15. KAPITEL

Geryon verbarrikadierte das Gebäude, so gut er konnte, was hinsichtlich des Mangels an geeignetem Material und Werkzeug ein recht schwieriges Unterfangen war. Kadence unterstützte ihn nach Kräften, indem sie ihm das zeitraubende Heranschleppen der Bretter und Steine abnahm, die sie durch ihren Willen dazu brachte, sich von allein zu den Fenstern zu bewegen.

Obwohl er beschäftigt war, fiel ihm auf, dass sie von Minute zu Minute blasser wurde. Eine Blässe, die umso mehr auffiel, als sie noch vor Kurzem das blühende Leben gewesen war; stark und gebieterisch die Dämonen gezwungen hatte, sich ihr zu beugen.

Warum baute sie plötzlich so ab?

Stand es ihm zu, sie danach zu fragen? Sie war immerhin eine Göttin. Diese Fahlheit zeugte jedenfalls nicht von simpler Erschöpfung, es steckte mehr dahinter. Etwas Ernsteres.

„Wie sieht unser Schlachtplan aus?“, fragte sie, als sie fertig waren. Sie lehnte sich an die Wand im hinteren Teil der Taverne. An den einzigen Fleck, an dem kein Blut klebte … oder andere Dinge.

Dich am Leben halten, um jeden Preis. Er gesellte sich zu ihr, achtete aber peinlich genau darauf, sie nicht zu berühren. Eine Berührung, und er würde sie zurück in seine Arme ziehen. Aber er musste aufmerksam bleiben, bereit, sofort zu reagieren.

„Sobald sie durchbrechen, hältst du sie an Ort und Stelle und ich erledige sie einen nach dem anderen.“

„Schnell und einfach“, sagte sie, und aus ihrer Stimme klang Befriedigung.

Trotz der gerade gezeigten Demonstration ihrer Macht überraschte es ihn, dass sie überhaupt keine Angst zu haben schien. Vielleicht, weil er sie lieber ängstlich gehabt hätte. Nur ein kleines bisschen. Gerade genug, um sie aus dem Gemetzel herauszuhalten. In sicherem Abstand.

„Ja, allerdings müssen wir abwarten, bis sie vollzählig sind. Schlagen wir zu früh zu, werden die anderen gewarnt sein und flüchten. Wer weiß, wohin. Die kennen sich hier besser aus als wir, und es könnte schwer werden, sie zu finden.“

Sie dachte über seine Worte nach. „Was denkst du, wie lange wird es dauern, bis sie hier sind?“

„Ein paar Stunden. Die Nachricht unserer Ankunft muss sich erst verbreiten, und dann werden die Herrscher noch ein Weilchen brauchen, um ihren Angriff zu planen.“ Geryon schrammte mit einer Klaue über die Holzdielen, um das darin eingeschnitzte Schadenszauber-Symbol zu zerstören. Späne flogen durch die Luft. „Ich habe eine Frage an dich.“

„Nur zu. Frag.“

Konnte er es wagen?

Ja, beschloss er, einmal mehr ihre Schönheit bewundernd. Er konnte.

„Ich verstehe, weshalb Luzifer daran gelegen ist, dass du die Hohen Herren vernichtest, die versuchen, aus der Hölle zu entkommen. Dadurch verhinderst du immerhin eine Massenflucht. Aber warum ist dir das so wichtig? Du wurdest im Himmel geboren. Da oben könntest du dir mit weitaus angenehmeren Beschäftigungen die Zeit vertreiben – zwischen den Wolken umhertollen, dich an den Speisen der Götter erfreuen.“

„Oh, ich habe mir oft gewünscht, in meine Heimat zurückzukehren. Aber mir wurde diese Aufgabe übertragen, und ich habe mich bereit erklärt, sie zu erfüllen. Und das werde ich. Davon abgesehen ist bei meinem Übertritt in dieses Reich eine Bindung entstanden zwischen mir und …“

„Eine Bindung? Was meinst du?“

„Wenn die Mauer fällt … bedeutet das meinen Tod.“

Sie würde sterben?

„Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“, brauste er auf. „Und wieso in aller Welt lässt du dich auf so etwas ein? Was ist in dich gefahren, freiwillig hierherzukommen?“

Sie knetete einen Zipfel ihrer Robe zwischen den Fingern.

„Hätte ich mich geweigert und wäre im Himmel geblieben, wäre ich unaufhörlich für meinen Ungehorsam bestraft worden. Ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. In dieser Hinsicht ist niemand konsequenter als die Götter. Sie wollten mich hier haben, also bin ich hier. Aber weder sie noch ich hatten eine Vorstellung davon, wie stark diese Bindung sein würde. Wie unumstößlich. Und ich habe dir deshalb nicht eher davon erzählt, weil …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dir wurde gestattet, deinen Posten zu verlassen, nach all dieser langen Zeit, und trotzdem hast du dich entschieden, mir zu helfen. Ich wollte dich nicht unnötig belasten. Aber du hast gefragt, und ich möchte dich nicht anlügen. Und etwas zu verschweigen ist auch eine Form des Lügens.“

„Kadence“, seufzte er, dann schüttelte er den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass das hier wirklich passierte. Dass er sie verlieren könnte – und keine Möglichkeit hätte, ihren Tod abzuwenden. „Ich hätte allein durch das Tor gehen sollen, dort auf die nächste Attacke der Hohen Herren warten und sie allesamt abschlachten. Jetzt ist die Barriere vollkommen ungeschützt, und du bist in größerer Gefahr, als du es sonst je gewesen wärst.“

„Nein. Sie hätten dich gesehen und sich nicht dicht genug herangewagt. Oberhalb des Trichters gibt es keine Versteckmöglichkeiten, sie hätten sich nicht anschleichen können.“

„Und das wäre für mich völlig in Ordnung gewesen. Sie hätten die Mauer in Ruhe gelassen und könnten dir so nichts anhaben.“

„Mag sein, aber was wäre das für ein Leben für dich? Ständig auf der Lauer liegen, für alle Ewigkeit?“

„Genau das Leben, an das ich gewöhnt bin.“ Wohl wahr. Der einzige Unterschied bestünde darin, dass er es für sie täte. Und er konnte sich keinen wichtigeren Beweggrund vorstellen, keinen, der ihn glücklicher gemacht hätte.

„Du verdienst mehr als das!“ Sie wandte ihm den Rücken zu und fuhr mit der Fingerspitze über den Kratzer, den er im Holz hinterlassen hatte. „Wir mussten das hier tun. Oder vielmehr, ich musste es. Aber es gibt noch etwas, das ich dir sagen will. Sollte ich fallen, wird es keine Auswirkungen auf die Barriere haben, sie ist nicht an mich gebunden, nur umgekehrt. Ich bin mir deshalb so sicher, weil ich über die Jahrhunderte oft verletzt wurde, ohne dass die Mauer irgendwelche Anzeichen der Beschädigung gezeigt hätte.“

„Die verfluchte Mauer ist mir egal!“ Ebenfalls wahr.

Ihre Augen weiteten sich. Dann schluckte sie und fuhr fort, als hätte er nichts gesagt. Oder gebrüllt.

„Wenn ich nicht mehr da bin, gibt es allerdings auch niemanden, der frühzeitig spürt, wenn etwas nicht stimmt. Die Götter werden jemand anderen an meinen Platz setzen müssen. Ich weiß, du bist jetzt frei, aber würdest du mir den Gefallen tun, so lange zu bleiben, bis sie einen geeigneten Ersatz gefunden haben? Selbst falls Luzifer bereits einen neuen Wächter verpflichtet hat?“

„Hör auf mit diesem Gerede. Du wirst nicht sterben, verstanden? Und jetzt erklär mir, wie du Luzifer dazu überredet hast, dich auf diese Seite zu lassen. Nach dem, was du mir erzählt hast, geht er damit ein ziemlich großes Risiko ein, oder?“

Sie wurde rot. Aus Verlegenheit? Schuldgefühl?

