Lysander beobachtete, wie zwei neu rekrutierte Kriegerengel – die unter seinem Befehl standen und von ihm ausgebildet wurden – endlich einen dämonischen Lakaien besiegten, der sich aus der Hölle freigegraben hatte. Von Kopf bis Huf war die Kreatur mit Schuppen überzogen, aus ihren Schultern und ihrem Rückgrat traten kleine Hörner hervor. Die Augen des Wesens waren leuchtend rot, wie kristallisiertes Blut.
Eine halbe Stunde hatte der Kampf gedauert, mittlerweile waren beide Engel blutig und schnappten nach Luft. Dämonen waren berüchtigt für ihren Kampfstil, der fast nur aus Beißen und Kratzen bestand.
Eigentlich hätte Lysander in der Lage sein sollen, den Männern eine Bewertung zu geben und ihnen ihre Fehler aufzuzeigen. Auf diese Weise würden sie es beim nächsten Mal besser machen. Aber während sie sich mit dem Unhold abgekämpft hatten, waren seine Gedanken zu Bianka gewandert. Was machte sie gerade? Hatte sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden? Er hatte ihr mehrere Tage allein gegeben, um sich zu beruhigen und es zu akzeptieren.
„Was jetzt?“, fragte einer seiner Rekruten. Beacon war sein Name.
„Lasssst mir gehen, lassst mir gehen“, lispelte der Dämon flehentlich um seine gespaltene Zunge herum. „Ich brav. Ich wieder verssschwinden. Verssssprochen.“
Lügen. Als Lakai musste das Wesen einem dämonischen Hohen Herrn dienen. Genau wie bei den Engeln gab es auch unter den Dämonen drei Kasten. Hohe Herren besaßen die größte Macht, gefolgt von den Herren, denen sich die niederste Kaste anschloss, die Lakaien. Trotz der niederen Stellung dieses Dämons könnte er unter den Menschen unbeschreiblichen Schaden anrichten. Nicht einfach, weil er böse war, sondern auch, weil er ein Diener von Unfrieden war und sich von dem Streit nährte, den er unter anderen säte.
Bis Lysander seine Gegenwart auf der Erde erspürt hatte, war es dem Lakaien bereits gelungen, zwei Ehen zu zerstören, einen Teenager zum Rauchen zu animieren und einen anderen in den Selbstmord zu treiben.
„Richtet ihn hin“, befahl Lysander. „Er hat die Konsequenzen gekannt, die es nach sich zieht, wenn man ein himmlisches Gesetz bricht. Dennoch hat er sich entschieden, aus der Hölle zu fliehen.“
Wieder begann der Lakai, sich zu wehren. „Ihr ihm gehorchen, obwohl ihr offensssichtlich ssstärker alsss er? Hat euch die ganzzze Arbeit überlassssen. Nichtsss ssselbssst gemacht. Faul, wenn ihr mir fragt. Bringt ihn um.“
„Wir fragen dich nicht“, stellte Lysander fest.
Beide Engel hoben ihre Hände, Flammenschwerter erschienen in ihrem Griff.
„Bitteeeee“, kreischte der Dämon. „Nein. Nicht dasss tun.“
Sie zögerten nicht. Sie schlugen zu.
Tonlos rollte der schuppige Kopf, doch noch ließen die Engel ihre feurigen Schwerter nicht verschwinden. Sie pressten die Spitzen der Klingen in das reglose Fleisch des Dämons, bis es in Flammen aufging. Erst als nichts außer Asche von ihm übrig war, blickten sie zu Lysander und warteten auf die nächste Anweisung.
„Ausgezeichnete Arbeit.“ Befriedigt nickte er. „Seit eurer letzten Hinrichtung seid ihr besser geworden, ich bin stolz auf euch. Trotzdem werdet ihr bis auf Weiteres mit Raphael trainieren“, fügte er hinzu. Raphael war stark, intelligent und einer der besten Fährtenleser im Himmelreich.
Und Raphael würde sich von keiner Harpyie ablenken lassen, die er niemals würde kriegen können.
Kriegen? Schmerzhaft verkrampfte sich Lysanders Kiefer. Er war nicht irgendein bösartiger Dämon. Er gierte nach nichts. Niemals. Und wenn er mit Bianka fertig war, wäre sie froh darüber. Es würde keine Spielchen mehr geben, kein Um-ihn-Herumflitzen, Berühren und Lachen. Die Anspannung in seinem Kiefer ließ nach, doch gleichzeitig spürte er seine Schultern nach unten sacken. Vor Enttäuschung? Das konnte nicht sein.
