20. KAPITEL

Dublin

Drei Stunden später lief Boyle vor einem Krankenzimmer im Mater Hospital im Norden von Dublin auf und ab und umklammerte mit beiden Händen seinen Hut.

Zwei bewaffnete Detectives der königlich irischen Schutzpolizei bewachten den Korridor. Dieser Teil des Krankenhauses wurde oft für republikanische Gefangene aus dem nahe gelegenen Mountjoy Gefängnis genutzt, die hier behandelt wurden.

Boyle drehte sich um, als die Tür geöffnet wurde und eine Nonne in einer gestärkten Tracht und weißem Schleier heraustrat. Sie hatte eine Stahlschüssel mit blutbefleckten Tupfern in der Hand. »Sie können jetzt rein, Sir. Aber nur ein paar Minuten, hat der Arzt gesagt.«

»Danke.« Boyle betrat leise das Zimmer, in welchem ein trübes Licht brannte und es nach Desinfektionsmitteln roch. Regen trommelte gegen das Fenster, das mit dicken Metallstangen gesichert war. Ein bewaffneter Polizist mit buschigem Schnurrbart saß in der Nähe der Tür und las Zeitung. Als Boyle die Tür hinter sich schloss, faltete der Polizist die Zeitung zusammen und nickte schweigend.

Boyle trat an Lydia Ryans Bett. Eine ältere Nonne mit faltigem Gesicht und knöchernen Händen beugte sich über die Patientin und maß ihren Puls. Trotz der verbundenen Wunden war eines von Ryans Handgelenken mit Handschellen an den Metallrahmen des Bettes gefesselt. Sie schlief. Ihr langes dunkles Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen. Es sah aus, als würde sie im Wasser schwimmen. »Wie geht es ihr, Schwester?«

Die Nonne warf ihm einen bösen Blick zu. Ihre Haut hatte die Farbe alten Pergaments. »Sie wurde operiert und schläft jetzt. Sie können Sie nicht verhören, falls es das ist, was Sie vorhaben!«

»Das hatte ich nicht vor, Schwester. Ich wollte sehen, wie es ihr geht.«

»Ich bin die Oberschwester. Sind Sie der Schurke, der auf sie geschossen hat?«

»Nein, ich habe auf den britischen Polizisten mit den zerschmetterten Kniescheiben geschossen, der in dem Zimmer auf der anderen Station liegt.«

Das schien die Nonne zu verwirren. Sie erkannte Boyles nordirischen Akzent und fragte sich, wem seine Loyalität galt. Er legte seinen Hut auf den kleinen Metallschrank neben dem Bett. »Es ist eine lange und komplizierte Geschichte, Schwester. Bitten Sie mich nicht, sie Ihnen zu erzählen. Ich versichere Ihnen aber, dass dieser Frau nichts zustoßen sollte.«

Das Gesicht der Nonne erhellte sich. »Gott vergib mir, wenn ich es sage, aber vielleicht war es richtig, auf diesen britischen Verbrecher zu schießen. Leute wie er haben dieses Land ruiniert.«

Boyle sah auf Lydia Ryans Gesicht und die langen dunklen Wimpern, die sich deutlich von der blassen Haut abhoben. Sie schlief. »Wie lautet die Diagnose?«

»Sie hat eine Schusswunde an der linken Schulter. Es ist keine schlimme Verletzung. Sie wird sich wieder erholen. Bei ihrem Bruder sieht die Sache anders aus. Die Kugeln haben sein linkes Bein zertrümmert. Er müsste schon viel Glück haben, wenn er eines Tages wieder laufen kann.«

Boyle betrachtete Lydia noch immer. Jetzt, da sie schlief, sah ihr Gesicht unglaublich friedlich aus, und es war ihm so vertraut, dass es fast unheimlich war. Instinktiv legte er eine Hand auf ihre Wange. In der Stille des Raumes drangen zwei Dinge in sein Bewusstsein: der Regen, der gegen die Scheibe trommelte, und der Blick der Nonne. Er zog seine Hand zurück.

»Kennen Sie sie, mein Sohn?«

Boyle richtete seinen Blick wieder auf die Nonne. »Wir sind uns nie zuvor begegnet, aber sie erinnert mich an meine verstorbene Tochter.«

»Es tut mir leid.« Die Nonne bekreuzigte sich, zog einen Rosenkranz unter der Tracht hervor und ließ ihn durch ihre knöchernen Hände gleiten. »Gebete helfen immer, wissen Sie.«

Die Erinnerung an die entsetzliche Trauer kehrte zurück und legte sich wie ein dunkler Schatten auf Boyles Gesicht. »Sie wissen, was man über Gott sagt. Gibt es ihn, gibt es ihn nicht? Sobald man ein Kind verliert, haben alle Argumente, die belegen wollen, dass es Gott nicht gibt, keine Bedeutung mehr – gleichzeitig scheint der Verlust, den man erfahren hat, der beste Beweis zu sein, dass es Gott nicht geben kann. Und genau das macht es so schwer, an ihn zu glauben.« Die Nonne legte ihre Hand auf seinen Arm. »Aber er glaubt an Sie, mein Sohn. Vergessen Sie das niemals.«

Die frommen Worte der Nonne berührten ihn. »Wissen Sie, wo ich eine Droschke finde, die mich zur Sackville Street bringt? Ich habe dort eine Verabredung«, sagte Boyle und nahm seinen Hut.

»Vor dem Haupteingang des Krankenhauses ist ein Droschkenstand. In einer so verregneten Nacht wie heute müssen Sie vermutlich eine Weile warten.« Die Nonne musterte Boyle intensiv, als verwirrte sie dieser Mann. »Wer sind Sie, Sir?«, fragte sie.

Boyle setzte den Hut auf. »Es ist seltsam, denn diese Frage stelle ich mir schon seit Jahren. Beten Sie einen Rosenkranz für mich, Oberschwester, vielleicht kann mir das noch helfen.«