25. KAPITEL
Moskau
Über dreitausend Kilometer entfernt regnete es an diesem Nachmittag in Strömen, als der olivgrüne Fiat-Lastwagen vor einem heruntergekommenen Mietshaus am südlichen Ende des Kolinsky-Prospekts anhielt.
In dem vor hundert Jahren erbauten Gebäude wohnten zwölf Familien in sechzehn Räumen ohne Strom und mit einer einzigen verfallenen, stinkenden Gemeinschaftstoilette im Erdgeschoss.
Jakow stieg aus dem Fiat und nahm ein großes, in braunes Papier eingewickeltes und verschnürtes Paket aus dem Wagen. Er trug seine Lederjacke, eine Mütze und hohe Stiefel. Der Nagant-Revolver steckte in dem Holster an seiner Hüfte. »Warte hier und pass auf den Lastwagen auf. Ich möchte allein mit Juris Frau sprechen«, sagte er zu Soba, der auf dem Fahrersitz saß.
»Glaubst du wirklich, die würden hier einen Lastwagen stehlen, der der Tscheka gehört?«, erwiderte der Georgier mit den dunklen, mandelförmigen Augen lächelnd.
»In hoffnungslosen Zeiten würden die Leute alles tun.«
Als Jakow klopfte, öffnete sie die Tür.
Nina hatte den Arm voller Wäsche und sah abgespannt aus. Sie trug ein verschlissenes Kleid, das an einigen Stellen notdürftig geflickt war. Das blonde Haar fiel ihr bis auf die Schultern.
»Guten Tag, Nina. Darf ich reinkommen?«
Hinter der Tür sah Jakow ein schäbiges, ärmlich eingerichtetes Zimmer, in dessen Mitte ein wackeliger Tisch und zwei Rohrstühle standen. Auf der Tapete, die sich von den Wänden löste, waren Schimmelflecken. In einer Ecke entdeckte Jakow einen Holzofen mit ein paar geschwärzten Töpfen obendrauf. Ein altes schmiedeeisernes Bett war an eine Wand geschoben worden. Offenbar hatte Nina sich bemüht, den Raum ein wenig zu dekorieren. Vor den morschen Fenstern hingen blaue Vorhänge, und in einer alten Vase standen ein paar weiße Lilien.
Sie strich sich mit der Hand ängstlich durchs Haar. »Sergej schläft. Ich bitte dich, leise zu sprechen.«
Jakow richtete seinen Blick auf den schlafenden Jungen im Bett, der mit alten Mänteln und Decken zugedeckt war und dessen blonde Locken auf der feuchten Stirn klebten. Er war ein hübscher Junge, der seinem Vater sehr ähnlich sah. Sergej hustete mehrmals stark und drehte sich im Schlaf um. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe. Neben einer Petroleumlampe am Bett sah Jakow eine Flasche mit Medizin und einen Teelöffel.
»Wie ist es dir ergangen, Nina? Wie geht es dem Jungen?«
»Sergej ist krank. Er hatte von Geburt an schwache Lungen, und durch die Feuchtigkeit hier wird es nicht besser.
»Was hat der Arzt gesagt?«
Nina strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Welcher Arzt? Die besten sind aus dem Land geflohen, und ihr Roten habt die meisten anderen eingezogen. In den letzten sechs Monaten musste ich mich mit einem Scharlatan begnügen, der keine Ahnung hatte und ein Vermögen verlangt hat.«
»Es tut mir leid, das zu hören.«
Nina nahm einen durchgescheuerten Kinderpullover vom Wäschestapel und legte den Rest hinten im Raum an das Fenster mit Blick auf einen hässlichen Hinterhof. Die Wäsche, die auf einer Leine draußen im Regen hing, flatterte im Wind.
Mit dem Pullover in der Hand setzte sie sich an den Tisch. Dort lag ein Knäuel Wolle, in dem eine Stopfnadel steckte.