Vielleicht brauchte er selbst ein paar Tage, um sich zu beruhigen und es zu akzeptieren.
Eine Woche lang hatte er sie allein gelassen, während hinter den Wolken die Sonne auf- und untergegangen war. Mit jedem Tag war Bianka wütender geworden – und wütender. Und wütender. Aber was schlimmer war: Sie war schwächer geworden. Harpyien konnten nur essen, was sie stahlen (oder verdienten, aber hier oben gab es keine Möglichkeit, sich auch nur den kleinsten Krümel zu erarbeiten). Und nein, das war keine Regel, die sie mal für eine Weile außer Acht lassen konnte. Es war ein Fluch. Ein Fluch der Götter, den ihr Volk seit Jahrhunderten ertragen musste. Verhasst wie die Harpyien waren, hatten die Götter sich zusammengefunden und bestimmt, dass keine Harpyie ein Mahl genießen konnte, das ihr aus freiem Willen gegeben oder von ihr selbst zubereitet worden war. Wenn sie es doch versuchten, mussten sie sich aufs Übelste übergeben. Was die Götter damit hatten erreichen wollen? Ihre Vernichtung.
Stattdessen hatten sie allerdings dafür gesorgt, dass Harpyien von Geburt an lernten zu stehlen. Und fürs blanke Überleben würde selbst ein Engel sündigen.
Das würde Lysander am eigenen Leib erfahren. Dafür würde sie sorgen. Arschloch.
Hatte er das geplant, um sie zu foltern?
In diesem Palast musste Bianka nur ein Wort sagen und das Gewünschte materialisierte sich direkt vor ihr. Ein Apfel – leuchtend rot und saftig. Truthahnbraten – üppig gefüllt und mit knuspriger Haut. Doch nichts davon konnte sie essen, und das brachte sie um. Wortwörtlich, verfluchte Scheiße.
Zu Beginn hatte Bianka versucht auszubrechen. Mehrmals. Nur leider konnte sie im Gegensatz zu Lysander dem Grausamen nicht einfach von der Wolke springen. Wohin sie auch trat, breitete der Boden sich unter ihren Füßen aus, hart wie Marmor. Alles, was sie tun konnte, war, von einem traumartigen Zimmer ins nächste zu wandern und zu betrachten, wie sich auf den Fresken an den Wänden ganze Schlachten zutrugen. Einmal glaubte sie sogar Lysander entdeckt zu haben.
Natürlich hatte sie im selben Augenblick „Stein“ befohlen und ein angenehm großer Felsbrocken war in ihrer Hand erschienen. Sie hatte ihn auf Lysanders Abbild geschleudert, aber das blöde Ding war einfach zur Erde gestürzt, statt Schaden anzurichten.
Wo war er? Was machte er? Hatte er vor, sie auf diese Art umzubringen, trotz seiner Verneinung? Langsam und qualvoll? Wenigstens hatte sie keine Hungerkrämpfe mehr. Jetzt erfüllte sie nur noch ein zittriges Gefühl der Leere.
Sie wollte ihn abstechen, sobald er ihr wieder unter die Augen kam. Und dann in Brand stecken. Und dann seine Asche auf einer Weide verstreuen, auf der richtig viele Tiere unterwegs waren. Er hatte es verdient, unter mehreren dicken, dampfenden Haufen erstickt zu werden. Wenn er allerdings noch länger wartete, wäre sie diejenige, die verbrannt und verstreut werden würde. Nicht einmal ein Glas Wasser konnte sie trinken.
Außerdem – Kämpfen war nicht die richtige Art, ihn zu bestrafen. Das hatte sie schon an ihrem ersten Tag hier erkannt. Er ließ sich nicht gern berühren. Also war Berührung die beste Strafe für ihn. Und sie würde ihn berühren. Überall, von Kopf bis Fuß. Bis er sie anflehte, aufzuhören. Bis er sie anflehte, weiterzumachen.
Sie würde ihn dazu bringen, es zu lieben, und es ihm dann wieder wegnehmen.
Wenn sie solange durchhielt.
Im Augenblick konnte sie sich kaum aufrecht halten. Aber warum versuchte sie es überhaupt?
