112. KAPITEL

Ipatjew-Haus, Jekaterinburg

Als Jurowski den Hörer auflegte, hörte er das Dröhnen eines Motors. Er warf einen Blick auf die Uhr: 1.10 Uhr, mitten in der Nacht. Er ging zu der geöffneten Tür. Vor der Absperrung hielt ein offener Opel. In dem Wagen saßen vier Männer in den Lederjacken der Tscheka. Kasan saß auf dem Fahrersitz.

Die Wachen hoben ihre Waffen. »Kein Fahrzeug darf die Absperrung passieren. Befehl des Kommandanten!«

»Lasst mich durch, ihr Idioten!« Kasan, der offensichtlich betrunken war, quälte sich aus dem Wagen, doch einer der Wachposten spannte den Hahn seines Gewehrs. »Noch einen Schritt, und ich schieße.«

Jurowski ging auf die Absperrung zu. Die drei anderen Männer im Wagen sahen genauso betrunken aus wie der Fahrer. »Was wollen Sie, Kasan?«

»Wir müssen reden.« Der Inspektor roch nach Alkohol. Aus seiner linken Hosentasche lugte der Hals einer Flasche, und sein Blick war verschwommen.

»Nein, müssen wir nicht. Sie sollten wissen, dass heute Nacht niemand das Grundstück betreten darf.« Der Kommandant wies mit dem Kopf auf die andere Straßenseite. »Trinken Sie drüben im Wachlokal einen Kaffee, damit Sie wieder nüchtern werden. In Ihrem Zustand können Sie gar nicht Auto fahren.«

Kasan wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Glauben Sie mir, Jurowski, es interessiert Sie bestimmt, was ich zu sagen habe. Haben Sie schon mit Ihrem Gemetzel begonnen?«

»Ich weiß nicht, was Sie das angeht.«

»Jakow hat den Spion freigelassen, den ich geschnappt habe. Er hat ihn freigelassen! Können Sie sich das vorstellen?«

»Warum hat er das getan?«

»Das frage ich mich auch. Zuerst dachte ich, es ginge ihm darum, den Ruhm für sich allein zu beanspruchen. Jetzt bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher. Er und einer der Verschwörer sind alte Freunde.«

»Was zum Teufel reden Sie da?«

»Sagen wir es mal so: Ich bin lange genug Polizist, um zu wissen, wenn eine Sache stinkt. Und ich bin überzeugt davon, dass Jakow mit den Feinden unter einer Decke steckt und nichts Gutes im Schilde führt.«

»Haben Sie den Verstand verloren? Ich weiß nicht, was das für ein Zeug ist, das Sie da getrunken haben, aber ich würde den Rest wegschütten.«

»Ich sage Ihnen, es braut sich etwas Unheilvolles zusammen! Wie erklären Sie sich, dass Jakow den Spion freigelassen hat? Sagen Sie schon!«

»Das muss ich nicht«, erwiderte der Kommandant grimmig. »Das ist nicht meine Sache. Als ich ihn vor ein paar Stunden das letzte Mal gesehen habe, war er im Gegensatz zu Ihnen nüchtern und bei klarem Verstand.«

»Wo ist er hingegangen?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich in sein Quartier im Zug. Hauen Sie ab! Ich muss meinen Pflichten nachkommen.«

»Sie sind ein Idiot! Noch bevor die Nacht zu Ende ist, werden wir sehen, wer recht hat.«

Als der Kommandant sich umdrehte, ergriff Kasan seinen Arm. »Warten Sie. Ich habe nur drei Männer. Ich brauche mehr.«

»Wozu?«

»Ich werde diesen verdammten Spion finden, und wenn ich ganz Jekaterinburg auf den Kopf stelle!«

Der Kommandant riss sich los. »Vergessen Sie es! Ich brauche jeden Mann«, sagte er und wandte sich den Wachen zu. »Werft diesen Betrunkenen raus.«

Der Kommandant blieb in der Tür stehen und steckte sich eine Zigarette an. Er beobachtete Kasan, der den Opel zurücksetzte und dann in Schlangenlinien davonfuhr.

»Ärger, Kommandant?«, fragte einer der Wachmänner.

»Kasan meint, Kommissar Jakow steckte mit feindlichen Agenten unter einer Decke.«

Der Wachmann begann zu lachen. »Ich wünschte, ich würde auch mal solchen Alkohol auftreiben. Das muss gutes Zeug sein. Noch nichts von dem Lastwagen zu sehen?«

»Ich hab gerade beim Depot angerufen. Die Idioten haben gesagt, sie hätten irrtümlicherweise den Befehl erhalten, den Lastwagen zum Amerika-Hotel zu schicken.«

In diesem Augenblick sahen sie zwei Scheinwerfer auf der Straße, die sich dem Haus näherten. Das Getriebe knirschte, als der Fahrer des offenen Fiat-Lastwagens herunterschaltete und auf den Hof des Ipatjew-Hauses fuhr.

