Überrascht holte die Göttin Luft, und ihr Blick flackerte zu seinem Gesicht, ganz kurz nur, ehe sie ihn wieder auf den rauen Stein richtete.
„Du hilfst mir? Obwohl du jetzt weißt, dass du nicht länger ein Gefangener bist? Dass es dir freistünde zu gehen, wohin du willst?“ Diese leuchtenden Augen, die vollen, roten Lippen … Bei ihrem Anblick wurde ihm die Brust eng.
„Ja. Trotzdem.“ Wenn sie die Wahrheit sagte und er wirklich frei sein sollte, gäbe es doch keinen Ort für ihn, an den er gehen konnte. Zu viele Jahrhunderte waren vergangen, und sein einstiges Zuhause existierte nicht mehr. Seine Familie … tot. Und ohne Zweifel würde er mit seiner Erscheinung Angst und Schrecken verbreiten, wo immer er auftauchte. Davon abgesehen, so verlockend die Vorstellung von Freiheit auch war: Seine Bedenken, sich darauf einzulassen, konnte das nicht zerstreuen. Die Göttin selbst mochte vielleicht nichts Böses im Schilde führen, aber Luzifer tat es garantiert.
Bei ihm gab es immer einen Haken an der Sache. Heute frei zu sein bedeutete nicht zwangsläufig, dass er es morgen auch noch wäre. Und die Tatsache, dass er seine Seele nach wie vor nicht zurückerhalten hatte …
Nein. Er wollte sich lieber keine falschen Hoffnungen machen.
„Ich danke dir. Ich hatte nicht damit gerechnet … Ich … Sag mir, warum hast du ihm deine Seele verkauft?“, fragte sie leise, abermals den Riss betastend.
Ein Themenwechsel. Einer, auf den er nicht vorbereitet gewesen war.
„Wie genau kann ich Euch helfen?“, antwortete er rasch mit einer Gegenfrage. Er wollte nicht, dass sie von der Dummheit erfuhr, die ihn in seine missliche Lage gebracht hatte.
Schließlich ließ sie den Arm sinken und sah Geryon direkt an. Sein Blick ruhte auf ihr, und der angespannte Ausdruck wich langsam aus ihrem Gesicht.
„Ich bin Kadence“, stellte sie sich vor, als hätte er nach ihrem Namen gefragt und nicht, wie sie sich den Ablauf ihrer gemeinsamen Mission konkret gedacht hatte.
Kadence. Wie sanft die Schwingungen der Silben in seinem Geist nachklangen, so wunderbar warm, zart wie Seide – bei den Göttern, wie lange lag es zurück, dass er solch einen feinen Stoff berührt hatte? – und süß wie Wein. Wann hatte er das letzte Mal den Geschmack von Wein auf der Zunge gehabt?
„Ich bin Geryon.“ Einst hatte er einen anderen Namen getragen. Doch mit seiner Ankunft hier unten war ihm auch dieser letzte Rest seiner Vergangenheit genommen worden, indem Luzifer ihm kurzerhand einen neuen gab. Monster in der wörtlichen Übersetzung, die tiefer gehende Bedeutung war jedoch „Wächter der Verdammten“. Genau das, was er seit jenem Tag war, und alles, was er jemals sein würde. Mit Seele oder ohne.
In einigen der alten Legenden wurde er, wie ein Dämon ihm einmal hämisch entgegengeschleudert hatte, als dreiköpfiger Zentaur beschrieben. In anderen war die Rede von einem bösartigen Hund. Und manche behaupteten gar, bei dem Torwächter handle es sich um die jämmerlichen Überbleibsel eines Kriegers namens Herkules. Ihn scherten diese Geschichten wenig. Alles war besser als die Wahrheit.
„Ich stehe Euch zu Befehl“, erklärte er. „Kadence.“ Auf seinen Lippen fühlte sich ihr Name sogar noch wunderbarer an.
Ihr Atem stockte. Er hörte, wie die Luft in ihre Kehle strömte, aber nicht wieder heraus.
„Aus deinem Mund klingt mein Name wie ein Gebet.“ Da war kein Erschrecken in ihrer Stimme, nur … Verunsicherung?
Hatte es so geklungen? „Verzeiht bitte.“
„Du musst dich nicht entschuldigen.“ Die Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück, mehr noch, sie errötete richtiggehend. Bezaubernd. Dann klatschte sie unvermittelt in die Hände und lenkte das Gespräch wieder auf das, was momentan ihrer beider dringlichste Sorge sein sollte. „Zuallererst müssen wir die Risse in der Mauer flicken.“
Er nickte zustimmend, gab aber zu bedenken: „Ich fürchte nur, sie könnten schon zu groß geworden sein.“ Oberflächliche Schäden waren leicht zu reparieren. In die Tiefe gehende nicht. Das galt für Mauern ebenso wie für Lebewesen, wie Geryon aus eigener Erfahrung wusste. Seine inneren Wunden mochten vernarbt sein, ganz verheilen würden sie jedoch nie mehr. „Sie provisorisch zu verschließen wird ihre Ausbreitung nur für eine begrenzte Zeit aufhalten.“ Aber nicht den unausweichlichen Einsturz verhindern, dachte er, behielt seinen Pessimismus jedoch für sich. Er wollte sie nicht entmutigen. Obwohl er wirklich nicht wusste, was sie tun sollten, wenn es so weit war. Wenn das Tor zur Hölle sich auftat und verdammte Seelen und Dämonen die Erde überrannten.
