6. KAPITEL

Zarskoje Selo

Sorg erwachte aus seinen Tagträumen. Vier bewaffnete Wachen traten durch eine Terrassentür auf den schneebedeckten Rasen des Palastes.

Er erstarrte und beobachtete das Geschehen durch das Fernrohr. Hinter den Wachen kam die Romanow-Familie. Sorgs Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als hätte ihm jemand einen Dolch zwischen die Rippen gestoßen.

Die Letzte, die das Haus verließ, war Anastasia. Sie hielt Jimmy, den schwarz-weißen Schoßhund der Familie, auf dem Arm. Draußen angekommen, ließ sie ihn herunter, worauf er im Schnee umhertollte. Anastasias Haar fiel ihr bis auf die Schultern, um ihren Hals hatte sie sich einen weißen Schal geschlungen. Sorg hätte sie seinerzeit auf den kaiserlichen Fotos, die er gesehen hatte, erkennen müssen, doch sie schien jetzt viel älter zu sein. Das Mädchen auf den Bildern sah aus wie ein Kind, aber aus der Nähe betrachtet wirkte sie wie eine junge Dame.

Die Vorhersage ihres Klavierlehrers Konrad hatte sich bewahrheitet. Innerhalb weniger Monate hatte der Zar abgedankt, und seine Familie war im Alexanderpalast in Zarskoje Selo unter die Aufsicht bewaffneter Wachen gestellt worden. Kerenskis Übergangsregierung, die an allen Fronten kämpfen musste, hing am seidenen Faden. Sozialisten, Menschewisten und die Roten versuchten, die Kontrolle über das Land an sich zu reißen, während sie schnurstracks auf einen blutigen Bürgerkrieg zusteuerten.

Sorg beobachtete Anastasia und ihre ältere Schwester Olga, die Schneebälle formten und ihre Schwestern Tatjana und Maria damit bewarfen. Es sah so aus, als trüge Anastasia einen Mantel ihres Vaters. Er war viel zu groß für sie und verlieh ihr ein verletzliches Aussehen.

Sorg wandte den Blick von den herumalbernden Mädchen ab, als die einstige Zarin und ihr Gatte auf eine Bank zugingen und sich hinsetzten. Wie immer trug der gestürzte Zar seinen dreizehnjährigen kranken Sohn Alexej auf dem Arm. Er setzte das Kind auf seinen Schoß und drückte es an sich.

Anastasia hatte einmal erzählt, dass ihre Familie ständig in Sorge sei, Alexej könne verbluten. Mit Ausnahme des Zaren selbst glaubte die ganze Familie, Rasputin habe wie durch ein Wunder geholfen, Alexejs Bluterkrankheit zu lindern. Für Sorg war es unvorstellbar, dass dieser verrückte, betrunkene Mönch, den er auf dem Ball gesehen hatte, überhaupt irgendetwas konnte.

Doch jetzt war Rasputin tot. Seine Feinde hatten ihn brutal ermordet und seinen Leichnam in die Newa geworfen.

Nikolaus II. strich seinem Sohn zärtlich übers Haar. Dieser Mann hatte einen widersprüchlichen Charakter. Sorg würde niemals die Zeitungsfotos vergessen, die sein Vater ihm von den jüdischen Kindern, unter denen sich sogar Babys befanden, gezeigt hatte, die während eines Pogroms niedergemetzelt worden waren. Auch Verwandte von Sorg hatten sich unter den Opfern befunden. War es da eine Überraschung, dass die Revolution größtenteils von den Juden ausging?

Sorg richtete seinen Blick wieder auf Anastasia. Sie tollte mit ihren Schwestern verspielt im Schnee herum. Es ist wirklich absurd, sagte sich Sorg. Er war ein sechsundzwanzigjähriger zynischer Jude aus Brooklyn, der über die Liebe spottete. Anastasia Romanowa war sechzehn Jahre alt, eine geborene russische Großfürstin. War es falsch, dass er – ein erwachsener Mann – an einem so jungen Mädchen Gefallen fand? Obwohl Sorg alles, wofür ihr Vater stand, vehement ablehnte, erweckte dieses junge Mädchen die wärmsten Gefühle in ihm.

