Es dauerte zwei Tage, doch schließlich fand Nike heraus, wo Atlas wohnte – in einem weitläufigen Anwesen auf dem Olymp. In Titania, wie Cronus die Stadt benannt hatte. Der Reichtum, den Atlas gebraucht hatte, um sich eine solche Villa zu leisten, erstaunte sie – und sie wusste genau, wie viel er bezahlt hatte, denn einst hatte das Haus ihr gehört. Doch wahrscheinlich war es ihm jeden Cent wert gewesen. Nachdem er Tausende von Jahren in einer winzigen Zelle verbracht hatte, wollte er wahrscheinlich jedes bisschen Platz haben, das er kriegen konnte. Und sämtliche Annehmlichkeiten.
Es gab einen Swimmingpool, mehr als dreißig Schlafzimmer, zwei gewundene marmorne Treppen und vier Kamine, und alle Wände bestanden aus massivem Gold. Doch nichts davon interessierte sie. Nur sein Schlafzimmer.
Dort erfuhr sie mehr über den Mann, der sie fortgeschickt hatte. Einen Mann, der niemals all das hier riskiert hätte, nur um ihr Gesicht nicht mehr sehen zu müssen, wie er behauptet hatte. Einen Mann, der sein Leben für nichts aufs Spiel gesetzt hätte als für die Liebe.
Fast alles war so, wie sie es hinterlassen hatte. Ein riesiges Bett mit schwarzer Seidenbettwäsche. Die Wände waren mit Fresken bedeckt, die einen Sommerhimmel zeigten, und die Möbel rochen nach edlem Mahagoni. Es gab mehrere Standregale, alle gefüllt mit in Leder gebundenen Büchern. Ihren Büchern. Bestickte Kissen waren strategisch über den Boden verteilt. Lagen an Stellen, an denen er es sich gemütlich machen und lesen konnte, wie sie es immer getan hatte.
Was sie jedoch faszinierte, war die einzige Veränderung in ihrem früheren Heim. Über dem Kamin hing ein Porträt. Ein Porträt von ihr.
Er musste es nach ihrem Ausflug zu seinem Zelt in Auftrag gegeben haben, denn auf dem Bild rekelte sie sich entspannt in einer Porzellanwanne, Seifenschaum glitt ihr über die Schultern und die Brust, und ihr Haar war nass. Doch sie sah nicht so reizlos und maskulin aus wie sonst – offenbar hatte Atlas dem Künstler einen speziellen Auftrag gegeben. Ein sinnliches Leuchten lag in den dunklen Augen, und die Lippen zeigten einen verführerischen Schwung.
Endlich wusste sie, wie er sie sah. Als eine Schönheit. Das hatte er ihr sogar einmal gesagt, doch sie hatte es nicht wirklich glauben können. Jetzt …
Nur ein Verliebter würde so etwas tun. Nur ein Verliebter würde ein solches Bild an einem so zentralen Ort aufhängen. Nur ein Verliebter würde jede Nacht das Porträt einer Frau sehen wollen, bevor er einschlief, und es wieder erblicken, wenn er aufwachte.
Oh ja. Er liebte sie. So wie sie ihn liebte.
Dort draußen vor den Toren des Tartarus hatte sie gedacht, gehofft, dass er es tat. Doch sie hatte seinen Worten erlaubt, ihr sowieso schon angekratztes Selbstwertgefühl noch weiter zu demolieren. Unbegreiflich, wie konnte ein so schöner und sinnlicher Mann sie wollen? Doch er tat es. Er liebte sie. Der Beweis: Für sie hatte er alles riskiert.
Dasselbe wollte sie nun auch für ihn tun.
Entschlossenen Schrittes ging Nike durch das Schlafzimmer. Sie wusste, dass ihr Geliebter hier irgendwo eine Waffensammlung verstaut haben musste. Und sie wusste genau, was sie damit tun würde.
