126. KAPITEL
Hauptbahnhof, Jekaterinburg
Sorg lief über den Gang. Er umklammerte die Pistole mit einer Hand, die Klinge mit der anderen. Seine Sinne waren geschärft. Er lauschte, hörte aber nichts, nicht einmal Stimmen, und das machte ihn misstrauisch. Sein Herz raste.
Wo ist Anastasia?, fragte er sich.
Schließlich erreichte Sorg das Ende des leeren Waggons. Eine Tür führte zu einem kurzen Übergang zum nächsten Wagen. Sorg öffnete sie langsam, ging hinüber und drückte die nächste Waggontür auf, die sich quietschend öffnete.
Er trat ein, schloss die Tür leise hinter sich und lief den Gang hinunter. Die Toilette, an der er vorbeikam, überprüfte er nicht.
Das war ein Fehler.
Denn nur einen Augenblick später hörte er ein leises Klicken hinter sich, und den Bruchteil einer Sekunde später spürte er den kalten Lauf einer Waffe im Nacken.
»Werfen Sie die Pistole auf den Boden, oder ich schieße«, sagte ein Mann.
Sorg ließ die Waffe fallen.
Vor ihm trat ein anderer von Kasans Männern – der mit dem grauen Schlapphut – aus einem Abteil und grinste. »So sieht man sich wieder. Sie legen es wohl darauf an, dass Kasan Sie wieder in die Mangel nimmt.« Er bückte sich, hob Sorgs Waffe auf und steckte sie in die Tasche. »Durchsuch ihn.«
Der Mann hinter ihm tastete ihn mit einer Hand ab, die andere drückte ihm immer noch die Waffe in den Nacken. Sorg versuchte unauffällig, einen Blick über die Schulter zu werfen.
»Drehen Sie sich um!«, befahl ihm der Mann mit dem Schlapphut.
Sorg wählte den Mann, der hinter ihm stand, als erstes Opfer aus. Er hob die Hand, in der er die Klinge hielt, und schwang den Arm mit voller Wucht nach hinten. Die Klinge traf den Mann genau unter dem linken Auge und drang tief in die Augenhöhle ein. Er stürzte schreiend zu Boden und presste eine Hand aufs Gesicht.
Der andere vor ihm reagierte sofort und richtete seine Pistole auf Sorg. Doch der riss schon seinen Arm nach vorne, stürzte sich auf den Gegner und stieß ihm die Klinge mit voller Wucht in die Brust.
Der Mann schnappte keuchend nach Luft und taumelte rückwärts, ehe er auf dem Boden zusammensackte.
Sorg drehte sich zu dem Mann um, der hinter ihm gestanden war. Er schrie noch immer und presste eine Hand auf sein blutendes Auge. Mit der anderen fuchtelte er blind mit der Waffe herum. Sorg tötete ihn mit einem einzigen gezielten Stich ins Herz.
Dann bückte er sich und hob die Waffe und den grauen Schlapphut auf. Er setzte ihn sich auf den Kopf und ging auf den ersten Wagen zu.
Sie hörten, dass jemand schrie.
Kasan geriet in Panik. »Seien Sie still! Keiner sagt ein Wort!«
Der Inspektor hielt seine Gefangenen mit der Waffe in Schach, als er langsam auf die Tür zuging, die zum nächsten Wagen führte. Er spähte durch die Scheibe, sah aber niemanden.
Der Schrei war abrupt verstummt. Kasan fuhr sich mit der Zunge nervös über die trockenen Lippen. »Ich warne Sie! Wenn einer versucht, den Zug zu verlassen, eröffnen die Soldaten auf dem Bahnsteig augenblicklich das Feuer. Sie haben den Befehl, jeden von Ihnen zu erschießen, der die Flucht ergreift. Bleiben Sie also hier.«
Vorsichtig öffnete Kasan die Tür und trat auf den Gang. Kaum war er ein paar Meter gegangen, blieb er zögernd stehen. Vor ihm lag der leere Gang. Die Stille im Wagen war unheimlich. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch erfüllt ging er zurück zur Tür und rief: »Federow! Sakowitsch!«
Seine Männer antworteten nicht.
Kasan hielt die Waffe im Anschlag. Schweiß rann ihm übers Gesicht. »Federow! Sakowitsch!«, rief er noch einmal.
Und plötzlich bog jemand mit gesenktem Kopf um die Ecke. Kasan schrak zusammen und wollte gerade die Waffe auf den Mann richten, als er Federows grauen Hut erkannte.
»Was hat Sie aufgehalten? Wo ist er?«, rief Kasan aufgeregt.