Als Sorg sie beobachtete, dachte er: Ich habe nicht vorhergesehen, dass das passiert und dass ich mich hoffnungslos in dich verliebe. Ich hätte niemals gedacht, dass ich deine Gesellschaft vermisse und mich danach sehne, dich zu küssen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich danach verzehre, dass du nachts neben mir liegst. Ich hätte mir niemals vorstellen können, es könnte mich in Angst und Schrecken versetzen, dich niemals wiederzusehen.

Der Gedanke an das, was sein Vater, der die Monarchie abgrundtief gehasst hatte, wohl dazu gesagt hätte, beunruhigte ihn.

Sorg schob den Gedanken beiseite und dachte daran, wie er nach jeder Klavierstunde im Palast immer ungeduldiger auf seinen nächsten Besuch gewartet hatte. Es spielte keine Rolle, dass die Unterrichtsstunden nicht nur seinem Vergnügen dienten, sondern dass er sie zudem nutzte, um Geheiminformationen zu sammeln. Sorg redete sich ein, dass es viel mehr als nur Sympathie war, was er und Anastasia bei ihrem ersten Treffen empfunden hatten. Und auch wenn sie ein echter Wildfang war, spürte er ihre Verletzbarkeit.

Es war so, als fügte sie sich trotz ihrer privilegierten Erziehung – oder vielleicht gerade deshalb – nirgendwo ein. Ihre Schwäche nährte seinen Wunsch, sie zu beschützen.

Urplötzlich geriet Sorg in Aufregung, als die Wachen die Romanows zurück zum Palast führten. Ihr kurzer Ausflug ins Freie war beendet. Anastasia war die Letzte, die in den Palast zurückkehrte. Sie zögerte einen kurzen Moment, als suchte sie etwas im Garten, ohne genau zu wissen, was es war. Und dann drehte sie ihren hübschen Kopf um, betrat durch die Terrassentür den Palast und verschwand.

Wie immer, wenn Sorg sie aus den Augen verlor, wurde ihm schwer ums Herz. Er wandte den Blick von dem Fernrohr ab. Nur die Hoffnung, Anastasia zu retten, half ihm, nicht den Mut zu verlieren. Das war seine Mission. Ihr Vater war ihm vollkommen gleichgültig. Er hasste ihn geradezu. Aber Sorg hatte einen Auftrag zu erledigen, und das bedeutete, dass er sich auch um den ehemaligen Zaren und den Rest der Familie kümmern musste.

Sorg protokollierte die Zeit, machte sich Notizen zum allgemeinen Erscheinungsbild der Familie und schrieb seine persönlichen Eindrücke auf. Den verschlüsselten Bericht würde er nach Helsinki telegrafieren. Von dort aus würde seine Botschaft zu gegebener Zeit über die Unterseekabel von London nach New York und dann weiter nach Washington telegrafiert werden.

Der junge Mann legte Notizbuch und Stift weg und begann, das Fernrohr auseinanderzubauen. Als er das leise Knarzen der Bodendielen hörte, drehte er sich um.

Rawitsch, sein Vermieter, stand in der Tür. Er betrat den Raum mit einem schiefen Grinsen und zog in aller Seelenruhe die Handschuhe aus. »Ah, Herr Carlson. Ich wollte nur fragen, ob mit dem Wasser alles in Ordnung ist.«

»Wie lange stehen Sie schon da?«, fragte Sorg in heiserem Ton.

Rawitsch steckte die Handschuhe in die Tasche, und im nächsten Augenblick hielt er einen Nagant-Revolver in der Hand und richtete ihn auf Sorg.

»Lange genug. Ich habe gelernt, dass ein Überraschungsbesuch bei neuen Mietern immer aufschlussreich ist. Offenbar habe ich den Zeitpunkt gut gewählt. Ich hoffe, Sie haben durch dieses Erlebnis etwas gelernt, Herr Carlson?«

»Meine Tür in Zukunft abzuschließen.«

Rawitsch grinste übers ganze Gesicht. »Die Waffe ist übrigens geladen. Und ich bin in der Lage, sie zu benutzen. Sind Sie bewaffnet?«

»Nein.«

»Wir werden sehen.« Der Hausbesitzer umkreiste Sorg und tastete ihn ab.

