Halt still, Nike. Du tust dir nur selbst weh.“ Atlas, titanischer Gott der Stärke, blickte hinab auf den Fluch seiner Existenz. Nike, griechische Göttin der Stärke. Und des Sieges, fügte er in Gedanken höhnisch hinzu. Sie liebte es, ihm unter die Nase zu reiben, dass viele sie die Göttin der Stärke und des Sieges nannten. Als wäre sie etwas Besseres als er. In Wahrheit war sie sein Gegenstück in der Welt der Götter. Ihm ebenbürtig. Seine Feindin. Und eine richtig miese Schlampe.
Zwei seiner besten Männer hielten sie an den Armen fest, zwei an den Beinen. Eigentlich hätten sie sie ohne Probleme am Boden halten müssen. Immerhin trug sie ein Halsband, und diese Halsfessel hinderte sie daran, auch nur die geringste ihrer göttlichen Kräfte einzusetzen. Selbst ihre legendäre Stärke – die in keiner Weise an seine herankam, um das mal klarzustellen. Aber keine Frau war je sturer gewesen. Oder entschlossener, ihn umzulegen. Ohne Unterlass kämpfte sie gegen die Männer, schlug, trat und biss wie ein in die Ecke getriebenes Tier.
„Dafür werde ich dich umbringen“, knurrte sie.
„Warum? Ich mache nichts anderes mit dir als das, was du mir damals angetan hast.“ Mit einer schroffen Bewegung zog Atlas sich das Shirt über den Kopf und warf den Stoff beiseite, entblößte seine Brust, seinen durchtrainierten Bauch. Dort, in der Mitte, spannte sich von einer kleinen braunen Brustwarze bis zum anderen in großen schwarzen Lettern ihr Name, für alle Welt zu sehen. N-I-K-E.
Sie hatte ihn gebrandmarkt, ihn zu ihrem Eigentum erniedrigt.
Hatte er es verdient? Vielleicht. Einst war er selbst ein Gefangener in diesem trostlosen Reich gewesen. Im Tartarus, dem Gefängnis der Götter. Ein gestürzter Gott, weggesperrt und vergessen, bloßer Abschaum. Um zu entkommen, war er zu allem bereit gewesen. Zu allem. Und so hatte er Nike verführt, eine seiner Wächterinnen. Hatte ihre Gefühle für ihn gegen sie ausgespielt.
Auch wenn sie es heute abstreiten würde, damals hatte sie sich wahrhaftig ein wenig in ihn verliebt. Der Beweis: Sie hatte seine Flucht arrangiert, ein Verbrechen, das unter Todesstrafe stand. Trotzdem war sie bereit gewesen, es zu riskieren. Für ihn. Doch noch bevor sie ihm die Halsfessel abnehmen konnte, die ihn daran hinderte, sich wegzubeamen – also Kraft seiner Gedanken an einen anderen Ort zu gelangen –, hatte sie herausgefunden, dass er noch einige andere Wächterinnen verführt hatte.
Warum sich auch auf eine verlassen, wenn ihm vier nützlicher sein konnten?
Er hatte darauf gesetzt, dass keine der griechischen Frauen ihre Affäre mit einem versklavten Titanen bekannt werden lassen wollte. Hatte auf ihre Verschwiegenheit gezählt.
Stattdessen hätte er lieber mit ihrer Eifersucht rechnen sollen. Frauen!
Nike hatte begriffen, dass sie von Atlas benutzt worden war, dass seine Gefühle nie echt gewesen waren. Doch statt ihn zurück in seine Zelle werfen zu lassen und so zu tun, als würde er nicht existieren – oder ihn zusammenschlagen zu lassen –, hatte sie ihn zu Boden gedrückt und für immer gebrandmarkt.
Jahrelang hatte er davon geträumt, sich dafür bei ihr zu revanchieren. Manchmal glaubte er, dass dieses Verlangen das Einzige war, das ihn in den Jahrhunderten in diesem Höllenloch bei Verstand gehalten hatte. Jahrhunderte, die er in völliger Einsamkeit verbracht hatte, die Dunkelheit sein einziger Gefährte.
Was für ein paradiesischer Moment war es gewesen, als die Mauern des Gefängnisses schließlich zu bröckeln begonnen hatten. Als die Sicherheitsmaßnahmen versagten. Als die Halsbänder der Eingesperrten zerfielen. Es hatte eine Weile gedauert, doch schließlich hatten er und seine Brüder sich endlich freigekämpft. Brutal und ohne Gnade hatten sie die Griechen angegriffen.
Innerhalb von Tagen hatten sie den Sieg errungen.
Die Griechen waren geschlagen und nun genau dort eingesperrt, wo sie die Titanen gefangen gehalten hatten. Atlas hatte sich angeboten, die Aufsicht über das Reich zu übernehmen, und war glücklicherweise zum Verantwortlichen gemacht worden. Nun war der Tag seiner Rache gekommen, und Nike würde auf ewig sein Zeichen tragen.
„Du solltest dankbar sein, dass du am Leben bist“, erklärte er ihr.