„Für ihn steht auch einiges auf dem Spiel, und er will die Mauer um jeden Preis schützen.“

Schuldgefühl, ganz eindeutig. Es schwang in jedem ihrer Worte mit, hallte von den Wänden wider.

„Er hätte die Hohen Herren einfach selbst vernichten oder sie mit einem Bann belegen können.“

„Nur dass er sie dazu erst einmal in die Finger bekommen müsste.“

Widerwillig nickte Geryon. „Der Punkt geht an dich.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf den Boden, durchdachte die Situation.

„Wie auch immer, Luzifer gibt nicht einfach so seine Erlaubnis. Nicht einmal zu etwas, das ihm einen Vorteil einbrächte. Er verlangt immer eine Gegenleistung.“ Was bedeutete, Kadence hatte ihn in irgendeiner Form bezahlt. „Was musstest du ihm geben? Warum hat er auf meine Seele verzichtet? Und wenn sie nicht länger in seinem Besitz ist, wo ist sie dann?“ Noch während er sie mit diesen Fragen bombardierte, formten sich in seinem Geist einige der unschönen Antworten darauf. „Du hast mich ihm abgekauft.“

Die Röte ihrer Wangen verstärkte sich. „Geryon, ich …“

„Ja oder nein?“

„Ja“, flüsterte sie. Ihre Lider flatterten, und sie schloss die Augen, die langen Wimpern warfen tiefe Schatten auf ihr Gesicht. Eine ihrer Hände wanderte zu dem Amethysten hinunter, der an einer Kette zwischen ihren Brüsten hing. „Und ich bereue es nicht.“

Befand sich seine Seele in diesem Edelstein?

„Hast du meine Freiheit etwa … mit deinem Körper erkauft?“ Falls ja, würde er diesen Mistkerl eigenhändig in Stücke reißen, ehe er zuließe, dass der auch nur einen einzigen seiner dreckigen Finger an sie legte.

Eine kurze Pause, dann öffnete sie langsam die Augen. „Nein. Und ich möchte jetzt wirklich nicht weiter darüber sprechen.“

„Aber ich. Sag es mir.“ Wut kochte in ihm hoch. Auf sie, auf Luzifer und am meisten auf sich selbst. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Welches Opfer hatte diese wundervolle Frau für ihn gebracht? Er legte die Hände auf ihre, nicht um sie festzuhalten, was ihm – nach dem, was er vorhin gesehen hatte – vermutlich ohnehin nicht möglich gewesen wäre, sondern um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Er war hier, bei ihr, komme was da wolle. Nichts, was sie sagte, würde ihn von ihrer Seite weichen lassen. „Bitte.“

Ihr Kinn zitterte. „Ich … ich habe ihm ein Jahr auf der Erde versprochen, ungestört, in dem er tun kann, was immer er will.“

„Oh, Kadence“, seufzte Geryon. Er wusste, dass die anderen Götter diesen Tauschhandel respektieren mussten – und sie bitter dafür bestrafen würden. Alles in ihm rebellierte bei diesem Gedanken. Wenn sie ihr auch nur ein Haar krümmten … kannst du rein gar nichts dagegen tun, du größenwahnsinniger Tölpel. „Wie konntest du das tun?“ Ein bestürztes Flüstern. Doch sie allein zu lassen … Nein, das brächte er trotzdem nicht übers Herz.

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Um dich zu retten. Um mich zu retten. Und die Welt jenseits unseres Einflussbereichs. Ich habe einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Ihn sich ein Jahr lang austoben zu lassen erschien mir das geringere Übel – verglichen mit einer Ewigkeit, in der Tausende von Dämonen die Erde bevölkern und sie unwiederbringlich zerstören.“ Sie setzte an, weiterzusprechen, doch statt Worten drang nur ein erstickter Schrei aus ihrer Kehle.

Von einem Moment auf den anderen wurde sie kreidebleich und brach ohne Vorwarnung zusammen.

Geryon beugte sich über sie, schob hastig eine Hand unter ihren Kopf. „Was ist mit dir, Kleines? Rede mit mir.“

„Die Dämonen … Ich glaube … Sie sind an der Mauer.“