Sorg spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Seine Gedanken überschlugen sich.

Nachdem Rawitsch die Leibesvisitation beendet hatte, strich er mit der freien Hand über das glänzende Messingfernrohr. »Ein feines Gerät. Aus Deutschland, nicht wahr? Beobachten Sie ein wenig die Vögel, Herr Carlson, oder etwas Interessanteres?«

»Was wollen Sie?«

»Die gute Aussicht ist einer der Gründe, warum ich dieses Haus gekauft habe«, sagte Rawitsch und zog die Gardine zur Seite. »Ich hatte gehofft, dass sie den Wert meiner Investition eines Tages steigern würde. Ach, aber ich fürchte, in diesen unruhigen Zeiten könnte das ziemlich aussichtslos sein.«

»Kommen Sie zur Sache.«

Rawitsch durchquerte den Raum und spähte auf die Gladstone-Tasche auf dem Küchentisch. »Ich frage mich, was ein Mann wie Sie mit einem Fernrohr macht, das er auf das Grundstück des Palastes richtet. Vielleicht hat das überhaupt nichts zu bedeuten, aber …«

»Aber was?«

»Ich habe Sie heimlich beobachtet, seitdem Sie diese Wohnung gemietet haben. Und nachdem ich nun gesehen habe, was Sie hier treiben, vermute ich fast, Sie sind ein Spion.«

»Sie vermuten eine Menge, Herr Rawitsch.«

Der Hausbesitzer richtete die Waffe wieder auf Sorg. »Halten Sie mich nicht für blöd. Ich habe jahrelang beim Geheimdienst der Marine gearbeitet. Sie beobachten den Palast, in dem die Romanows gefangen gehalten werden.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

Rawitschs Augen funkelten gierig. »Mir ist es scheißegal, wer Sie sind und für wen Sie arbeiten. Ich hoffe nur, Sie sind so vernünftig, dass wir zu einer Einigung kommen.« Der Hausbesitzer rieb Daumen und Zeigefinger aneinander – eine Geste, die jeder verstand. »Sie tun weiterhin das, was immer Sie auch tun. Ich weiß von nichts, und Sie zeigen sich als Gegenleistung ein bisschen großzügig.«

»Woher soll ich wissen, dass ich Ihnen trauen kann?«

»Das wissen Sie nicht. Aber ich glaube, wir sind uns einig, dass wir beide in große Schwierigkeiten geraten könnten, wenn wir die Polizei einschalten.«

»Ich kann Ihnen Geld geben. Es ist in dem anderen Raum.«

Rawitsch zeigte mit der Waffe auf die Küche. »Ich freue mich, das zu hören. Aber ich warne Sie. Wenn Sie versuchen, mich auszutricksen, blase ich Ihnen den Schädel weg.«

Er drückte Sorg den Lauf des Nagant-Revolvers in den Nacken, als sie in die Küche gingen. »Wo ist das Geld?«

Sorg zeigte auf den geöffneten Schrank und das abgeschraubte Brett, das dort lag. »Da drin, in einem Beutel aus Segeltuch.«

»Holen Sie ihn heraus. Langsam.«

Sorg zog den Beutel heraus und schickte sich an, ihn zu öffnen, doch Rawitsch hielt ihn auf. »Warten Sie. Heben Sie die Hände über den Kopf und treten Sie zur Seite.«

Sorg folgte dem Befehl.

Mit der freien Hand zog Rawitsch die Schnur auf und öffnete den Beutel. Er wühlte darin und zog einen Stapel Rubel und amerikanische Dollars heraus. Auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen. »Wie viel ist das?«

»Siebenhundert Rubel in verschiedenen Währungen.«

Rawitsch fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und zeigte mit der Waffe gierig auf den Tisch, wo die Gladstone-Tasche stand. »Das reicht mir nicht. Ich will mehr! Viel mehr.«

In diesem Augenblick legte Sorg eine Hand auf den Füller in seiner Brusttasche. Ehe er die Kappe von der Stahlspitze ziehen konnte, zielte Rawitsch mit dem Revolver auf Sorg und gab einen Schuss ab.