Das musste unter allen Umständen verhindert werden. Nur, wie schon gesagt, hatte er keine Ahnung wie.
„Richtig. So wie ich die Dämonen kenne, lassen sie nicht locker, bis sie ihr Ziel erreicht haben.“ Ein weiteres Mal schaute sie zu ihm hoch. In ihrem Blick spiegelte sich Angst, wo doch nichts als Glück und Zufriedenheit hätte sein sollen. Was für eine Schande.
„Geryon“, sagte sie, nur um gleich darauf ihre sinnlichen Lippen zusammenzupressen und wieder zu verstummen.
Was von seinem Herz noch geblieben war, setzte mehrere Schläge aus. Sie war so märchenhaft schön, ihre Zartheit und ihr liebevolles Wesen standen in so krassem Gegensatz zu allem, was er selbst darstellte. Er wollte den Kopf einziehen, sich und seine hässliche Fratze am liebsten verstecken.
„Ja?“
„Ich … ich …“
Warum war sie so nervös? „Ihr könnt offen mit mir sprechen, Göttin.“ Was sie auch brauchte, er würde es ihr geben. Alles.
„Kadence. Bitte.“
„Kadence“, wiederholte er und schwelgte abermals in diesem herrlichen Klang. So gut …
„Ich … wüsste gern … an welche Belohnung hattest du gedacht?“
Das war nicht, was sie hatte sagen wollen, er wusste es, und sprachlos starrte er sie an. Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Er war davon ausgegangen, dass sie diese Frage später klären würden. Zuerst die Arbeit, dann …
„Einen … einen Kuss.“ Er wartete auf den Entsetzensschrei, der nun unweigerlich folgen musste, auf die entrüstete Ablehnung.
Ihr Mund aber formte nur ein stummes O.
„Wenn Ihr wollt, könnt Ihr die Augen schließen und Euch vorstellen, ich wäre jemand anders“, platzte er hastig heraus. „Oder mich zurückweisen, ich würde das verstehen.“ Hör auf zu plappern, du machst es nur noch schlimmer.
„Weshalb sollte ich?“, fragte sie sanft, ihre Stimme plötzlich seltsam belegt.
„Ich … ich …“ Jetzt war es an ihm, nichts als nervöses Gestammel herauszubringen. Sie wies ihn nicht ab?
Sie feuchtete ihre Lippen an und beugte sich leicht vor. „Möchtest du ihn sofort?“
Sofort? Auf einmal bereitete ihm das Atmen Schwierigkeiten. Das bloße Stehen. Seine Knie zitterten, der Boden begann unter ihm zu schwanken. Dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen. Sofort? schoss es ihm erneut durch den Kopf. Jetzt geriet er in Panik.
Er war nicht vorbereitet. Bestimmt würde er sich zum Trottel machen, auf ganzer Linie versagen. Und dann würde sie sich ernüchtert abwenden, seine Hilfe nicht länger wollen. Oder schlimmer noch, ihm danach heimlich mitleidige Blicke zuwerfen, während sie die Mauer reparierten. Blicke, die er vielleicht nicht sehen, dafür umso schmerzlicher in seinem Rücken spüren würde.
„Später“, presste er hervor.
War das … Enttäuschung, was sie die Stirn runzeln ließ? Sicherlich nicht.
„Also schön“, sagte sie. Ruhig, emotionslos. „Später. Aber Geryon, ich muss dich warnen. Es besteht die Gefahr, dass wir nicht überleben werden.“
„Sobald die Barriere wiederhergestellt ist, werden wir die Dämonen finden und unschädlich machen müssen, die sie zerstören wollen. Bist du dir sicher, dass du warten willst?“
Die Dämonen unschädlich machen. Natürlich. Und was das in der Konsequenz bedeutete, wussten sie beide. Einen der Hohen Herren zu töten war ein Vergehen, das hart bestraft wurde. Ausnahmslos. Unbarmherzig.
„Nun?“, fragte sie. „Noch kannst du deine Meinung ändern.“
Hätte er es nicht besser gewusst, wäre ihm ihr Tonfall fast … ungeduldig erschienen. Erwartungsvoll. Doch er wusste es besser. Sich auf Luzifers Angebot einzulassen war eine schwere Entscheidung gewesen. Jedenfalls hatte er das damals gedacht. Dies hier war tausendmal schwerer.
„Nein.“ Er würde sich diesen Kuss verdienen, und hoffentlich würde sie ihn danach nicht als unwürdig betrachten, wenn sie sich daran zurückerinnerte.
Sie nickte und wandte, wie schon so oft zuvor, den Blick ab.
„Dann lass uns mit der Arbeit anfangen.“