9. KAPITEL

Geryon schob Kadence hinter sich. Schon wieder berührte er sie – Wärme, seidenweiche Haut, Vollkommenheit –, und er wünschte, er könnte darin schwelgen. Doch er tat es nicht, konnte es nicht. Er hatte sich bereit erklärt, mit ihr zu gehen, um das Menschenreich zu retten, ja. Aber auch, damit ihr nichts zustieß. Nicht, weil sie eine Göttin war, oder das schönste Geschöpf des Universums, sondern weil sie ihm innerhalb eines einzigen Tages das Gefühl zurückgegeben hatte, ein Mann zu sein. Kein Monster.

„Ich habe versprochen, dass dir kein Leid geschehen wird“, erinnerte er sie. Noch eine Minute, höchstens zwei, und die Kreatur würde bei ihnen sein. So schnell der Dämon auch war, er hatte nach wie vor eine große Distanz zu überbrücken, denn die Ebenen der Hölle erstreckten sich über endlose Weiten. „Und ich werde mein Versprechen halten.“

„Geryon. Ich könnte vers…“

„Nein.“ Er wollte nicht, dass sie in diesen Kampf verwickelt wurde. Schon jetzt zitterte sie wie Espenlaub. Die Angst lähmte sie so sehr, dass sie nicht einmal zu bemerken schien, wie sie die Finger in seinen Rücken grub und damit erbarmungslos einen wohligen Schauer nach dem anderen durch seinen Körper schickte. Wäre ihr bewusst gewesen, was sie da auslöste, hätte sie gewiss erschrocken die Hände weggezogen. „Ich erledige das.“ Sollte sie versuchen, sich einzumischen, würde der Angreifer ihre Furcht aufsaugen wie ein Schwamm und nur noch gieriger nach frischem Fleisch lechzen.

Wie bei den meisten Lakaien bestand der Kopf des heranstürmenden Dings aus nichts weiter als dem nackten Schädel. Sein Körper war dafür umso muskulöser und mit grünlichen Schuppen bedeckt. Die lange gespaltene Zunge schnellte wieder und wieder aufgeregt hervor, als sei die Luft bereits blutgeschwängert. Rot glühende Augen starrten Kadence und Geryon an, ein Meer aus tausend Sünden, wo Pupillen hätten sein sollen.

Sein Kämpfer-Instinkt befahl Geryon, vorzupreschen und dem Bastard auf halber Strecke entgegenzutreten. Dort sollten sie es austragen, wie wahre Krieger. Doch der Beschützerinstinkt in ihm war stärker und ließ ihn nicht von Kadences Seite weichen. Sie hier allein zu lassen könnte sie zusätzlich in Gefahr bringen. Ein anderer Dämon lauerte vielleicht schon in der Nähe und wartete nur auf seine Chance, sie anzufallen. Es könnte sich auch ein zweiter von der Meute trennen, sich im großen Bogen anschleichen und versuchen, sie von hinten zu überraschen.

„Das ist meine Schuld“, sagte sie. „Auch wenn ich gerade angefangen hatte, mich zu beruhigen, meine Angst sitzt einfach zu tief. Und dadurch ziehe ich sie an wie ein Magnet, nicht wahr?“

Er beschloss, ihr die Antwort darauf schuldig zu bleiben. Hätte er ihr recht gegeben, wäre sie nur noch unsicherer geworden.

„Sobald er in meiner Reichweite ist, will ich, dass du zur Felswand zurückläufst. Drück dich ganz dicht an die Wand, und sobald du auch nur den kleinsten Schatten siehst, rufst du mich.“

„Nein, ich helfe dir, ich werde …“

„Genau das tun, was ich sage. Anderenfalls schlage ich nur noch diesen hier zurück und verschwinde. Verstanden?“ Sein Tonfall war bestimmt, er würde keine Kompromisse machen. Schon jetzt bereute er, sie überhaupt an diesen verfluchten Ort gebracht zu haben, ob die Barriere nun vor dem Einsturz bewahrt werden musste oder nicht. Ob Unschuldige gerettet werden mussten oder nicht.

