Du, Wolke, gehörst mir“, erklärte Bianka. Das war kein Fluchtversuch und auch kein weiteres sexy Outfit, deshalb war es erlaubt. „Lysander hat dich mir übergeben; solange ich ihn also nicht anfasse, bekomme ich alles, was ich will. Und ich will dich. Ich will, dass du mir gehorchst, nicht ihm. Deshalb musst du meinen Befehlen Folge leisten, nicht seinen. Wenn ich dir sage, du sollst etwas tun, und er sagt, du sollst es nicht tun, musst du es trotzdem ausführen. Das will ich.“
Und, oh Baby, das wird ein Heidenspaß.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto zufriedener war sie damit, dass sie Lysander nicht noch einmal berühren konnte. Wirklich. Ihn zu verführen – beziehungsweise es zu versuchen –, war ein Fehler gewesen. Letztendlich hatte sie mehr sich selbst verführt. Seine Hitze … seine Kraft … Gib. Mir. Mehr.
Jetzt konnte sie nur noch daran denken, wie sie sein Gewicht wieder auf ihren Leib kriegen wollte. Und daran, dass sie ihm zeigen wollte, wo sie sich am liebsten berühren ließ. Als er erst mal den Bogen raus gehabt hatte, war er wie ein Meister ans Werk gegangen, hatte ihren Mund geneckt und betört. Beim Sex würde es genauso sein.
Sie würde jeden einzelnen seiner Muskeln ablecken. Würde ihn unaufhörlich stöhnen hören, während er sie leckte.
Wie konnte sie sich diese Dinge von ihrem Feind wünschen? Wie konnte sie vergessen, auch nur eine Sekunde lang, wie er sie eingesperrt hatte? Vielleicht weil er eine Herausforderung war. Eine sexy, verlockende, frustrierende Herausforderung.
Aber es war sowieso egal. Sie hatte genug davon, die süße, lüsterne Gefangene zu spielen. Umbringen konnte sie ihn immer noch nicht; dann säße sie auf ewig hier fest. Was nur eins bedeutete: Sie musste dafür sorgen, dass er sie loswerden wollte. Und jetzt, als Herrin dieser Wolke, wäre das kein Problem mehr für sie.
Sie konnte es kaum erwarten anzufangen. Wenn er sich an das Muster hielt, das sie kannte, würde er eine Woche lang wegbleiben. Dann würde er zurückkommen, um „nach ihr zu sehen“. Dann konnte Operation Heul-wie-ein-Baby beginnen. Morgen würde sie sich die Details überlegen und die Bühne bereiten. Ein paar Ideen tummelten sich schon in ihrem Kopf. Zum Beispiel, ihn vor einer Striptease-Stange an einen Stuhl zu fesseln. Zum Beispiel die Einführung des Nackten Dienstags.
Kichernd lehnte sie sich an das Kopfteil des Betts, gähnte und schloss die Augen.
„Ich hätte gern eine Schale von Lysanders Weintrauben“, sagte sie und spürte sogleich das kühle Gewicht einer Porzellanschale auf dem Bauch. Ohne die Augen zu öffnen, warf sie sich eine der Früchte in den Mund und kaute. Götter, war sie müde. Seit ihrer Ankunft hier hatte sie sich nicht vernünftig ausgeruht – und auch vorher schon lange nicht mehr.
Sie konnte nicht. Es gab keine Bäume, auf die sie klettern, keine Blätter, in denen sie sich verstecken konnte. Und selbst wenn sie einen herbeirief, konnte Lysander sie leicht ausfindig machen, wenn er früher zurückkam …
Moment. Nein. Nein, könnte er nicht. Nicht, wenn sie hunderte davon herbeiriefe. Und wenn er alle Bäume verschwinden ließe, würde sie fallen und davon aufwachen. Er konnte sie nicht überraschen.
Wieder kicherte Bianka und zwang sich, die Augen noch einmal zu öffnen. Sie verputzte die Trauben, rutschte vom Bett und stand auf. „Ersetz die Möbel durch Bäume. Hunderte großer, dicker, grüner Bäume.“
Augenblicklich sah die Wolke aus wie ein Wald. Um dicke Baumstümpfe wand sich dichter Efeu, Tau tropfte von den Blättern. Blumen in allen Farben erblühten, von denen zarte Blütenblätter zu Boden segelten. Beim Anblick dieser Schönheit fiel Bianka die Kinnlade hinunter. Nirgends auf Erden gab es etwas Vergleichbares.