Atlas hatte keine eigene Zelle bekommen – nicht für den Anfang. Immer noch blutend und außer sich, wild um sich schlagend, war er in eine Zelle zu Erebos geworfen worden. Natürlich mussten sie mir gerade den als Zellengenossen aussuchen, dachte Atlas wutschäumend. Ein Kerl, der versucht hatte, seine Nike für sich zu beanspruchen. Einer, der ihr das Essen weggenommen hatte, sie herumgestoßen und immer wieder aufs Abscheulichste beleidigt hatte.
Atlas hatte das viele Male gesehen. Zu jener Zeit hatte er nichts dagegen unternommen, hatte sich gesagt, sie würde bloß bekommen, was sie verdient hatte. Doch nun wollte er etwas unternehmen. Und dafür gab es keinen besseren Zeitpunkt als diesen.
Obwohl das Halsband seine Kräfte hemmte und er jede Menge Blut verloren hatte, das ihm mittlerweile auf der Brust antrocknete; trotz seiner Wunden, die bei jeder Bewegung erneut aufrissen – Atlas besiegte Erebos in Rekordzeit. Er schlug, er trat, er scherte sich einen Dreck um Fairness und rammte dem Gott das Knie in die Eier, als er bereits am Boden lag. Schließlich lag ein gebrochener, blutender Erebos weinend auf dem Fußboden, gleich neben all jenen, die versucht hatten, ihm zur Hilfe zu kommen.
Daraufhin wurde Atlas in die Einzelzelle verlegt, in der Nike zuletzt untergebracht gewesen war. Auf der Pritsche ausgestreckt sog er tief ihren Duft ein, der noch immer in der Luft hing. Seine süße, süße Nike. Er würde die Ewigkeit ohne sie verbringen müssen. Ohne jedes Zeichen von ihr. Wieder brüllte er auf.
Was sie wohl gerade tat? Wenn sie sich mit einem anderen Mann tröstete, ob jetzt oder in den kommenden Jahren, würde er seine Zelle Stein für Stein niederreißen und den Bastard töten! Tu nicht so. Du hast sie weggeschickt, damit sie genau das tut. Du willst, dass sie glücklich ist.
„Was soll das Geschrei? Also ehrlich.“
Götter, jetzt hörte er schon ihre Stimme. Zwei Tage eingesperrt, und schon war er auf dem Weg in den Wahnsinn.
Die Gitterstäbe seiner Zelle klirrten und glitten auf. Er rollte sich auf die Seite, fest entschlossen, seinen Besucher fortzuschicken, wer auch immer es sein mochte. Als sein Blick auf seine geliebte Nike fiel, blinzelte er. Oh ja, er wurde tatsächlich verrückt. In einem schwarzen Leder-BH und einer schwarzen Lederhose stand sie vor ihm, das Haar zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Blutspritzer zierten ihre Wangen. Nie hatte sie schöner ausgesehen. Ihre Kraft umgab sie wie eine Aura.
In der Hand hielt sie einen Arm. Ohne den dazugehörigen Körper. Wegen des Sensors im Handgelenk?
Seine Halluzinationen waren erstaunlich detailreich.
„Also?“, fragte sie erneut, offensichtlich ungeduldig. Achtlos warf sie den Arm beiseite. „Hast du gar nichts zu sagen?“
Langsam setzte er sich auf. Er wollte nicht, dass dieser Moment zu Ende ging. Wollte sich noch länger an ihrem Anblick weiden. „Ich hab dich vermisst. So sehr.“
„Und ich hatte auf eine Entschuldigung gehofft, ich Idiotin. Aber das hier gefällt mir noch besser.“ Sie grinste, strahlte förmlich. „Ich hab dich auch vermisst, aber das Reden müssen wir auf später verschieben.“ Ihr Blick fiel auf seine Brust, und empört schnappte sie nach Luft. Dann knurrte sie. „Hat der Götterkönig meinen Namen von deiner Haut geschnitten?“
„Ja.“
In der rechten Hand hielt sie ein Messer, und er sah, wie ihre Knöchel weiß wurden, als sie es fester packte. „Ich. Werde. Ihn. Umbringen.“
„Das hab ich ihm schon versprochen.“
„Dann tun wir’s gemeinsam. Nachdem wir hier raus sind.“ Sie warf einen wachsamen Blick über die Schulter, bevor sie sich wieder ihm zuwandte. „Komm. Wir müssen los, bevor jemand mitkriegt, was ich getan habe.“
„Lass mich dich nur ansehen. Lass mich diesen Moment genießen. Lass mich um Entschuldigung bitten für das, was ich zu dir gesagt habe. Du wolltest eine Entschuldigung, oder? Ich hab’s nicht so gemeint, kein Wort von dem, was ich an jenem Tag gesagt habe, aber ich …“
Mit zwei Schritten war sie bei ihm und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Sein Hinterkopf krachte gegen die Wand, und Sterne tanzten vor seinen Augen.
