könnte.“
„Beamen?“
„Sich von einem Ort zum anderen bewegen, nur mit der Kraft der Gedanken.“
„Ja.“
„Und du kannst dich überall hindenken?“
„Überallhin, wo ich schon einmal war. Sich an ein unbekanntes Ziel zu beamen ist … nicht ganz ungefährlich.“
Er dachte einen Moment nach. „Bist du schon einmal auf dem Grund dieser Höhle gewesen?“
„Nein.“ Wahrscheinlich wunderte er sich darüber, dass sie, als einer der Hüter der Hölle, hier nicht jeden kleinsten Winkel erkundet hatte. Zumindest nicht, indem sie sich körperlich dorthin begab. Sie hatte sich für so wahnsinnig schlau gehalten. Einfach ihren Geist aussenden, das reichte doch. Nun wurde ihr klar, was für einen furchtbaren Fehler sie gemacht hatte.
„Dann möchte ich dich darum bitten, es nicht zu versuchen. Du könntest die Entfernung falsch einschätzen und an einer Mauerstelle landen, wo du dich nirgends festhalten kannst.“
Oder zehn Meter tief im Boden, aber das sagte sie ihm nicht.
„Trotzdem, es hört sich sehr praktisch an. Ich beneide dich.“
Der Ärmste. Er war seit unzähligen Epochen an seinem Platz gefangen gewesen. „Wenn du dich an jeden beliebigen Ort auf der Welt wünschen könntest, welcher wäre das?“ Vielleicht, wenn sie die fluchtwilligen Dämonen vernichtet hatten, könnte sie ihn dorthin begleiten. Natürlich wäre es ihr nicht möglich, bei ihm zu bleiben, denn sie hätte nach wie vor eine Aufgabe zu erfüllen – aber ihn glücklich zu sehen würde auch noch viele Jahre danach ihre Fantasie beflügeln und ihre Träume versüßen.
Er brummte in sich hinein. „Ich will dich nicht belügen, also verzeih bitte, dass ich diese Frage lieber nicht beantworte.“
Oh. „Sicher. Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.“ Warum erzählt er es mir nicht? Die Neugierde zerrte an ihren Nerven. Schämte er sich etwa für die Antwort? Und falls ja, weshalb? Sie wollte es unbedingt wissen, ließ das Thema jedoch widerwillig ruhen. Für den Augenblick.
„Wir sind fast da“, sagte er. Beinahe beim Riss auf der inneren Seite der Mauer.
„Gut.“ Er blieb weiterhin dicht hinter ihr, schien aber sorgsam darauf zu achten, sie nicht zu berühren. Seine Körperwärme hingegen konnte er nicht daran hindern, sich um Kadence zu legen, sie zu umschließen. Ein angenehmes Gefühl, selbst inmitten der Hitze dieses glühenden Schmelzofens der Hölle, in dem sie sich befanden. Seine Hitze war anders … aufregend.
Er hielt inne, was sie dazu zwang, dasselbe zu tun. „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist schlimmer, als ich erwartet hatte.“ Sein Atem kitzelte die feinen Härchen in ihrem Nacken.
„W…was?“, fragte sie verwirrt.
„Der Schaden an der Mauer. Er ist größer, als ich dachte.“
Du törichtes Weib, schalt sie sich selbst. Ihr Leben hing davon ab, dass diese Barriere unter keinen Umständen fiel, und was tat sie? Sich in Tagträumereien verlieren.
Sie holte tief Luft, richtete dann den Blick stur geradeaus und ihre gesamte Konzentration auf den Grund, aus dem sie hier waren. Anstatt auf den atemberaubenden Mann hinter ihr. Zuerst sah sie nur verstreute Krallenspuren, die sich kreuz und quer über das Gestein zogen. Doch dann erkannte sie langsam das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die verhältnismäßig dünnen Risse, die von außen sichtbar gewesen waren, stellten sich nun als die bloße Spitze des Eisbergs heraus. Auf dieser Seite klafften tiefe Furchen, jede einzelne so breit wie Geryons Oberarme.
Schlagartig wurde ihr klar: Hier war jegliche Hoffnung vergebens.
Unmöglich, das zu reparieren. Da gab es nichts zu beschönigen.
„Sie scheinen entschlossener zu sein, als ich vermutet hatte“, war alles, was sie herausbrachte, bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Es gab keine Veranlassung, ihre Befürchtungen laut auszusprechen. Geryon könnte denken, sie sei mit seiner Arbeit nicht zufrieden oder würde seine Fähigkeiten anzweifeln.
Er veränderte seine Position ein wenig, um sich besser festhalten zu können, sodass sein Arm jetzt unmittelbar über ihrer Schulter war. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, würde sie seine Haut durch den hauchdünnen Stoff ihres Umhangs spüren. Obwohl es Hunderte von Jahren zurücklag, dass sie zum letzten Mal einen Mann gehabt hatte, erinnerte sie sich doch daran, wie wohltuend eine so simple Berührung sein konnte.
„Sei unbesorgt, Kadence. Ich werde nicht zulassen, dass du verletzt wirst.“
Endlich gebrauchte er ihren Namen freimütiger, duzte sie inzwischen sogar ganz selbstverständlich. Die anfängliche Distanz, die er zu ihr gehalten hatte, wich immer mehr einer gewissen Vertrautheit, und das tat ihr ebenfalls gut.
„Nur damit du es weißt, ich lasse auch nicht zu, dass du verletzt wirst.“ Das war nicht einfach nur so dahingesagt, sie meinte es.
Es entstand eine kurze Pause, dann sagte er: „Danke.“ Er schien etwas verunsichert.
„Bitte, bitte.“
Er schluckte, oder wenigstens glaubte sie, ein Geräusch zu hören, das so klang. „Soll ich versuchen, auch die Risse auf dieser Seite zu verschließen?“
„Nein, nicht nötig.“ Zu viel Aufwand für zu wenig Nutzen, das war ihr jetzt klar. „Besser, wir konzentrieren uns darauf, so schnell wie möglich den Boden zu erreichen. Die Vernichtung der Hohen Herren ist der einzige Weg, noch ernstere Schäden zu verhindern.“
Hinter ihnen ertönte auf einmal schallendes, bösartiges Gelächter, und sie erstarrten beide.
Dämonen.
„Macht, dass ihr wegkommt!“, drohte Geryon.
Das Lachen wurde lauter. Kam näher.
Er seufzte. „Ich kann sie hier nicht abwehren, und das wissen sie“, brummte er frustriert und umfasste Kadences Taille.
Sie keuchte. Endlich. Er hatte sie angefasst. Es fühlte sich wundervoll an, überwältigend, sein Griff rau und unnachgiebig. Kein Balsam für die Seele, wie sie erwartet hatte. Nein, stattdessen wurde sie von glühender Leidenschaft durchzuckt. Und einem brennenden Verlangen nach mehr.
„Was hast du vor?“
„Zeit, unseren Abstieg etwas zu beschleunigen, Kadence“, sagte er, dann ließ er den Felsvorsprung los und riss sie mit sich in die Tiefe.