„Bett“, murmelte sie mit schwacher Stimme. Direkt vor ihr erschien ein großes Himmelbett. Seit ihrer Ankunft hier hatte sie nicht geschlafen. Normalerweise machte sie es sich auf einem Baum gemütlich, aber jetzt hätte sie es nicht nach oben geschafft, selbst wenn die Wolke damit vollgestanden hätte. Also ließ Bianka sich auf die dicke Matratze plumpsen, spürte die samtene Tagesdecke weich an ihrer Haut. Schlafen. Sie würde ein kleines bisschen schlafen.
Schließlich hielt Lysander es nicht länger aus. Neun Tage. Er hatte neun Tage lang durchgehalten. Neun Tage, in denen er ununterbrochen über die Frau nachgedacht und sich gefragt hatte, was sie tat, woran sie dachte. Ob ihre Haut so weich war, wie sie aussah.
Das konnte er nicht länger ertragen. Er würde nach ihr sehen, das war alles. Er würde vor Ort herausfinden, was sie machte. Dann würde er sie wieder allein lassen. Bis er sich unter Kontrolle hatte. Bis er aufhörte, an sie zu denken. Aufhörte, sich nach ihrer Nähe zu sehnen. Irgendwann musste ihr Unterricht beginnen.
Auf und ab glitten seine Flügel, als er auf seine Wolke zuflog. Sein Herzschlag war ein wenig … seltsam. Schneller als sonst. Ein bisschen spürte er ihn sogar an seinen Rippen. Außerdem schoss ihm das Blut wie flüssiges Feuer durch die Adern. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Engel wurden nur dann krank, wenn ein Dämon sie mit seinem Gift infizierte. Und da Lysander von keinem Dämon gebissen worden war – geschweige denn in den letzten Wochen überhaupt mit einem gekämpft hatte –, wusste er, dass es daran nicht lag.
Vermutlich kann ich die Schuld daran bei Bianka suchen, dachte er mit finsterer Miene.
Als er eintrat, war das Erste, was er bemerkte, das Essen, das überall auf dem Boden verstreut lag. Von Obst über Fleisch bis hin zu Chipstüten. Alles ungegessen, nicht einmal aufgerissen.
Jetzt blickte er nicht mehr finster, sondern runzelte argwöhnisch die Stirn, während er die Flügel auf den Rücken faltete und sich einen Weg durch das Chaos bahnte. Schließlich entdeckte er Bianka in einem Zimmer, ausgestreckt auf einem Bett. Sie trug dieselben Kleider wie am Tag, als er sie mitgenommen hatte – rotes Shirt, eine enge Hose, die sich perfekt an ihre Kurven schmiegte –, nur die Stiefel hatte sie abgestreift. Wirr und verknotet lag ihr das Haar um den Kopf, und ihre Haut war besorgniserregend blass. Kein Funkeln war zu sehen, kein perlenartiger Schimmer. Unter ihren Augen lagen tiefe halbmondförmige Schatten.
Ein Teil von ihm hatte damit gerechnet, sie vor Wut kochend vorzufinden – dass sie seine Gedanken fordern würde. Der andere Teil von ihm hatte gehofft, sie würde sich nun fügen. Keine Sekunde hatte er erwartet, sie so vorzufinden.
Unruhig wälzte sie sich herum, die Decke knäulte sich über ihr zusammen. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich.
„Hamburger“, krächzte sie.
Ein saftiger Burger samt Teller erschien auf dem Boden ein paar Zentimeter neben dem Bett – Salat, Tomatenscheiben, Gewürzgurken und Käse schön auf dem Tellerrand angerichtet. Die Manifestation überraschte ihn nicht. Das war das Beste an diesen Wohnungen der Engel. Was auch immer man verlangte – natürlich in vernünftigen Grenzen –, wurde erschaffen.
All das Essen, und sie hatte nicht einen Bissen genommen. Warum sollte sie so viel … Es war nicht gestohlen, wurde ihm plötzlich klar, und zum ersten Mal in seiner endlosen Existenz war er wütend auf sich. Und er hatte Angst. Um sie. Er verabscheute diese Emotion, doch da war sie. Sie hatte die vergangenen neun Tage über nichts gegessen, weil sie nicht konnte. Sie war allen Ernstes am Verhungern.