Die Kugel zischte an Sorgs Schulter vorbei. Er ließ den Füller fallen und warf sich nach vorne. Das Adrenalin strömte durch seinen Körper. Ein weiterer Schuss löste sich, und der Putz rieselte von der Wand hinter ihm. Rawitsch war ein großer, kräftiger Mann, doch als sich Sorg mit voller Wucht auf ihn stürzte, verlor der Vermieter das Gleichgewicht. Er fiel zu Boden, und Sorg landete auf ihm.

»Ich bring Sie um!«, zischte Rawitsch mit hasserfülltem Blick.

Mit aller Kraft versuchte Sorg, die Kontrolle über den Revolver zu erlangen und die Waffe auf Rawitschs Kopf zu richten. Er schob einen Finger in den Abzugsbügel, und ein letzter Schuss hallte durch die Küche. Rawitschs Kopf kippte nach hinten, und seine Augen rollten nach oben.

Sorg rang nach Atem. Unter Rawitschs Schädel breitete sich eine Blutlache aus. Der stämmige Mann zuckte kurz und blieb dann reglos liegen. Sorg hob den Füller vom Boden auf und kniete sich hin. Sein Gesicht war schweißüberströmt.

Er untersuchte Rawitsch. Die Kugel hatte die linke Augenhöhle durchbohrt und war durch den Hinterkopf wieder ausgetreten. Sorg riss Rawitsch die Waffe aus der Hand. Mit weichen Knien stolperte er in die Küche und erbrach sich ins Spülbecken.

Endlich beruhigte sich sein Magen wieder. Sorg drehte den Wasserhahn auf, spülte das Erbrochene weg und rieb die Blutspritzer, so gut es ging, von seiner Kleidung. Sein Mantel und der Schal würden die restlichen Flecken verdecken.

Sorg zog eine der Schubladen auf, in der eine Schachtel mit Kerzen und ein paar Spültücher lagen. Er nahm ein Tuch heraus und wischte sich den Mund ab. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Sorg einen Menschen getötet, und das jagte ihm einen gewaltigen Schrecken ein. Doch er triumphierte, weil er den Zweikampf gewonnen hatte.

Jetzt meldete sich sein Überlebensinstinkt. Sorg trat ans Fenster und starrte durch die Gardinen hinaus. Die Straße war menschenleer. Er schlich zur Haustür und öffnete sie mit zitternden Händen. Auf dem Hof war auch niemand.

Rawitsch hatte alle Fußspuren bis auf seine eigenen weggefegt. Sorg dachte angestrengt nach. Wenn er die Leiche einfach hier liegen ließ und verschwand, könnte sie jemand finden. Vielleicht hatte Rawitsch Verwandte, die ihn suchen würden. Alles war möglich. Aber auf jeden Fall musste er sich beeilen und durfte nicht in Panik geraten.

Sorg steckte Fernrohr und Geldscheine zurück in die Beutel aus Segeltuch und stopfte diese in die Gladstone-Tasche. Dann schraubte er das Brett wieder in den Schrank. Die Blutlache in der Küche unter Rawitschs Schädel breitete sich weiter aus. Sorg nahm eine Kerze aus der Schublade, einen Teller aus dem Schrank und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Er zündete den Docht mit einem Streichholz an, ließ etwas Wachs auf den Teller tropfen und drückte die Kerze auf den Tropfen. Den Teller schob er an den Rand des Tisches. Dann öffnete Sorg die Küchentür und klemmte ein Stück zusammengefaltetes Zeitungspapier darunter. Nachdem er seinen Mantel zugeknöpft und den Trilby-Hut aufgesetzt hatte, drehte er den Gashahn des Ofens auf und vernahm im selben Moment das Zischen des Gases.

Schließlich nahm Sorg die Reisetasche in die Hand und steckte Rawitschs Revolver in seine Manteltasche. Er verließ das Haus durch die Eingangstür. Als er in die Kälte hinaustrat, war er immer noch schweißgebadet.

Als er nach wenigen Minuten ein paar Hundert Meter gegangen war, hörte er den lauten Knall der Gasexplosion hinter sich. Orangerote Flammen schossen in den Himmel. Die Schockwelle traf ihn wie ein Faustschlag in den Rücken und warf ihn beinahe um.

Sorg hielt den Hut fest und ging weiter.