»Das wird auch höchste Zeit.« Jurowski sah erneut auf seine Uhr. Es war genau Viertel nach eins. »Rufen Sie die Männer zusammen. Sagen Sie, es ist so weit«, befahl er einem der Wachmänner.

Jurowski stieg die Stufen zu der Wohnung der Romanows hinauf. Vor der Tür hob er den Zeigefinger und zögerte ein paar Sekunden, bis er auf die elektrische Klingel drückte.

Anastasia fuhr aus dem Schlaf, als das schrille Echo der elektrischen Klingel durch die Wohnung hallte.

Draußen war es dunkel. Fahles Mondlicht schien durch die getünchten Fensterscheiben. Maria, die neben ihr lag, wachte ebenfalls auf und strich sich müde das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »War das die Klingel? Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe ein Auto gehört«, erwiderte Anastasia.

Aus dem Zimmer ihrer Eltern hallten Schritte. Kurz darauf hörten die Schwestern, dass jemand an eine Tür klopfte. Dann folgten wieder Schritte und Stimmen, und es näherte sich jemand ihrem Zimmer.

»Papa kommt«, sagte Maria.

Die Tür wurde geöffnet, und ihr Vater stand vor ihnen. Er sah müde aus und knöpfte gerade sein Hemd zu. »Der Kommandant möchte, dass wir uns im Untergeschoss versammeln.«

»Warum?«

»Er hat gesagt, dass der Feind die Stadt einkesselt und der Kampf unmittelbar bevorsteht. Er befürchtet, das Haus könnte von den Geschützen getroffen werden, daher möchte er uns zu unserer eigenen Sicherheit hier wegbringen.«

»In Sicherheit vor unseren Geschützen?«, fragte Maria naiv.

»Ja, mein Schatz.«

Anastasia hob den Kopf. »Meinst du, sie retten uns endlich?«

Ihr Vater schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und strich ihr zärtlich übers Gesicht. »Wir können nur beten, meine Lieben. Jetzt wascht euch und zieht euch an. Die anderen sind schon auf.«

Jurowski war nervös. Sein Nacken war schweißnass, und der Kommandant wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Er stand auf dem Gang und rauchte noch eine Zigarette. Sein Magen verkrampfte sich. Er hörte, dass die Familie hin und her lief, als sie sich wusch und anzog. Am liebsten hätte er sie zur Eile angetrieben.

Einer der Wachleute stieg die Treppe hinauf. »Noch keine Spur von Kommissar Jakow?«

»Nein, noch nicht. Dadurch lassen wir uns aber nicht aufhalten. Es läuft alles nach Plan«, erwiderte Jurowski und sah besorgt auf die Uhr. Genau zwei. Vierzig Minuten waren vergangen, seitdem er auf die Klingel gedrückt hatte. Er fluchte leise.

Der Kommandant war versucht, ein zweites Mal zu klingeln, um die Sache voranzutreiben, als die Tür aufging und die Romanows nacheinander auf dem Treppenabsatz erschienen. Sie waren alle ordentlich gekleidet. Nikolaus Romanow, der seinen gebrechlichen Sohn auf dem Arm trug, führte seine Familie an. Hinter ihm kamen die Mädchen. Sie trugen einfache weiße Blusen und dunkle Röcke und hielten Kissen, Taschen und andere persönliche Dinge in den Händen. Ihnen folgte die hagere Gattin des Zaren, die wie immer angespannt wirkte und schlicht gekleidet war. Sie trug einen dunklen Rock mit Bluse und hatte ihr graues Haar nicht frisiert. Zuletzt stellten sich Dr. Botkin und die drei Dienstmädchen auf den Treppenabsatz.

»Wie ich sehe, sind Sie fertig«, sagte der Kommandant zu Nikolaus Romanow.

»Endlich verlassen wir diesen Ort, Kommandant. Und was wird aus unseren persönlichen Dingen?«

»Das ist im Augenblick nicht wichtig. Wir holen sie später. Hier entlang.« Jurowski lächelte sie beruhigend an und führte alle die Treppe hinunter.

Als sie auf dem Treppenabsatz an der ausgestopften Bärenmutter und ihren Jungen vorbeikamen, blieb die Familie stehen und bekreuzigte sich fromm. Die Romanows, die glaubten, dass sie das Haus nun verlassen würden, drückten auf diese Weise ihren Respekt vor den Toten aus.

Jurowski hörte das vertraute Jaulen und Bellen der drei Hunde der Zarenfamilie, die auf dem Treppenabsatz hin und her liefen und versuchten, der Familie zu folgen. Die Wachen packten sie an den Halsbändern und hielten sie zurück. Einer der Hunde riss sich los und flüchtete in Anastasias Arme.

»Was ist mit den anderen Tieren, Kommandant?«, fragte sie.

Alle schraken zusammen, als sie in der Ferne plötzlich Artilleriefeuer hörten.

Jurowski schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Sie werden Ihnen später gebracht. Nun ist es erst einmal wichtig, dass wir uns beeilen …«