Auch wenn er sie aus seinem Kopf, aus seinem Leben forthaben wollte, Leid hatte er ihr nicht gewünscht. Und trotzdem hatte sie Leid erfahren. Unerträgliches Leid. Jetzt war sie zu schwach, um zu stehlen. Und wenn er sie zwang zu essen, würde sie sich übergeben. Es würde ihr noch schlechter gehen als sowieso schon. Auf einmal wollte er brüllen.
„Messer“, verlangte er, und einen Sekundenbruchteil später erschien eine scharfe Klinge in seiner Hand. Er trat an die Seite des Betts. Zitternd.
„Pommes. Schoko-Milkshake“, ertönte ihre Stimme leise, kaum hörbar.
Lysander schnitt sich das linke Handgelenk auf. Augenblicklich strömte Blut aus der Wunde. Er streckte den Arm aus, ließ jeden Tropfen in ihren Mund fallen. Für Harpyien war Blut keine Nahrung, sondern Medizin. Deshalb konnte ihr Körper es annehmen. Noch nie hatte er freiwillig einem anderen Lebewesen von seinem Blut gegeben, und er war nicht sicher, ob ihm der Gedanke gefiel, dass etwas von ihm nun durch die Adern dieser Frau strömte. Tatsächlich begann sein Herz bei der Vorstellung von Neuem gegen seine Rippen zu hämmern. Aber es gab keine andere Möglichkeit.
Zuerst schien sie nichts zu bemerken. Dann schnellte ihre Zunge hervor, sie schnappte die Tropfen aus der Luft, bevor sie auf ihre Lippen trafen. Schließlich öffnete sie die Augen, ein Funkeln in den bernsteinfarbenen Iris, packte seinen Arm und riss ihn gierig an ihren Mund. Scharf senkten ihre Zähne sich in seine Haut, während sie saugte.
Noch eine seltsame Empfindung, dachte er. Zu spüren, wie eine Frau von ihm trank. Da waren Hitze und Nässe und ein Stechen, trotzdem war es nicht unangenehm. Vielmehr bescherte es ihm sogar einen Schock von … etwas Unbenennbarem direkt in der Magengrube und zwischen den Beinen.
„Trink, soviel du brauchst“, befahl er ihr. Ausbluten würde sein Körper nicht. Jeder Tropfen wurde ersetzt, sobald er seinen Leib verließ.
Mit verengten Augen sah sie zu ihm auf. Je mehr sie schluckte, desto größer wurde die Wut, die er dort lauern sah. Bald wurde ihr Griff um sein Handgelenk fester, bis ihre Fingernägel in sein Fleisch schnitten. Wenn sie eine Reaktion von ihm erwartete, bekam sie sie nicht. Er lebte bereits zu lange und hatte zu viele Verletzungen erlitten, als dass ihn etwas so Nebensächliches beeindrucken könnte. Nur was dieses heiße Drängen zwischen seinen Beinen anging … Was war das?
Schließlich ließ sie von ihm ab. Er war sich nicht sicher, ob er froh darüber war oder enttäuscht.
Natürlich froh, sagte er sich.
Aus ihrem Mundwinkel sickerte ein rotes Rinnsal. Sie leckte es fort. Beim Anblick dieser rosa Zunge schoss ein weiterer Schock durch ihn hindurch.
Definitiv entt… äh, froh.
„Du Arschloch“, knurrte sie atemlos. „Du krankes, sadistisches Arschloch.“
Er trat außer Reichweite. Nicht, um sich zu schützen, sondern zu ihrem Schutz. Sollte sie angreifen, würde er sie bezwingen müssen. Und wenn er sie bezwang, würde er ihr vielleicht wehtun. Und sie versehentlich streifen. Blut… brodelt…
„Es war nie meine Absicht, dir Leid zuzufügen“, versicherte er ihr. Und jetzt zitterte sogar schon seine Stimme. Seltsam.
„Und deshalb ist es okay, was du getan hast?“ Ruckartig setzte sie sich auf, sodass all das dunkle Haar ihr über die Schultern fiel. Langsam kehrte der perlmutterne Schimmer auf ihre Haut zurück. „Du hast mich hier zurückgelassen ohne jegliche Möglichkeit, mich zu ernähren. Ich lag im Sterben!“
„Ich weiß.“ War diese Haut so weich, wie sie aussah? Er schluckte. „Und es tut mir leid.“ Über ihren Zorn hätte er heilfroh sein sollen. Wie er gehofft hatte, würde sie ihn nicht länger auslachen, das Gesicht leuchtend vor Amüsement. Nicht länger würde sie um ihn herumflitzen und ihn anstupsen. Ja, heilfroh hätte er sein sollen. Stattdessen raste die Enttäuschung, die er gerade noch verleugnet hatte, durch ihn hindurch. Enttäuschung vermischt mit Scham.
