50. KAPITEL

Carlingford Lough

Das Fischerdorf an der irischen Küste war einst ein belebter Wikingerhafen. In der im Schatten der Ruinen von King John’s Castle aus dem zwölften Jahrhundert gelegenen Bucht glitten an diesem warmen Sonntagnachmittag unzählige Segelboote durchs Wasser.

Kinder spielten am Strand. Männer mit gestärkten Stehkragen und Strohhüten und Frauen in langen Kleidern und mit eleganten Kopfbedeckungen spazierten auf der Promenade entlang.

Lydia und Andrew parkten den T-Ford und suchten sich einen schönen Platz zum Picknicken. Sie falteten die Decke auseinander und inspizierten den Picknick-Korb: eine Flasche Burgunder, in Pergamentpapier eingewickelte Sandwiches mit Hühnchen und Gurke, Geschirr und Servietten.

Andrew öffnete die Flasche mit einem Korkenzieher, goss zwei Gläser Wein ein und reichte Lydia eines. »Erzählen Sie mir etwas über sich. Wenn ich Ihnen mein Leben anvertrauen soll, möchte ich so viel wie möglich von Ihnen wissen.«

Lydia nippte an ihrem Glas. »Mein Vater reiste viel, als mein Bruder und ich klein waren. Wir lebten acht Jahre in Sankt Petersburg, wo mein Vater eine Pferdezucht betrieb. Zum Glück erkannten meine Eltern rechtzeitig die Vorzeichen, und wir verließen Russland, ehe der Krieg begann.«

»Und die Arbeit als Gouvernante?«

»Mein Vater war der Meinung, es könnte interessant für mich sein, ein Jahr auf diese Weise zu verbringen.«

»Und war es das?«

Lydia dachte darüber nach. »Ich habe dieses ganze herrschaftliche Getue gehasst, wenn Sie das meinen. Aber ich mochte die Kinder des Zaren. Es sind ganz besonders reizende, unkonventionelle Wesen. Und sie sind gar nicht verwöhnt, was schon erstaunlich ist, wenn man bedenkt, aus welcher Familie sie stammen. Sie schliefen in harten Betten und mussten alle bestimmte Aufgaben übernehmen.«

»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu ihnen?«

»Ich glaube schon, auch wenn sie mitunter schwierig waren, wie alle Kinder. Die Romanows schienen am glücklichsten zu sein, wenn sie unter sich waren. Hinter der glitzernden Fassade sind es einfache, sehr religiöse Menschen.«

Lydia stellte ihr Glas ab. »Das alles wissen Sie bestimmt aus Ihrer Zeit in der Leibwache des Zaren. Alexej litt schon damals an seiner schweren Krankheit. Er ist furchtbar empfindlich, und seine Eltern machen sich immer große Sorgen um ihn.« Sie verstummte kurz. »Was ist mit Ihnen? Was ist passiert, dass Ihre Frau die Scheidung wollte?«

Andrew starrte mit finsterem Blick in die Ferne. »Was immer in diesen Fällen passiert. Die Menschen verändern sich.«

»War das der Grund?«

»Würde es Sie überraschen, wenn ich sagte, dass ich es nicht weiß? Ich weiß nur, dass man bei dem Versuch, es herauszufinden, verrückt werden kann.«

»Sie müssen sie noch immer lieben.«

»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich überhaupt noch weiß, was Liebe eigentlich ist, jedenfalls nicht die Liebe zwischen Mann und Frau«, erwiderte Juri Andrew mit betrübter Miene.

»Warum sonst sollten Sie zurückgehen?«

»Weil ich mir vor allem wünsche, dass mein Sohn frei und ohne Angst aufwächst und nicht von einem Verrückten wie Lenin für ein irrsinniges, blutrünstiges gesellschaftspolitisches Experiment missbraucht wird«, stieß er aufgebracht aus und wechselte dann das Thema. »Erzählen Sie mir etwas über Ihren Verlobten. Wie kam es, dass Sie auf unterschiedlichen Seiten gekämpft haben?«

»Als die feindlichen Auseinandersetzungen begannen, machten alle den despotischen Kaiser verantwortlich. Sie nannten ihn einen Kriegstreiber, der es darauf abgesehen hatte, Europas Freiheit zu zerstören. Jedenfalls haben die Briten es so dargestellt. Darum wurde Sean wie so viele Iren Soldat. Nach 1916 hat sich natürlich alles verändert.«

»Warum?«

»Das war das Jahr der irischen Rebellion. Als die Briten die republikanischen Führer hinrichteten, ohne die geringste Gnade zu zeigen, gab es kein Zurück mehr.«

Andrew schaute Lydia fragend an. »Erzählen Sie mir den Rest.«

»Was meinen Sie?«

»Ich bin durch die Hölle gegangen und erkenne, wenn andere Schlimmes erlebt haben. Als wir uns zum ersten Mal sahen, spürte ich, dass Kummer und Wut an Ihnen nagen. Und ich spreche nicht nur über das, was mit Ihrem Land geschehen ist. Ich meine Sie persönlich.«

»Was soll das heißen?«

»Ich habe genug über die Menschen gelernt, um zu wissen, dass Wut, Bitterkeit und seelische Verletzungen immer von Kränkungen, Angst oder Enttäuschungen herrühren. Sie verbergen etwas. Habe ich recht?«

Lydia errötete. Andrew schien einen wunden Punkt getroffen zu haben. »Ich finde, ich habe Ihnen genug erzählt.«

»Darf ich Ihnen sagen, was ich sonst noch gelernt habe? Wir offenbaren niemals unser wahres Ich. Wie Salome bei ihrem Tanz. Sie versteckte sich hinter sieben Schleiern vor der Welt. Die meisten von uns legen ihre Schleier niemals ab. Sie bieten uns Sicherheit und eine Möglichkeit, uns zu schützen. Und genau das tun Sie jetzt.«

»Ach ja? Sie sind wohl ein Experte, was?« Lydia sprang auf und riss die Decke vom Boden hoch, worauf das Essen, die Teller und die Weinflasche in den Sand fielen. »Ich finde, es ist Zeit, dass wir diesen Unsinn beenden und zurückfahren!«

»Ich freue mich, dass Sie beide sich so gut vertragen. Genau wie ein richtiges Ehepaar«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Sie drehten sich um. Vor ihnen stand Boyle und lächelte sie an.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Lydia.

»Ich hielt es für das Beste, gleich hierherzukommen, um es Ihnen mitzuteilen. Wir müssen unseren Plan ändern. Wir brechen morgen nach Russland auf.«