2. KAPITEL

Nike tigerte in ihrer engen Zelle auf und ab. Einer Zelle, die sie mit mehreren anderen teilen musste. Vertraut, wie sie mit ihrem Temperament waren, hielten die anderen sorgfältig Abstand. Trotzdem. Mitbewohner waren zum Kotzen. Sie spürte, wie sich die Blicke durch die Tunika in ihren Rücken bohrten, als könnten sie den Namen sehen, der dort verewigt war.

A-T-L-A-S.

Wenn sie es wagten, auch nur ein Wort darüber zu sagen … werde ich sie umbringen!

Es gab nicht genug Zellen für alle Griechen, also waren sie in Gruppen in die Kammern gepfercht worden. Egal ob Mann oder Frau. Vielleicht war es den Titanen einfach gleichgültig gewesen. Möglicherweise hatten sie die Geschlechter auch absichtlich gemischt, um die Gefangenen noch mehr zu quälen. Letzteres war die wahrscheinlichere Variante. Ehemänner waren nicht mit ihren Frauen zusammen, Freunde nicht mit Freunden. Nein, hier trafen sich ausschließlich Rivalen auf engstem Raum.

Für sie war dieser Rivale Erebos, niederer Gott der Dunkelheit. Einst hatte Erebos sie wie eine Königin behandelt. Damals hatte sie ihn wirklich gemocht. Sogar darüber nachgedacht, ihn zu heiraten. Doch dann hatte sie sich in Atlas verliebt – den schürzenjagenden verlogenen Bastard Atlas – und Erebos verlassen. Und dann hatte sie entdeckt, dass Atlas sie niemals wirklich gewollt hatte, dass Atlas sie nur benutzt hatte.

Aus Liebe war unverzüglich rasende Wut geworden.

Diese Wut war jedoch irgendwann abgekühlt. Sie hatte ihn vergessen. Beinahe. Mach dir nichts vor. Jetzt, da sein Name ihren Rücken zierte, hasste sie ihn aus tiefster Seele.

Vielleicht hatte sie überreagiert, als sie dasselbe mit ihm gemacht hatte. Vielleicht. Ihre Impulsivität war immer ihre Schwachstelle gewesen. Jahrelang hatte sie ihre Entscheidung bereut. Nicht, dass sie das ihm gegenüber jemals zugeben würde. Und in diesem Augenblick war Reue ohnehin das Letzte, was sie fühlte.

Sie hatte nicht gelogen. Dafür würde sie ihn umbringen.

Doch zuerst musste sie einen Weg finden, dieses verdammte Halsband loszuwerden. Solange es um ihren Hals lag, war sie machtlos. Das schwere Gold nahm ihr die göttlichen Kräfte zwar nicht, aber es unterdrückte sie. Höchst effektiv. Zu effektiv. Und danach würde sie herausfinden müssen, wie sie aus diesem Reich entkommen konnte.

Die erste Aufgabe hätte theoretisch einfach sein müssen. Doch ob sie am Band gezerrt oder darauf eingeschlagen hatte, selbst als sie versucht hatte, es sich vom Hals zu schmelzen – alles, was sie erreicht hatte, waren Hautabschürfungen, Blutergüsse und verkohlte Haare gewesen. Sie hätte wissen sollen, dass genau das geschehen würde. Wie oft hatte sie die Titanen dieselben Dinge versuchen sehen? Und das Zweite schien sowohl theoretisch als auch praktisch unmöglich.

Sie ließ den Blick über ihre Umgebung schweifen. Nachdem die Titanen ausgebrochen waren, hatten sie alles verstärkt neu aufgebaut. Wie sie das geschafft hatten, wusste sie nicht. Eigentlich hätte das Gefängnis an Tartarus gebunden sein müssen, den griechischen Gott der Gefangenschaft, der einst Wache über die Titanen gehalten hatte. Als er aus unerfindlichen Gründen schwächer geworden war, war mit seinem Reich dasselbe geschehen. Alles darin war von Grund auf instabil geworden. Doch jetzt war Tartarus fort. Die Titanen hatten ihn nicht gefangen genommen, und niemand wusste, wo er war. Es war unverständlich, wieso das Reich trotz seiner Abwesenheit so stark war.

Wände und Fußboden waren aus göttlichem Stein gemacht, den nur göttliches Werkzeug – das sie nicht besaß – durchbrechen konnte. Und obwohl Tartarus verschwunden blieb, war nicht der feinste Riss zu sehen.