Sie war eine größere Versuchung, als ihm klar gewesen war.
„Du weißt?“, japste sie empört. „Du weißt, dass ich nur zu mir nehmen kann, was ich gestohlen oder verdient habe. Und trotzdem hast du es versäumt, die entsprechenden Vorkehrungen für mich zu treffen?“
„Ja“, gestand er ein und empfand zum ersten Mal in seinem Dasein puren Selbsthass.
„Schlimmer noch, du hast mich hier alleingelassen. Ohne eine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren.“
Steif nickte er. „Aber ich habe es wiedergutgemacht, indem ich dir das Leben gerettet habe. Trotzdem, wie gesagt, tut es mir leid.“
„Ach so, na dann, wenn’s dir leidtut“, blaffte sie und warf die Arme in die Luft. „Das macht natürlich alles besser. Dadurch wird es akzeptabel, dass ich fast gestorben wäre.“ Sie wartete seine Erwiderung nicht ab. Resolut streckte sie die Beine über die Bettkante und stand auf. Ihre Haut erstrahlte jetzt wieder in vollem Glanz. „Jetzt hör mir mal gut zu. Als Erstes wirst du einen Weg finden, mir Essen zu besorgen. Dann wirst du mir sagen, wie ich von dieser bescheuerten Wolke runterkomme. Sonst mache ich dir das Leben zur Hölle, wie du es noch nie erlebt hast. Obwohl, nein, das werde ich so oder so tun. Auf die Weise wirst du nie vergessen, was passiert, wenn du dich mit einer Harpyie anlegst.“
Er glaubte ihr. Schon jetzt ging sie ihm näher als jemals jemand anderes. Der Beweis: Ihm lief wortwörtlich das Wasser im Mund zusammen, weil er sie kosten wollte; es juckte ihn in den Fingern, sie zu berühren. Statt ihr diese neuesten Entwicklungen zu enthüllen, erinnerte er sie jedoch: „Hier bist du machtlos. Wie könntest du mir Schaden zufügen?“
„Machtlos?“ Sie lachte. „Ich glaube nicht.“ Einen Schritt, zwei – sie kam auf ihn zu.
Er hielt die Stellung. Er würde nicht zurückweichen. Diesmal nicht. Mach deine Autorität deutlich. „Du kannst nicht gehen, bis ich es dir erlaube. Die Wolke gehört mir und wird meinen Willen immer über deinen stellen. Deshalb gibt es für dich keinen Ausgang. Es wäre klug von dir, dich um mein Wohlwollen zu bemühen.“
Scharf sog sie die Luft ein und blieb stehen. „Also hast du nach wie vor vor, mich für immer hierzubehalten? Obwohl ich zu einer Hochzeit muss?“ Sie klang überrascht.
„Wann habe ich dir je den Eindruck vermittelt, es wäre anders? Davon abgesehen habe ich dich zu deiner Schwester sagen hören, dass du gar nicht zu dieser Hochzeit gehen willst.“
„Nein, ich hab gesagt, ich will keine Brautjungfer sein. Aber ich liebe meine kleine Schwester, also werd ich’s machen. Mit einem Lächeln auf den Lippen.“ Bianka fuhr sich mit der Zunge über die geraden, weißen Zähne. „Aber unterhalten wir uns über dich. Du belauschst also gern Leute, ja? Klingt ein bisschen dämonisch für so einen kreuzbraven Engel.“
Über die Jahre hatte man ihm wesentlich schlimmere Dinge an den Kopf geworfen und ihn mit schrecklicheren Attributen bedacht als „dämonisch“. Aber dieses „kreuzbrav“ … Sah sie ihn wirklich so? Nicht als den gerechten Krieger, der er war? „Im Krieg tue ich, was ich tun muss, um zu gewinnen.“
„Stellen wir das mal kurz klar.“ Sie verengte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. In Wellen strömte ungebrochene Sturheit von ihr aus. „Wir lagen im Krieg miteinander, bevor ich dich überhaupt kennengelernt habe?“
„Korrekt.“ Und es war ein Krieg, den er gewinnen würde. Aber was würde er tun, wenn es ihm nicht gelang, sie auf den rechten Weg zu bringen? Natürlich müsste er sie vernichten, aber damit er das legalerweise tun durfte, rief er sich in Erinnerung, musste sie erst einmal eine unverzeihliche Sünde begehen. Obwohl sie bereits ein langes Leben gelebt hatte, war sie niemals über diese Grenze getreten. Was bedeutete, dass man sie dazu ermutigen müsste. Aber wie? Hier, abgeschieden von der Zivilisation – sowohl der sterblichen als auch der unsterblichen –, konnte sie keinen Dämon aus der Hölle befreien. Sie konnte keinen Engel töten. Abgesehen von ihm, aber das würde niemals passieren. Er war stärker als sie.