„Fick dich.“
Ein langsames, böses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Das hast du doch schon erledigt, schon vergessen?“
Sie wehrte sich noch vehementer. Kämpfte so verbissen, dass sie bald schon genauso keuchte und schwitzte wie seine Männer. „Du Bastard! Ich werde dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Ich werde dich zu Asche verbrennen. Bastard!“
„Dreht sie um“, befahl er den Wachen über ihr Fluchen hinweg. Keine Gnade. Atlas hatte nicht die Geduld abzuwarten, bis sie müde würde. „Und das als Warnung an dich, Nike: Halt lieber still. Ich werde so lange tätowieren, bis mein Name so deutlich zu lesen ist, dass ich zufrieden bin.“
Mit einem frustrierten, zorngeladenen Aufschrei gab sie schließlich nach. Offensichtlich wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Er sagte immer die Wahrheit. Auf Drohungen verschwendete er keinen Atem. Nur auf Versprechen.
„Bastard“, fluchte sie wieder heiser.
Ihm waren schon schlimmere Namen gegeben worden. Auch von ihr. „Braves Mädchen.“ Atlas trat vor und riss ihr den Stoff vom Rücken. Darunter kam glatte, gebräunte Haut zum Vorschein. Makellos. Einst hatte er diesen Rücken gestreichelt. Hatte ihn geküsst und mit der Zunge erforscht. Und ja, mit ihr zu schlafen war besser gewesen als mit allen anderen. Sie hatte ihn mit solcher Anbetung angesehen, so voller Hoffnung und Ehrfurcht. Es hatte ihn … in Demut versetzt. Dass er das Glück hatte, bei ihr zu sein, sie zu berühren. Doch er würde sich nicht von seinem Schwanz leiten lassen. Würde sie nicht freigeben, bevor er sie gebrandmarkt hatte, in der Hoffnung, sie wieder ins Bett zu kriegen.
Er würde das hier durchziehen.
„Bereit?“, fragte er.
„Das ist nicht das, was ich mit dir gemacht habe“, presste Nike hervor. „Ich habe dich nicht am Rücken tätowiert.“
„Hättest du’s lieber, wenn ich deine liebreizenden Brüste tätowiere?“
Daraufhin hielt sie den Mund.
Gut. Er wollte ihre Brust nicht verschandeln. Ihr Busen war ein Kunstwerk, mit Sicherheit die großartigste Schöpfung dieser Welt. „Gern geschehen“, murmelte er. Dann streckte er den Arm aus, und jemand drückte ihm die Utensilien in die Hand, die er benötigte. „Wenigstens wirst du nicht jeden Tag deines zu langen Lebens auf meinen Namen blicken müssen.“ So wie er es musste. „Aber dafür alle anderen. Jeder wird es sehen.“ Und sie werden wissen, wer sie letzten Endes besiegt hat.
„Jeder Liebhaber, den ich in mein Bett hole, meinst du.“
Er knackte mit dem Kiefer. „Kein Wort mehr aus deinem Mund. Es wird Zeit.“
„Tu mir das nicht an“, schluchzte sie plötzlich auf. „Bitte. Tu’s nicht!“ Als sie den Kopf zu ihm umwandte, glitzerten Tränen in ihren braunen Augen.
Sie war keine schöne Frau. Eigentlich nicht mal wirklich hübsch. Ihre Nase war ein bisschen zu lang, ihre Wangenknochen ein bisschen zu kantig. Das schlicht geschnittene, unauffällig braune Haar fiel ihr auf die zu breiten Schultern, und nennenswerte Kurven hatte sie nicht. Abgesehen von ihren Brüsten. Nein, sie hatte den Körper einer Kriegerin. Und doch hatte sie etwas an sich, das ihn immer angezogen hatte.
„Bitte, Atlas. Bitte.“
Er verdrehte die Augen. „Wisch dir die Krokodilstränen ab, Nike.“ Und er wusste, dass es Krokodilstränen waren. Gefühlsausbrüche waren nicht Nikes Ding. „Mich lassen sie kalt, und dich machen sie mit Sicherheit nicht attraktiver.“
Jäh kniff sie die Augen zusammen, die Tränen auf wundersame Weise verschwunden. „Von mir aus. Aber du wirst das hier bereuen. Dafür werde ich sorgen, das schwöre ich dir.“
„Ich freu mich schon auf deine Versuche.“ Wieder wahr. Sich mit ihr anzulegen hatte er schon immer aufregend gefunden. Mittlerweile sollte sie das wissen.
Ohne weiteres Zögern senkte er die Nadel der Tätowiermaschine auf einen Punkt kurz unterhalb ihres Schulterblatts. Mit ruhiger Hand zog er den Umriss des ersten Buchstabens. A. Kein einziges Mal zuckte sie zusammen. Kein einziges Mal gab sie in irgendeiner Weise zu erkennen, dass sie auch nur den geringsten Schmerz empfand. Doch er wusste, dass es wehtat. Und wie er das wusste. Um einen Unsterblichen bleibend zu zeichnen, musste Ambrosia in die Farbe gemischt werden, und Ambrosia brannte wie Säure.
Sie blieb still, während er die Umrisse zog. Gab keinen Ton von sich, als er die Buchstaben ausfüllte. Als er schließlich fertig war, richtete er den Oberkörper auf und betrachtete sein Werk: A-T-L-A-S.
Jeden Moment rechnete er mit einer Woge der Befriedigung – so lange hatte er schon auf diesen Moment gewartet! Doch sie kam nicht. Er wartete darauf, dass Erleichterung ihn überkam, denn endlich hatte er seine Rache genommen. Doch es passierte nicht. Womit er nicht gerechnet hatte, war ein weißglühender Ansturm von Besitzanspruch. Doch genau der erfasste ihn mit aller Macht. Mein.
Von jetzt an gehörte Nike ihm. Für immer. Und alle Welt würde es wissen.