Noch einmal blinzelte er sie ungläubig an. „Du hast mich geschlagen.“
„Ja, und ich tu’s wieder, wenn du nicht endlich deinen Arsch hochkriegst.“
„Du bist echt.“
„Ja.“
„Du bist wirklich echt.“ Er setzte sich wieder auf, sprach die Worte aus und begriff sie doch nicht. Das hier konnte nicht wirklich gerade geschehen.
Sie ließ sich auf die Knie fallen, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm war. „Noch einmal: Ja.“ Genau wie er es zuvor getan hatte, legte sie die Fingerkuppen an seine Halsfessel und ließ ihren Atem zwischen die Metallglieder strömen. Als das Gold nachgab, verstand er endlich, was sein Hirn schon seit einer Weile versuchte, ihm klarzumachen: Nike war hier. Sie war wirklich hier. Und sie rettete ihm das Leben.
Mit wütendem Gesichtsausdruck sprang er auf. „Ich hab dir gesagt, du sollst auf die Erde gehen, verdammt noch mal.“
„Okay, nicht gerade die Reaktion, die ich erwartet hatte.“ Sie erhob sich ebenfalls und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Gut, dass ich nie auf dich höre. Jetzt lass uns gehen. Die Wachen unten hab ich schon ausgeschaltet. Und nein, ich hab deine Freunde nicht umgebracht. Ich habe nur dafür gesorgt, dass sie sich wünschen, ich hätt’s getan.“ Während sie sprach, ergriff sie seine Hand und zog ihn aus der Zelle hinaus. „Cronus kann jeden Moment mitkriegen, was hier los ist, und wenn der hier auftaucht, haben wir ein Problem. Solange wir hierbleiben, sind wir leichte Beute.“
Das stimmte. Nike war jetzt auf der Flucht, sie musste so schnell es ging aus diesem Gefängnis, aus diesem Reich verschwinden. „Du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten, du Närrin.“
„Tja, und du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten.“
Mit langen Schritten stürmten sie die Treppen hinunter, und tatsächlich: Alle drei Wachen lagen reglos am Boden, die Gesichter im Dreck. Einem von ihnen fehlte ein Arm – und Atlas wusste genau, wo der war. Nicht, dass er sich die Zeit nehmen würde, dem Mann das zu erzählen. Der Arm würde nachwachsen, so oder so. „Aber du warst doch frei. Du hattest alles, was du wolltest.“
„Nicht alles“, warf sie ihm über die Schulter zu.