Vermutlich könnte sie Blasphemie begehen, aber niemals – niemals! – würde er jemanden animieren, das zu tun, aus welchem Grund auch immer. Nicht einmal, um sich selbst zu retten.
Die einzige andere Möglichkeit für sie wäre, einen Engel zum Sündenfall zu bewegen. Da sie seine Versuchung war – und er der einzige Engel, den sie kannte –, war er der Einzige, den sie dazu bringen könnte. Und er würde nicht fallen. Auch dafür galt: aus welchem Grund auch immer. Er liebte sein Leben und seine Gottheit. Und er war stolz auf seine Arbeit und alles, was er erreicht hatte.
Vielleicht würde er Bianka einfach hier lassen, allein für den Rest der Ewigkeit. Auf diese Art würde sie weiterleben, könnte aber keinen Ärger machen. Alle paar Wochen – vielleicht Monate – würde er sie besuchen, aber nie lange genug bleiben, dass sie ihn mit ihrer Verderbtheit infizieren könnte.
Ein plötzlicher Schlag auf die Wange ließ seinen Kopf seitwärts fliegen. Er runzelte die Stirn, richtete sich wieder auf und rieb sich die jetzt brennende Stelle. Bianka stand unverändert vor ihm. Nur dass sie jetzt lächelte.
„Du hast mich geschlagen“, stellte er fest, ihm war das Erstaunen deutlich anzuhören.
„Wie nett von dir, das zu bemerken.“
„Warum hast du das getan?“ Wenn er ehrlich war, hätte es ihn nicht überraschen dürfen. Harpyien waren von Natur aus genauso gewalttätig wie ihre nichtmenschlichen Gegenstücke, die Dämonen. Warum konnte sie denn bloß nicht auch aussehen wie ein Dämon? Warum musste sie so bezaubernd sein? „Ich habe dich gerettet, dir mein Blut gegeben. Ich habe dir sogar erklärt, warum du nicht fortkannst, genau wie du verlangt hast. Nichts davon hätte ich tun müssen.“
„Muss ich deine Missetaten wirklich noch mal von Anfang an aufzählen?“
„Nein.“ Das waren keine Missetaten! Aber vielleicht wäre es das Beste, das Thema zu wechseln. „Erlaube mir, dir etwas zu essen zu beschaffen“, bat er und ging zu dem Teller mit dem Hamburger. Als er ihn hochnahm, stieg ihm der Geruch von scharf gewürztem Fleisch in die Nase. Angewidert senkte er die Mundwinkel.
Obwohl er nicht wollte, obwohl sich ihm der Magen umdrehte, biss er ein Stück ab. Am liebsten hätte er gewürgt, doch es gelang ihm zu schlucken. Normalerweise aß er nur Obst, Nüsse und Gemüse. „Das“, erklärte er voller Abscheu, „gehört mir.“ Sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu berühren, legte er den Teller in ihre Hände. „Du darfst nichts davon essen.“
Indem er mündlich Anspruch darauf erhob, wurde das Gericht tatsächlich zu seinem Eigentum. In ihren Augen sah er Begreifen aufleuchten.
„Oh, cool.“ Ohne Zögern stürzte sie sich auf den Burger, der in Sekunden bis auf den letzten Krümel verschwunden war.