Jakow nahm seine Mütze ab und legte das sperrige Paket auf den Tisch. »Ein paar Lebensmittel und Kondensmilch für dich und das Kind. Und ein paar Kleidungsstücke für den Jungen. Ich weiß, dass es schwer für euch ist.«
Nina musterte ihn mit entschlossenem Blick. »Ich habe es dir schon gesagt, dass ich nichts von dir haben will, Leonid.«
»Kannst du deinen dummen Stolz nicht einmal vergessen? Wenn du es nicht willst, gib es wenigstens dem Jungen!«
»Nein«, erwiderte Nina aufgebracht. »Ich nehme von dir und deinesgleichen nichts, solange meine Eltern im Gefängnis verrotten! Sie haben nichts Böses getan, und doch wurden sie beschuldigt, Feinde des Volkes zu sein. Was hat das zu bedeuten?«
Jakow sah ihr an, dass sie furchtbar verärgert war. »Ich habe gesagt, dass ich mich darum kümmere. Diese Dinge brauchen ihre Zeit. Aber darum bin ich nicht gekommen.«
»Es hat bestimmt mit Juri zu tun. Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Das letzte Mal habe ich ihn nur ein paar Minuten gesehen, bevor er fliehen musste. Du hast mit deinen Männern das Haus beobachtet. Den Rest kennst du. Juri ist entkommen. Ich habe keine Ahnung, wohin er gegangen ist. Und wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Das weißt du sicherlich.«
Während Jakows Blick zu dem Kind und zurück zu ihr wanderte, dachte er über ihre Antwort nach. »Glaub mir bitte, und denk gar nicht daran, Sergej zu fragen«, fuhr sie fort. »Für ihn ist es schon schwer genug, dass er seinen Vater vermisst. Er hat oft über Juri gesprochen. Jetzt weint er immer, wenn sein Name fällt.«
Jakow stand auf und blickte hinunter auf die Straße. Es hörte nicht auf zu regnen. »Eine Revolution ist für alle Menschen schwer. Ohne Opfer und Leid kann sie nicht gewonnen werden.«
»Und welche Opfer bringst du, Leonid? Auf dein Leben scheint sich diese Katastrophe positiv auszuwirken!«
Er schwieg einen Moment, ehe er antwortete. »Niemand entkommt dem Elend des Krieges. Es sei denn, er ist clever genug, um zu fliehen.«
»Was meinst du damit?«
Jakow setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. »Juri ist verschwunden. Vermutlich ist er nach Frankreich oder England gegangen. Irgendwohin, wo zaristische Emigranten eine Schulter finden, um sich auszuweinen, oder wo Mörder ihrer Strafe entgehen.«
»Woher weißt du das?«
»Das ist eine logische Schlussfolgerung. Wenn er noch hier wäre, hätte er Kontakt zu dir aufgenommen. Ich kenne Juri. Er ist nicht der Mann, der dich und seinen Sohn in diesem Elend im Stich lassen würde. Welche Differenzen es auch zwischen euch gegeben haben mag, er wird auf jeden Fall irgendwann versuchen, dich aus dieser misslichen Lage zu befreien, und sei es nur Sergej zuliebe. Und sobald er es versucht, wird er mir nicht entkommen. Nicht dieses Mal. Das verspreche ich dir.«
Nina schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass Juri das Verbrechen begangen hat, dessen du ihn beschuldigst.«
»Das ist deine Meinung. Der Krieg verändert die Menschen. Er hat dich verändert und ihn auch. Was er mit Stanislaw gemacht hat, hätte ich nicht einmal einem Hund angetan. Außerdem gibt es einen Zeugen.«
»Juri hat Stanislaw geliebt wie einen Bruder. Er hätte ihm niemals etwas zuleide getan. Niemals!«
»Kannst du dir das entsetzliche Bild vorstellen, das ich Tag und Nacht vor Augen habe? Stanislaws lebloser, blutüberströmter Leichnam im Schnee. Mein Gott, er war erst sechzehn! Er war doch noch ein Kind!«
»Um Himmels willen, hör auf, Leonid! Rühre nicht mehr daran und beende diesen Wahnsinn, ehe er dich zerstört!«
Jakow schob den Stuhl hastig zurück und sprang erbost auf. Hass flackerte in seinen Augen auf. »Niemals! Das wird nicht passieren, solange noch ein Funken Leben in mir ist.«
Der Junge regte sich im Schlaf. Er keuchte und hustete, dann schlief er wieder ein.
Nina stand auf. »Du wirst nicht auf mich hören, nicht wahr? Ich vergeude nur meine Zeit. Wenn du sonst nichts zu sagen hast, würde ich dich bitten zu gehen, bevor du meinen Sohn noch aufweckst.«
Jakow griff nach seiner Mütze. »Liebst du Juri noch?«
»Welche Gefühle ich Juri entgegenbringe, geht dich nichts an. Ebenso wenig wie unsere Differenzen. Er und ich waren einst Mann und Frau, und das sind wir nun nicht mehr. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Der Regen peitschte gegen das Fenster. Jakows Blick glitt durch das schäbige Zimmer. Trotz allem hatte er Mitleid.