Der Inspektor starrte seinen Gehilfen an, und als dieser den Kopf hob, erkannte er seinen Irrtum. Denn der Mann, der ihm jetzt in die Augen blickte, war nicht Federow.
Sorg spannte den Hahn, richtete die Pistole auf Kasans Stirn und zischte: »Lassen Sie die Waffe fallen!«
Kasan gehorchte.
»Wo sind die anderen?«, fragte Sorg. Der Lauf seiner Pistole war noch immer auf Kasans Kopf gerichtet.
Auf Kasans Oberlippe schimmerten Schweißperlen. »In … in dem Wagen hinter mir. Machen Sie nicht den Fehler und erschießen mich. Sonst kommen sofort die Soldaten auf dem Bahnsteig! Das würde für Sie und Ihre Freunde alles nur noch schlimmer machen.«
»Schlimmer? Ich glaube nicht, dass es noch schlimmer kommen kann, Kasan. Sie? Aber keine Sorge, ich erschieße Sie nicht.«
Kasan entspannte sich und schluckte. »Das ist sehr weise. Geben Sie auf! Dann verspreche ich Ihnen zumindest einen schnellen Tod.«
»Wo ist Anastasia?«
»Im Wagen hinter mir.«
»Lebt sie?«
Kasan sah Sorg triumphierend an. »Ja, aber wer weiß, wie lange noch.«
Sorgs Herzschlag beschleunigte sich. »Sagen Sie, Kasan, haben Sie viele Menschen getötet?«
Kasan hob die Augenbrauen. »Was spielt das jetzt für eine Rolle?«
»Sie waren lange bei der Geheimpolizei und haben mit Sicherheit viele Unschuldige umgebracht. Erinnern Sie sich an einen Mann namens Jacob Sorg?«
»Nein.«
»Dachte ich mir. Ich möchte, dass Sie sich an diesen Namen erinnern.«
»Warum?«
»Er war mein Vater, und sein Name ist der Letzte, den Sie jemals hören werden.«
Sorg hob die Hand, in der er die Stahlklinge hielt, und stieß sie Kasan so tief in den Hals, dass sie am Knochen entlangschrappte.
Kasan taumelte rückwärts und starrte Sorg ungläubig an. Dann wirbelte er wie ein verwundeter Bär herum, schlug mit den Händen in der Luft herum und taumelte den Weg zurück, den er gekommen war.
Ein Gefühl der Erleichterung stieg in Sorg auf. Er folgte Kasan durch die Tür in den nächsten Wagen, wo er mit hervorquellenden Augen auf dem Boden zusammenbrach. Die Blicke der anderen wanderten von dem Toten zu Sorg.
Anastasia lag auf der anderen Seite des Waggons. Ihre Augen waren geschlossen, und sie war bis zur Brust in eine Decke eingehüllt. Sie schien noch zu atmen. Ein Mann mit einem Stethoskop um den Hals kümmerte sich um sie.
Sorgs Herzschlag setzte vor Freude einmal aus, doch die Erleichterung währte nicht lange.
Boyle trat vor und stieß mit der Stiefelspitze gegen Kasans Leichnam. »Das könnte der zweite schwere Fehler sein, den Sie heute Nacht begangen haben«, knurrte er verärgert. »Mussten Sie ihn unbedingt töten?«
»Das verstehen Sie nicht. Es war eine persönliche Sache.«
»Was ist mit seinen Männern?«, fragte Andrew auf Russisch.
Sorg hielt seine Stahlklinge hoch. »Sie liegen in einem der hinteren Wagen. Tot.«
Boyle runzelte die Stirn. »Es heißt wohl zu Recht, stille Wasser sind tief.«
Sorg kniete sich neben Anastasia und ergriff vorsichtig ihre Hand. »Wie geht es ihr?«
»Sie atmet noch, aber bestimmt nicht mehr lange«, sagte Boyle. »Da uns die halbe Rote Armee umzingelt und wir in einem Zug festsitzen, der nicht fährt, hat sie keine Chance.«
Andrew warf Jakow einen verzweifelten Blick zu. »Und jetzt? Wirst du wenigstens die Frauen leben lassen und Kasans Versprechen halten?«
Draußen waren Schritte zu hören.
Andrew spähte durch die Fensterscheibe. Dutzende von Soldaten marschierten auf den Wagen zu. Der Kommandant führte sie mit gezogener Pistole an.
Jakow ging zum Tisch und nahm Boyles.45er Colt-Pistole in die Hand. »Ich fürchte, ich kann nichts versprechen.«