Als Nächstes nahm er einen Schluck von dem Schokoladen-Milchshake. Der Zucker war fast obszön in seinem Mund, und diesmal würgte er tatsächlich. „Meins“, behauptete er noch einmal mit schwacher Stimme und überreichte ihr den Becher. „Aber nächstes Mal verlang bitte eine gesündere Mahlzeit.“
Sie zeigte ihm den Mittelfinger, während sie den Milchshake hinunterkippte. „Mehr.“
Stumm ging er an den Pommes frites vorbei. Auf keinen Fall würde er seinen Leib mit einer dieser fettigen Abartigkeiten entweihen. Dann suchte er sich einen Apfel und eine Birne zusammen, doch Brokkoli musste er selbst bestellen. Nachdem er auf alles Anspruch erhoben und einen Bissen genommen hatte, reichte er ihr die Sachen weiter. Viel besser.
Gierig schlang Bianka das Essen hinunter. Na ja, bis auf den Brokkoli. Den warf sie in seine Richtung. „Ich bin Fleischfresser, Blödmann.“
Daran musste sie ihn nicht wirklich erinnern, schließlich lag ihm immer noch der unangenehme Geschmack des Burgers auf der Zunge. Trotzdem beschloss er, ihren Spott zu übergehen. „Jegliche Nahrung, die in dieser Wolke auftaucht, gehört mir. Mir und niemandem sonst. Du hast deine Finger davon zu lassen.“
„Das wär ja toll, wenn ich tatsächlich bleiben würde“, murmelte sie, während sie sich die Pommes in den Mund stopfte.
Er seufzte. Sie würde ihr Schicksal schon noch bald genug akzeptieren. Das würde sie müssen.
Je mehr sie aß, desto strahlender wurde ihre Haut. Berauschend, dachte er und streckte die Hand aus, bevor er begriff, was er da tat.
Kurz bevor er sie berührte, packte sie seine Finger und drehte sie um. „Nope. Ich mag dich nicht, also: Nur gucken, nicht anfassen.“
Durch seine Fingergelenke schoss ein scharfer Schmerz, doch er blinzelte sie nur an. „Ich bitte um Verzeihung“, erwiderte er steif. Der Einen Wahren Gottheit sei Dank, dass sie ihn aufgehalten hatte. Wer wusste, was er mit ihr angestellt hätte, wenn er sie tatsächlich angefasst hätte. Sich wie ein sabbernder Menschenmann verhalten? Er schauderte.
Schulterzuckend gab sie seine Finger frei. „Kommen wir zu meinem zweiten Anliegen. Lass mich gehen.“ Noch während sie sprach, ging sie in Kampfstellung. Die Füße schulterbreit auseinander, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt.
Augenblicklich tat er es ihr gleich und weigerte sich, auch nur sich selbst gegenüber einzugestehen, dass ihr Mut sein verräterisches Blut um ein weiteres Grad erhitzte. „Du kannst mir nichts anhaben, Harpyie. Es wäre zwecklos, mit mir zu kämpfen.“
Langsam verzogen ihre Lippen sich zu einem teuflischen Grinsen. „Wer hat denn gesagt, ich würde versuchen, dir was anzuhaben?“
Bevor Lysander auch nur blinzeln konnte, hatte sie die Distanz zwischen ihnen überbrückt und presste sich an ihn, schlang ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu sich hinunter. Ihre Lippen trafen sich und sie schob ihm die Zunge in den Mund. Sofort versteifte er sich. Unzählige Male hatte er Menschen sich küssen sehen, doch nie hatte er den Wunsch verspürt, es selbst einmal auszuprobieren.
Genau wie Sex schien es chaotisch, mit einer unangenehmen Menge von Körperflüssigkeiten verbunden – und unnötig. Doch als ihre Zunge gegen seine drängte, als ihre Hände zärtlich seinen Rücken hinabstrichen, wurde ihm warm – viel stärker als vorher, beim bloßen Gedanken an ihre Gegenwart. Das Kribbeln, das er vorhin gespürt hatte, kehrte zurück. Nur dass es sich diesmal ausbreitete, stärker wurde. Genau wie der Schaft zwischen seinen Beinen. Er hob sich … wurde dicker …
Er hatte von ihr kosten wollen – jetzt tat er es. Sie war köstlich, wie der Apfel, den sie gerade gegessen hatte, nur süßer, schwerer, wie sein Lieblingswein. Er sollte sie dazu bringen aufzuhören. Es war einfach zu viel. Aber die Nässe in ihrem Mund war nicht unangenehm. Nicht im Geringsten. Sie war elektrisierend.
Mehr, ertönte eine zaghafte Stimme in ihm.
„Ja“, stieß sie schwer atmend hervor, als hätte er laut gesprochen.