Sie war ihm wichtiger.

Kadence stemmte die Hände in die Hüften, wagte aber keinen weiteren Widerspruch.

Ein schrilles „Meins, meins, meins!“ gellte über die schrundigen Hügel.

Das Wesen kam näher, immer schneller … gleich würde es … Es war da. Mit reißenden Klauen schlug der dämonische Lakai nach Geryon, als er ihn beim Hals packte. Mehrere tiefe Kratzer öffneten sich auf seinem Gesicht, füllten sich mit warmem Blut. Wild fuchtelnde Arme, tückisch ausschlagende Beine.

Erst als Kadence die Hände von seinem Rücken nahm und nicht länger ein Teil seiner Aufmerksamkeit von der Verlockung ihrer Berührung gefesselt war, fing Geryon wirklich an zu kämpfen. Er schleuderte die Kreatur zu Boden, warf sich auf sie, rammte ihre Schultern mit den Knien in den Boden. Ein Schlag, zwei, drei.

Es bäumte sich auf, blindwütig, geifernd. Feucht und klebrig glänzte der giftige Speichel auf seinen nadelspitzen Zähnen, als es eine Reihe frenetischer Flüche ausstieß. Noch ein Haken. Und noch einer. Doch die Schläge schienen es nicht zum Aufgeben zwingen zu können.

„Wo ist Zweifel? Gewalt? Tod?“, brüllte Geryon. Wegen ihnen war er schließlich hier.

Die Gegenwehr ebbte nicht ab, im Gegenteil, das Ding wehrte sich immer heftiger, in seinen roten Augen flackerte Panik. Nicht aus Furcht vor dem, was Geryon mit ihm machen würde, das wusste er. Es war die nackte Angst vor der Rache seiner Brüder im bösen Geiste, sollten sie dahinterkommen, dass es sie verraten hatte.

Auch wenn Geryon die Vorstellung verabscheute, wie Kadence ihm beim Töten zusah, brutal, gnadenlos – wieder einmal – es ließ sich nicht vermeiden. Er erhob die Hand, fuhr seine messerscharfen, giftgetränkten Krallen aus und stach zu. Die tödliche Flüssigkeit war ein „Geschenk“ von Luzifer, das Geryon die Ausführung seiner Pflichten erleichtern sollte und augenblicklich wirkte, sich ohne Erbarmen durch den Körper seines Gegners fraß und ihn von innen heraus zersetzte.

Der Lakai kreischte und ächzte in seiner Qual, seine Gegenwehr verwandelte sich in unkontrollierte Zuckungen. Dann begannen seine Schuppen zu brennen. Als sie leise knisternd verglommen, ließen sie nichts als noch mehr dieser hässlichen Knochen zurück. Doch auch die zerfielen, und es dauerte nicht lange, bis eine Wolke schwarzer Asche aufstieg und sich in alle Richtungen zerstreute.

Mit zitternden Beinen erhob sich Geryon. „Ihr seid die Nächsten“, rief er den anderen zu.

Die suchten schleunigst das Weite.

Die Frage war nur, wann sie wiederkommen würden. Nicht ob.

Er sollte sich auf den Weg machen, die Hohen Herren finden. Stattdessen blieb er mit dem Rücken zu Kadence stehen. Minutenlang, wartend, hoffend – fürchtend –, dass sie etwas sagte. Was dachte sie jetzt von ihm? Würde sie sich noch immer so hingebungsvoll um ihn kümmern wie vorhin? Würde sie ihr Angebot zurückziehen, ihm einen Kuss zu erlauben?

Schließlich konnte er die Ungewissheit nicht mehr ertragen und drehte sich langsam zu ihr um.

Sie stand, genau wie er sie angewiesen hatte, eng an die Felsenwand gepresst. Ihre üppigen Locken umrahmten ihr ungläubiges Gesicht. In ihren Augen spiegelte sich … Bewunderung? Sicher nicht.

„Kadence.“

„Nein. Sag nichts. Komm zu mir“, raunte sie und lockte ihn mit dem Zeigefinger zu sich.