Die dicken silbernen Gitterstäbe, durch die sie das Wachhaus weiter unten sehen konnte, hatte Hephaistos gemacht. Nur Hephaistos konnte dieses Metall schmelzen. Unglücklicherweise war er an einem anderen Ort. Wie bei Tartarus war auch sein Aufenthaltsort niemandem bekannt. Und wenn Tartarus fort war, dann hätte sie wenigstens in der Lage sein müssen, das Metall zu verbiegen. Sie konnte es nicht; sie hatte es bereits versucht.

„Könntest du dich verdammt noch mal hinsetzen?“, knurrte Erebos aus einer der Schlafnischen.

Nike streifte ihn mit einem Blick. Von seinem dunklen Haar bis zu seiner dunklen Haut, von seinem attraktiven Gesicht bis zu seinem muskulösen Körper war er der Inbegriff eines unglücklichen Mannes, und dieses Gefühl war ausschließlich auf sie gerichtet.

„Nein“, gab sie zurück. „Kann ich nicht.“

„Wir versuchen hier, eine Flucht zu planen.“

Sie planten immer eine Flucht.

„Außerdem“, setzte er nach, „krieg ich Kopfschmerzen von deinem hässlichen Gesicht.“

„Verzieh dich, und mach’s dir selbst“, erwiderte sie. Auch wenn sie diejenige gewesen war, die ihn vor all den Jahrhunderten verletzt hatte – unabsichtlich –, hatte er es ihr seither tausendfach zurückgezahlt. Absichtlich. Nicht emotional, sondern körperlich. Nichts tat er lieber, als ihr „aus Versehen“ ein Bein zu stellen, sie anzurempeln und zu Boden zu werfen oder sie auszuhungern, indem er das bisschen Essen, das für sie gedacht war, hinunterschaufelte, bevor sie sich bis zum Anfang der Schlange durchkämpfen konnte.

Hätte sie nicht die Halsfessel tragen müssen, hätte er ihr all das niemals antun können. Sie wäre zu stark gewesen. Und er zu ängstlich. Noch ein Grund, ihre Gefangenschaft zu verabscheuen.

„Wenn ich’s mir selbst mache, würde mir das mit Sicherheit mehr geben als damals mit dir“, warf er ihr an den Kopf.

Die Handvoll Götter um sie herum kicherte gehässig.

„Wie du meinst“, sagte sie und tat, als würde ihr der Seitenhieb nichts ausmachen. Doch ihre Wangen wurden rot. Sie war der Inbegriff von Stärke – so sollte es jedenfalls sein –, und immer hatte sie eher kerlig als feminin gewirkt. Deshalb hatten Atlas’ Annäherungsversuche sie so überrascht und entzückt. Dieser umwerfende Mann hätte jedes Herz gewinnen können, und doch hatte er sie ausgewählt. Hatte sie jedenfalls gedacht. Und sie war auf ihn hereingefallen, weil er ihr irgendwie das Gefühl gegeben hatte, eine zarte, schöne Frau zu sein.

Dämlich. Ich war so dämlich.

Aus dem Augenwinkel sah sie einen schwarz gekleideten Mann in das Wachhaus hineinmarschieren. Sie musste nicht genauer hinsehen, um zu wissen, wer es war. Atlas. Sie spürte ihn. Jedes Mal fühlte sie seine Hitze.

Als sie den Blick auf ihm ruhen ließ, bemerkte sie, dass er den Arm um eine langbeinige Blondine gelegt hatte. Eine Blondine, die sich an seine Seite schmiegte, als gehörte sie dorthin – und hätte es sich schon viele Male dort gemütlich gemacht.

Bei diesem Gedanken stieg Zorn in Nike auf. Dabei gab es keinen Grund dazu, schließlich verabscheute sie Atlas mit jeder Faser ihres Seins und interessierte sich nicht im Geringsten dafür, mit wem er schlief. Wen er verwöhnte. Und ja, garantiert hatte er die Blondine verwöhnt, mit seinen talentierten Händen und den suchenden Lippen. Er war ein unglaublicher Liebhaber, und seine Berührungen verfolgten Nike noch heute in ihre Träumen. Und da war er: Zorn.

Gegen ihren Willen ging sie auf die Gitterstäbe zu und schloss die Hände darum, um einen besseren Blick auf Atlas zu haben. Um ihn herum standen drei weitere Wachen, redend und lachend. Im Gegensatz zum Weiß der Gefangenenkleidung trugen die Wachen Schwarz, und ihm stand es hervorragend. Es harmonierte perfekt mit seinem dunklen, kurz geschnittenen Haar und den meergrünen Augen.