Könnten ihre Schwestern es doch nur sehen!
Ihre Schwestern. Ob sie nun dabei war, ein Spiel zu gewinnen, oder nicht, mit jeder verstreichenden Sekunde vermisste sie sie mehr. Auch dafür würde Lysander bezahlen.
Wieder gähnte sie. Als sie versuchte, auf die nächststehende Eiche zu klettern, blieb ihr zartes Negligé an der Rinde hängen. Sie stieg ab und verzog das Gesicht – von Neuem wurde sie daran erinnert, wie ihr dunkler Engel auf sie zugekommen war, sich an sie gelehnt hatte, wie sein heißer Atem über ihre Haut gestrichen war …
„Ich will ein Tanktop in Tarnfarben und Armeehosen anhaben.“ Sobald sie in der gewünschten Kleidung steckte, huschte sie auf den höchsten Ast hinauf. Ihre flatternden Flügel verliehen ihr die nötige Kraft und Geschicklichkeit. Auf dem breiten Ast machte sie es sich bequem, den Blick in den bezaubernden sternenübersäten Himmel gerichtet. „Ich hätte gern eine Flasche von Lysanders Wein, bitte.“
Sekunden später schlossen ihre Finger sich um eine Flasche trockenen Rotwein. Sie hätte einen billigen Weißen vorgezogen, aber was soll’s. In harten Zeiten musste man Opfer bringen. Sie leerte die Flasche in Rekordzeit.
Gerade als sie eine zweite bestellte, hörte sie Lysander barsch rufen: „Bianka!“
Verwirrt blinzelte sie. Entweder sie war länger hier oben gewesen, als sie gedacht hatte, oder sie hatte Halluzinationen.
Hätte ich mir nicht einen Herrn der Unterwelt ausdenken können, fragte sie sich angewidert. Oh, oh – wie cool wäre es, wenn Lysander mit einem der Herren öl-catchen würde? Natürlich würden sie nichts als einen Lendenschurz und ein Lächeln tragen.
Und das konnte sie haben! Schließlich war das hier ihre Wolke. Jetzt spielten Lysander und sie nach ihren Regeln. Und weil sie am Drücker war, konnte er seinen Befehl an die Wolke, ihr zu gehorchen, nicht ohne ihre Erlaubnis widerrufen.
Zumindest hoffte sie sehr, dass es so funktionierte.
„Weg mit den Bäumen“, hörte sie ihn befehlen.
Sie wartete, atemlos, doch die Bäume blieben, wo sie waren.
Er konnte es nicht! Grinsend schoss sie hoch und klatschte in die Hände. Also hatte sie recht gehabt. Diese Wolke gehörte ihr.
„Weg. Mit. Den. Bäumen.“
Und wieder blieben sie stehen.
„Bianka!“, rief er. „Zeig dich.“
Vorfreude durchflutete sie, als sie hinabsprang. Ein kurzer Blick in die Runde bestätigte ihr, dass er nicht in unmittelbarer Nähe war. „Bring mich zu ihm.“
Sie blinzelte und fand sich direkt vor ihm wieder. Offenbar war er auf dem Weg durch das Dickicht gewesen, und als er sie erblickte, blieb er stehen. Wieder hielt er sein Feuerschwert in der Hand.
Achtsam trat sie ein paar Schritte zurück, außer Reichweite. Keine Berührungen. Sie würde es nicht vergessen. „Ist das für mich?“, fragte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf die Waffe. Noch nie war sie so aufgeregt gewesen, selbst der Anblick dieser Klinge konnte ihren Höhenflug nicht dämpfen.
An seinen Schläfen traten die Adern hervor.