Okay, wow. Soeben hatte sie zugegeben, dass sie ihn mehr wollte als ihre Freiheit. Atlas konnte sich nicht länger zurückhalten. Mit einem Ruck an ihrem Arm wirbelte er sie herum und zog sie an seine Brust. „Ich liebe dich“, erklärte er endlich und presste seine Lippen auf ihre. Tief stieß er ihr die Zunge in den Mund, schmeckte sie, verlangte mehr. „Ich mein’s ernst. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.“
Nur für ein paar Sekunden ließ sie den Kuss zu, die Hände in sein Haar vergraben und genauso fordernd wie er, bevor sie sich keuchend von ihm löste. „Ich liebe dich auch. Aber lass uns verdammt noch mal hier abhauen. Ich brauch deinen hübschen Kopf an deinem göttlichen Körper angewachsen.“
Und wieder stürmten sie voran. Noch immer konnte er kaum glauben, dass das alles wirklich geschah. Es wirkte so sehr wie ein Traum. „Ich werde den Rest der Ewigkeit damit verbringen wiedergutzumachen, was ich dir angetan habe.“
„Gut. Ich glaube, es wird mir gefallen, wenn du vor mir kriechst. Aber nur fürs Protokoll: Ich liebe mein Tattoo, und ich weiß, warum du diese grässlichen Dinge zu mir gesagt hast. Ich hätte im umgekehrten Fall natürlich einen besseren Weg gefunden, dich in Sicherheit zu bringen, aber hey, ich bin nun mal klüger als du. Eigentlich kann ich dir also keinen Vorwurf machen.“
Er lachte. Götter, er liebte diese Frau. „Du Teufelsweib.“
„Dein Teufelsweib.“
„Ja, du bist mein. Für immer. Du wirst mich wieder tätowieren, sobald meine Haut verheilt ist.“
„Hatte ich schon fest eingeplant.“
Gut. Er würde sich nicht vollständig fühlen, bis sie es tat. „Also, wohin gehen wir?“, fragte er. „Im Himmel können wir nicht bleiben.“
„Du hast mir gesagt, ich sollte mich auf der Erde verstecken. Ich dachte, das wäre vielleicht eine Option – gemeinsam. Obwohl ich es kaum ertragen kann, dass du dein großartiges Haus aufgeben musst.“
„Du warst dort?“ Sich Nike in seinem Haus vorzustellen gefiel ihm, wie sie sich zwischen seinen Sachen bewegte, seinen Geruch einatmete. „Du weißt, wo ich mich niedergelassen habe?“
„Ja. Warum? Ich meine, warum hast du diesen Ort gewählt?“
„Um mich dir näher zu fühlen.“
„Tja, in Zukunft wirst du mir um einiges näher sein.“
Ein Lachen brach aus ihm hervor. Keine Frau konnte perfekter für ihn sein. „Das Einzige, was ich an diesem Haus vermissen werde, ist das Porträt von dir. Aber jetzt habe ich ja das Modell persönlich.“ Er gab ihr einen kleinen Kuss. „Um zu unserem potenziellen neuen Wohnort zurückzukehren: Es gibt andere Götter da draußen, Griechen wie dich, die sich versteckt halten. Cronus hat sie nie aufspüren können. Das bedeutet, es gibt Orte, an die er nicht sehen kann.“
„Vielleicht können wir sie finden und uns ihnen anschließen. Wir sind immerhin Stärke. Und Sieg.“
„Ja, Sieg.“
„Wir können Erfolg haben, wo er versagt hat.“
„Und in der Zwischenzeit könnten wir versuchen, die Herren der Unterwelt zu finden. Cronus hat erwähnt, dass sie viel von seiner Aufmerksamkeit beanspruchen. Wenn sie seine Feinde sind, könnten sie sich als gute Freunde für uns erweisen.“
Ihre Augen wurden groß. „Ich weiß, von wem du redest. Vor langer Zeit waren sie Zeus’ unsterbliche Krieger, aber jetzt beherbergen sie die Dämonen aus der Büchse der Pandora in ihren Körpern. Mit denen wird Cronus sich noch lange, lange Zeit herumschlagen müssen. Das könnten tatsächlich sehr gute Freunde für uns sein.“
Endlich erreichten sie das Tor und stürmten nach draußen, ohne aufgehalten zu werden. Sofort hüllten die Wolken sie ein, und hell strahlte die Sonne am Himmel. Nike wirbelte herum und warf sich in Atlas’ Arme, übersäte sein Gesicht mit kleinen Küssen und neckischen Bissen.
„Wir haben es geschafft! Jetzt bring uns an einen anderen Ort. Egal, wohin. Solange wir nur zusammen sein können.“
„Ich liebe dich“, wiederholte er und tat genau, was seine Frau von ihm verlangte.
–ENDE–