Nina schwieg, als er auf sie zukam, ihr Gesicht mit den Händen umfasste und sagte: »Sieh mich nicht an, als würdest du mich verachten.«
»Ich habe dich niemals verachtet. Ich habe dich immer gemocht, Leonid. Aber du bist nicht mehr der Mensch, den ich einst kannte. Du warst immer anständig und hattest ein gutes Herz. Jetzt bist du verbittert und gnadenlos. Was hat dich so verändert? Das hat nicht nur mit Stanislaws Tod zu tun. Es steckt mehr dahinter, nicht wahr?«
Jakow hörte ihr zu, ohne etwas zu erwidern.
Als Nina sich umdrehen wollte, zog er sie an sich und presste gierig seinen Mund auf ihren. Sie wehrte sich, stieß ihn weg und verpasste ihm eine Ohrfeige. Seine Unterlippe platzte auf. »Nein, Leonid …!«
Jakow wischte sich das Blut vom Mund und starrte sie mit einem gequälten Lächeln an. »Das beweist nur, was ich immer gewusst habe. Arme können keine hübschen Dinge besitzen.«
»Ich war nie hübsch, Leonid, wenn du das meinst!«
»Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wie oft habe ich nachts meine Augen fest geschlossen und mir vorgestellt, wie es wäre, mit dir verheiratet zu sein. Dich zu lieben und von dir geliebt zu werden … Natürlich hatte ich keine Hoffnung. Jemand wie ich kann niemals davon träumen, jemanden wie dich zu besitzen. Ich war zu arm und hässlich, um jemals darauf hoffen zu können.«
»Leonid … sag so etwas nicht!«
»Warum nicht? Als ich dich in der Nacht, als Stanislaw geboren wurde, zum ersten Mal gesehen habe, hätte ich mich am liebsten wie ein kleiner Hund vor deinen Füßen zusammengerollt. Sicher, es war eine kindliche Liebe, aber für mich war es dennoch von Bedeutung. Weißt du, was traurig ist? Ich habe niemals eine andere Frau so geliebt wie dich. Nicht einmal die Mutter meiner Tochter.«
Nina errötete.
Jakow wischte sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund. »Diese Revolution wird alles verändern. Menschen wie du und deinesgleichen werden nicht mehr in Sicherheit sein. Das Leben wird hart für euch. Sogar grausam. Ich könnte dein Beschützer sein. Ich könnte dafür sorgen, dass dir und deinem Kind nichts zustößt.«
Der Junge regte sich wieder im Schlaf und hustete erneut. Nina nahm das Paket und drückte es Jakow an die Brust. »Bitte geh jetzt.«
»Behalte es, dem Kind zuliebe.«
»Ich will nichts von dir, Leonid. Nichts!«
Jakow musterte noch einmal den schäbigen Raum. »Es muss nicht so sein. Du brauchst kein tristes, hoffnungsloses Leben zu führen. Ich könnte dafür sorgen, dass dir eine bessere Wohnung zugeteilt wird und dass du vernünftiges Essen bekommst. Vor allem könnte ich dir das geben, was du dir so verzweifelt wünschst.«
»Und was soll das sein?«
»Ich kann dir dein Leben zurückgeben. Du brauchst mich nur zu informieren, wenn Juri Kontakt zu dir aufnimmt.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann wird Lenin dich und dein Kind in ein sibirisches Gefangenenlager verbannen.«
Kurz darauf hörte sie seine polternden Schritte auf der Treppe. Nina ging zum Fenster und sah, dass Leonid Jakow in einen Lastwagen stieg, der sofort losfuhr. Einen Augenblick lang ließ sie den Blick auf der leeren Straße ruhen, dann wandte sie sich ab. Sie trat ans Bett und betrachtete ihren Sohn. Jakows Warnung ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Sie blickte auf Sergejs schlafendes Gesicht und die Schweißperlen auf seiner Stirn hinunter, seine vollen Lippen und die zarte Haut, die feuchten blonden Locken, die sie so gerne zerzauste. Zärtlich strich Nina mit dem Handrücken über sein Gesicht und lauschte seinem schweren Atem.
Als Nina es nicht mehr ertragen konnte und ihr Tränen in die Augen stiegen, stand sie auf und setzte sich auf einen der Stühle.
Sie legte die Arme auf den Tisch, ließ den Kopf sinken und begann bitterlich zu weinen. Um ihre Eltern, um ihr Kind, um das Geheimnis, das sie bewahrte und das sie versprochen hatte, niemals preiszugeben, um ihren Ehemann, den sie verlassen hatte, und um das erbärmliche Leben, das sie jetzt führte.