Als sie ihren Unterleib an seinem rieb, vervielfachten sich seine Empfindungen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Er durfte sie nicht anfassen. Sollte sie nicht anfassen. Sollte das hier beenden, wie sie ihn aufgehalten hatte und wie er es schon mehrmals beschlossen hatte.
Ihr entwich ein Stöhnen. Ihre Finger wühlten in seinem Haar. Seine Kopfhaut, eine Körperzone, die er bisher nie als empfindlich bezeichnet hätte, schien sich nach ihrer Berührung zu verzehren, jedes bisschen Zuwendung förmlich aufzusaugen. Und als sie sich wieder an ihm rieb, hätte er fast gestöhnt.
Ihre Hände sanken auf seine Brust und mit einer Fingerspitze streifte sie eine seiner Brustwarzen. Diesmal stöhnte er wirklich; fasste sie wirklich an. Packte sie bei den Hüften und hielt sie fest, obwohl er danach gierte, sie zu zwingen, sich weiter an ihm zu reiben. Die fehlende Bewegung nahm ihrem Kuss jedoch nichts von seiner Intensität. Immer weiter ließ sie ihre Zunge um die seine tanzen, gemächlich, als könnte sie ewig von ihm trinken. Und wollte es auch.
Ich sollte das beenden, sagte er sich ein weiteres Mal.
Ja. Ja, das würde er. Er versuchte, ihre Zunge aus seinem Mund zu schieben. Durch den Druck entstand eine neue Empfindung, neu und stärker als alles andere. Es fühlte sich an, als stünde er am ganzen Leib in Flammen. Jetzt presste er die Zunge aus einem ganz anderen Grund gegen ihre, verschlang sie miteinander, schmeckte sie von Neuem, leckte sie, saugte an ihr.
„Mmmh, ja. Genau so“, lobte sie ihn.
Ihre Stimme war wie eine Droge, zog ihn immer tiefer hinein, weckte eine unbändige Begierde auf mehr. Mehr, mehr, mehr. Die Versuchung war zu groß, er musste …
Versuchung. Laut hallte das Wort durch seinen Geist, durchfuhr ihn wie ein Schwert, das Fleisch und Knochen mühelos zerteilen konnte. Sie war eine Versuchung. Seine Versuchung. Und er gestattete ihr, ihn vom rechten Weg abzubringen.
Grob riss er sich von ihr los, dann fielen ihm die Arme an die Seiten, schwer wie Felsbrocken. Er war außer Atem, schwitzte – etwas, das ihm noch nicht einmal auf dem Schlachtfeld widerfahren war. Doch so zornig er auch war – auf sie, auf sich –, er konnte den Blick nicht von ihr lassen. Ihre Haut war gerötet, strahlte glühender als je zuvor. Ihre Lippen waren rot und geschwollen. Und diese Reaktion hatte er hervorgerufen. Überrascht spürte er Stolz in sich aufflammen.
„Das hättest du nicht tun sollen“, grollte er.
Sie begann zu grinsen. „Tja, dann hättest du mich aufhalten sollen.“
„Ich wollte dich aufhalten.“
„Aber das hast du nicht“, erinnerte sie ihn, und das Grinsen wurde breiter.
Er knirschte mit den Zähnen. „Mach das nicht noch mal.“
Voll Selbstzufriedenheit und herausfordernd hob sie eine Augenbraue. „Halt mich hier gegen meinen Willen gefangen und ich mache nicht nur das, sondern noch viel mehr. Viel, viel mehr. Wo wir gerade dabei sind …“ Ruckartig zog sie sich das Shirt über den Kopf, warf es hinter sich – und präsentierte mit pinker Spitze bedeckte Brüste.
Atmen gehörte nicht länger zu seinen Fähigkeiten.
„Willst du sie anfassen?“, fragte sie mit rauchiger Stimme und hob sie mit den Händen an. „Ich erlaub’s dir. Ich lass dich nicht mal vorher drum betteln.“
Herr im … Himmel. Sie waren betörend. Voll und appetitlich. Zum Anbeißen. Und wenn er die Spitzen tatsächlich in den Mund nahm, würden sie genauso schmecken wie ihr Mund? Wie dieser schwere Wein? Blut… kocht… schon wieder …
Ihm war egal, als was für einen Riesenfeigling ihn seine nächste Handlung dastehen lassen würde. Wenn er nicht sofort von der Wolke sprang, würde er ihre Hände durch seine ersetzen.
Er sprang.