Sein Gesicht war ein Kunstwerk, alles daran perfekt proportioniert. Seine Augen hatten den perfekten Abstand, seine Nase die perfekte Länge, seine Wangenknochen den perfekten Schwung, seine Lippen die perfekte Form und Farbe und sein stures Kinn den perfekten Schnitt.

Er war perfekt, während sie aus nichts als Makel bestand.

Sie hätte wissen müssen, dass er sie benutzen würde, sobald er diese gefährlichen Augen auf sie gerichtet und „Interesse“ darin aufgeleuchtet hatte. Männer sahen sie einfach nicht auf diese Weise an. Nicht einmal Erebos, und der hatte sie geliebt.

„Bastard“, murmelte sie und meinte damit beide Männer aus ihrer Vergangenheit.

Als hätte er sie gehört, hob Atlas den Blick. Sobald sich ihre Blicke trafen, wollte sie sich von den Gitterstäben lösen. Zurücktreten, aus seinem Sichtfeld fliehen. Doch diesen Luxus gestattete sie sich nicht. Das wäre feige gewesen, und dieser Mann hatte sie einmal zu oft Schwäche zeigen sehen.

Nur um ihn zu ärgern – und hoffentlich dasselbe Gefühl der Machtlosigkeit in ihm hervorzurufen, das sie in seiner Nähe immer verspürte –, ließ sie den Blick zu seiner Brust wandern: genau dorthin, wo ihr Name geschrieben stand. Sie lächelte selbstgefällig, bevor sie ihm wieder ins Gesicht sah und eine Augenbraue hob.

Treffer. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel.

Was hält dein Liebchen von deinem Brandzeichen? wollte sie rufen. Was denkt die Blondine über meinen Namen auf deinem Körper?

Mit einer unsanften Bewegung presste er das dumme Blondchen enger an sich und drückte ihr, ohne den Blickkontakt zu Nike zu unterbrechen, einen ausgiebigen, feuchten Kuss auf den Mund. Natürlich reagierte die Schlampe genauso, wie es jede andere an ihrer Stelle getan hätte. Sie schlang die Arme um ihn und klammerte sich fest wie eine Ertrinkende. Dieser Mann, wie Nike sehr gut wusste, konnte eine Frau allein durch seine meisterhaften Küsse zum Höhepunkt bringen.

Nikes Zorn wuchs. Hätte sie gekonnt, sie wäre zu ihm hinuntergestürmt und hätte das Flittchen von ihm losgerissen. Dann hätte sie beide umgebracht. Nicht, weil sie Atlas für sich selbst wollte – das wollte sie nicht –, sondern weil er offensichtlich eine weitere Frau ausnutzte. In seinem Gesichtsausdruck glomm keine Spur von Leidenschaft. Nur Entschlossenheit.

Nike würde der weiblichen Bevölkerung einen Gefallen tun, wenn sie ihn beseitigte.

„Erebos“, rief sie. „Komm her. Ich will dich küssen.“

„Was?“, keuchte dieser, sichtlich geschockt.

„Willst du einen Kuss oder nicht? Beweg deinen Hintern hierher. Aber zügig.“

Hinter ihr ertönte das Rascheln von Kleidung, und dann war ihr früherer Geliebter neben ihr. Er war ein Gefangener, und Sex war schwer zu kriegen. Also würde er nehmen, was er kriegen konnte, selbst von jemandem, den er hasste. So viel wusste sie.

Nike drehte sich zu ihm um; das Gesicht hatte er schon zu ihr gebeugt. Wie die Blondine schlang sie die Arme um den Hals ihres Gegenübers und klammerte sich fest. Bloß, dass sie den Kuss nicht genoss, so vertraut er auch war. Erebos schmeckte zu … was? Anders als Atlas, begriff sie, und ihr Zorn kochte noch höher. Kein Mann sollte so viel Macht über sie haben.

Trotzdem. Sie ließ Erebos weitermachen. Atlas musste erkennen, dass sie keinerlei Verlangen mehr nach ihm verspürte. Musste kapieren, dass er nie, niemals wieder ihre Gefühle gegen sie würde benutzen können. Sie war kein idealistisches kleines Mädchen mehr.

Dafür hatte er gesorgt.