Das würde sie mal als Ja nehmen. „Böser Junge.“ Er ist gekommen, um mich zu töten, dachte sie und schwankte leicht. Noch etwas, wofür sie ihn bestrafen würde. „Du bist zu früh dran.“
Sein Blick wanderte über ihr Outfit, seine Pupillen waren geweitet, seine Nasenflügel bebten. Doch seine Mundwinkel senkten sich missfällig. „Und du bist betrunken.“
„Wie kannst du es wagen, mir so was zu unterstellen!“ Sie versuchte, einen strengen Gesichtsausdruck aufzusetzen, ruinierte das Ganze aber, als sie lachen musste. „Ich bin bloß angeschickert.“
„Was hast du mit meiner Wolke gemacht?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, der Prototyp des sturen Mannes. „Warum verschwinden die Bäume nicht?“
„Erstens: Du liegst falsch. Das hier ist nicht mehr deine Wolke. Zweitens: Die Bäume werden erst verschwinden, wenn ich es ihnen sage. Was ich hiermit tue. Auf, auf, ihr hübschen Bäumchen, fort mit euch.“ Wieder ein Lachen. „Oh, ihr Götter, ich bin eine Dichterin und wusste es nicht einmal!“ Augenblicklich war nichts um sie herum als herrlicher weißer Nebel. „Drittens: Ohne meine Erlaubnis wirst du nirgendwohin gehen. Hast du gehört, Wolke? Er bleibt hier. Viertens hast du zu viele Sachen an. Ich will dich in einem Lendenschurz sehen, und ohne diese Waffe.“
Plötzlich war sein Schwert weg. Seine Augen wurden groß, als auch sein Gewand verschwand und er nur noch einen hautfarbenen Lendenschurz trug. Erfolglos versuchte Bianka, ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Und sie hatte den Wald für schön gehalten. Wow. Einfach … wow. Sein Körper war ein Meisterwerk. Er hatte mehr Muskeln, als ihr klar gewesen war. Perfekt proportionierte Oberarme. Ein Waschbrettbauch wie aus dem Photoshop-Himmel. Stahlharte Schenkel, sonnengeküsste Haut.
„Diese Wolke gehört mir, und ich verlange mein Gewand zurück.“ Seine Stimme war so tief und so hart, dass sie über ihre Trommelfelle kratzte.
Der süße Klang des Sieges, dachte sie. Er blieb genau so, wie sie es verlangt hatte. Lachend drehte Bianka sich um die eigene Achse, die Arme weit ausgestreckt. „Ist das nicht fabelhaft?“
Drohend kam er auf sie zu, Schritt für Schritt.
„Nein, nein, nein.“ Sie tänzelte außer Reichweite. „So geht das nicht. Ich will, dass du in einer großen Wanne voll Babyöl stehst.“
Und von jetzt auf gleich war er in einer Wanne gefangen. Klares Öl reichte ihm bis zu den Waden. Entsetzt starrte er an sich hinab.
„Wie gefällt es dir, wenn man sich über deinen Willen hinwegsetzt?“, zog sie ihn auf.
Er hob den Blick, traf den ihren, kniff die Augen zusammen. „Ich werde nicht hier drin gegen dich kämpfen.“
„Dummerchen. Natürlich nicht. Du wirst gegen …“ Mit dem Fingernagel tippte sie sich ans Kinn. „Mal sehen, mal sehen. Amun? Nein. Der sagt nichts, und ich hab’s gern, wenn sie fluchen. Strider? Als Hüter der Niederlage würde er dafür sorgen, dass du verlierst, um sich die Schmerzen zu ersparen, aber das wäre ein harter Kampf und ich will bloß ein bisschen Amüsement. Du weißt schon, leicht und sexy soll’s sein. Ich meine, da ich dich nicht anfassen kann, will ich, dass einer der Herren es für mich tut.“
Lysander knackte mit dem Kiefer. „Tu das nicht, Bianka. Die Konsequenzen werden dir nicht gefallen.“
„Also das ist jetzt wirklich traurig“, tadelte sie ihn. „Seit zwei Wochen bin ich hier, und du kennst mich kein Stück. Natürlich werden die Konsequenzen mir gefallen.“ Torin, Hüter der Krankheit?“ Lysander gegen Torin, das wäre doch spaßig, dann würde er sich diese schwarze Pest einfangen. Obwohl – würde er? Konnten Engel krank werden? Sie seufzte. „Schätze, ich werde mich mit Paris zufriedengeben müssen. Immerhin hat der keine Berührungsängste, Pluspunkt für mich.“
„Wage es nicht …“
„Wolke, schaff Paris, Hüter der Promiskuität, zu Lysander in die Wanne.“
Als einen Moment später Paris erschien, klatschte sie erneut vergnügt in die Hände. Paris war groß und genauso muskulös wie Lysander. Nur dass er schwarzes Haar mit braunen und goldenen Strähnen hatte, seine Augen knallblau waren und sein Gesicht perfekt genug, dass seine Schönheit ihr fast Tränen in die Augen trieb. Zu schade, dass er ihren Körper nicht so auf Touren brachte wie Lysander. Obwohl … Vor dem Engel mit ihm rumzumachen, wäre lustig gewesen.
„Bianka?“ Paris blickte von ihr zu dem Engel, vom Engel zu ihr. „Wo bin ich? Ist das hier eine Ambrosia-Halluzination? Was zur Hölle ist hier los?“
„Zuallererst mal bist du overdressed. Du solltest auch bloß einen Lendenschurz tragen, genau wie Lysander.“
Sofort verschwanden sein T-Shirt und seine Jeans, sodass er nur noch besagten Lendenschurz anhatte.
Bester. Tag. Aller. Zeiten. „Paris, ich möchte dir Lysander vorstellen, den Engel, der mich entführt und hier oben im Himmel gefangen gehalten hat.“
Augenblicklich verwandelte sich Paris’ Verwirrung in Zorn. „Gib mir meine Waffen zurück und ich bringe ihn für dich um.“
„Du bist so ein Schatz“, lobte sie ihn und legte sich die Hand an die Brust. „Warum haben wir eigentlich noch nicht miteinander geschlafen?“
Tief aus Lysanders Kehle drang ein Knurren.
„Was denn?“, fragte sie unschuldig. „Er will mich retten. Du willst mich für den Rest meines langen Lebens unterwerfen. Aber zurück zum Thema, lass mich meine Vorstellung zu Ende führen. Lysander, ich möchte dir …“
„Ich weiß, wer er ist. Promiskuität.“ Abscheu lag in Lysanders Stimme. „Er muss jeden Tag eine andere Frau in sein Bett nehmen, oder seine Kräfte verlassen ihn.“
Wieder grinste sie, diesmal überlegen. „Um genau zu sein, kann er auch Männer flachlegen. Da ist sein Dämon nicht wählerisch. Ich hoffe, das behältst du im Hinterkopf, wenn ihr zwei euch aneinander reibt.“
Drohend machte Lysander einen Schritt auf sie zu.
„Was ist hier los?“, verlangte Paris von Neuem zu wissen, mittlerweile wütend. Bianka wusste, dass er durchaus wählerisch war, auch wenn das seinen Dämon nicht interessierte.
„Oh, hab ich dir das noch nicht gesagt? Lysander hat mir die Kontrolle über sein Zuhause übergeben, deshalb kriege ich jetzt alles, was ich will, und ich will euch beide öl-catchen sehen. Und wenn ihr fertig seid, will ich, dass du Kaia auftreibst und ihr erzählst, was passiert ist – dass ich bei einem dickköpfigen Engel festsitze und nicht wegkomme. Na ja, ich komme nicht weg, bis er mich so leid ist, dass er der Wolke erlaubt, mich freizulassen.“
„Oder bis ich dich töte“, fuhr Lysander sie an.
Sie lachte. „Oder bis Paris dich tötet. Aber ich hoffe, ihr Jungs seid lieb zueinander, wenigstens für eine Weile. Habt ihr auch nur den geringsten Schimmer, wie sexy ihr zwei gerade seid? Und wenn ihr euch küssen wollt oder so, während ihr euch da rumwälzt, lasst euch nicht aufhalten.“
„Äh, Bianka“, setzte Paris an und schien sich auf einmal unwohl zu fühlen. „Kaia ist in Budapest. Sie hilft Gwen bei den Hochzeitsvorbereitungen und glaubt, du versteckst dich, um deinen Pflichten als Brautjungfer zu entgehen.“
„Ich bin keine Brautjungfer, verdammt!“ Aber wenigstens machte Kaia sich keine Sorgen. Das Flittchen, dachte sie liebevoll.
„Da sagt sie aber was anderes. Jedenfalls macht’s mir ja nichts aus, zu deiner Belustigung mit einem anderen Typen zu kämpfen, aber jetzt mal im Ernst, das ist ein Engel. Ich muss zurück zu …“
„Keine Ursache.“ Sie streckte die Hände aus. „Eine Schüssel von Lysanders Popcorn, bitte.“ Die Schüssel erschien und der Duft warmer Butter stieg ihr in die Nase. „Na dann. Auf in den Kampf, Runde eins wird eingeläutet. Ding-ding“, begann sie zu kommentieren und setzte sich, um den Kampf zu genießen.