27. KAPITEL
Dublin
Jenseits der Irischen See regnete es an diesem Sommertag. Ein kräftiger Schauer ging auf die Stadt nieder und setzte die Dubliner Straßen unter Wasser.
Der Regen prasselte auf die Fenster, als sich Boyle im Mater Hospital an Lydias Bett setzte. Schweiß rann über ihr Gesicht, und sie murmelte im Schlaf.
»Es dauert noch ein paar Tage, bis sie wieder bei Kräften ist. Achten Sie also bitte darauf, dass sie sich nicht überanstrengt«, sagte der Arzt zu Boyle.
»Ich werde mich bemühen. Und wie sind ihre Aussichten?«
»Sie ist jung und gesund und müsste sich wieder vollständig erholen.« Mit diesen Worten verließ der Arzt das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Kurze Zeit später hörte es auf zu regnen, und die Sonne schien durch die Fenster hinein. Boyle wartete geduldig, bis Lydias Lider zu flackern begannen. Als sie die Augen endlich öffnete, blinzelte sie verschlafen, ließ den Blick durch den Raum wandern und betrachtete dann verwirrt den Besucher.
»Wie geht es Ihnen, Miss Ryan?«
»Ich bin müde und habe Schmerzen«, erwiderte sie verschlafen. »Wer sind Sie?«
Boyle lächelte und schob den Rollstuhl, der in einer Ecke stand, ans Bett. »Es wird Sie freuen zu hören, dass der Arzt gesagt hat, dass Sie wieder ganz gesund werden. Ich helfe Ihnen in den Rollstuhl.«
Jetzt war Lydia hellwach. »Warum? Wohin bringen Sie mich?«
»Ein bisschen frische Luft schnappen. Wir beide müssen reden.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin der Mann, der Ihnen das Leben retten wird.«
Von dem winzigen Park hinter dem Krankenhaus, in dem hübsche Blumenbeete angelegt waren, fiel Lydias Blick auf eine Reihe georgianischer Häuser aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Die gemauerten Wachtürme des nahe gelegenen Mountjoy Gefängnisses überragten die Mauern des Krankenhauses. Boyle zog eine Schachtel Player’s Navy aus der Tasche. »Ich habe gehört, dass die Frauen jetzt ganz versessen aufs Rauchen sind, seit sich eine Mitstreiterin von Mrs Pankhurst bei einem Derby vor ein Pferd geworfen hat, um mehr Rechte für Frauen durchzusetzen. In der Zeitung Suffragette wurden Zigaretten kürzlich als ›die Fackeln der Freiheit‹ bezeichnet.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Lydia.
»Nein, ich wollte nur ausdrücken, dass ich es nicht anstößig fände, wenn Sie eine Zigarette rauchen wollten.«
»Nein, möchte ich nicht. Würden Sie mir jetzt bitte sagen, wer Sie sind?«
»Mein Name ist Joe Boyle.« Er zündete ein Streichholz an und hielt seine freie Hand schützend vor die Flamme, um sich Feuer zu geben. Dann schwenkte er das Streichholz kurz durch die Luft, sodass es erlosch, und warf es weg. »Eine furchtbare Angewohnheit, der ich seit Kurzem gelegentlich fröne. Vielleicht hilft es mir, die Hindernisse der nächsten Wochen zu überwinden. Warum sehen Sie mich so misstrauisch an, Miss Ryan?«
»Mich verwirrt Ihr Akzent. Warum arbeiten Sie mit Mördern des britischen Geheimdienstes zusammen?«
Boyle zog an der Zigarette. »Da irren Sie sich. Ich bin Oberstleutnant in der kanadischen Armee, aber dieser Dienstgrad wurde mir nur ehrenhalber verliehen. Bitten Sie mich nicht, das zu erklären. Es ist eine komplizierte Geschichte.«
»Ich verstehe nicht …«
»Gut, ich mache es kurz. Ich brauche Ihre Hilfe, Miss Ryan, und ich brauche Sie dringend.«
»Um was zu tun?«
Boyle zog noch einmal an der Zigarette und blies den Rauch aus. »Sie sind wirklich eine bemerkenswerte junge Frau, wissen Sie das? Es gibt nicht viele Frauen mit Ihrem Hintergrund. Ihr Vater hat in Sankt Petersburg eine erfolgreiche Pferdezucht betrieben. Sie haben dort die Sankt-Benedikt-Klosterschule besucht und Russisch zu sprechen gelernt wie eine gebürtige Russin.«
»Ich verstehe nicht, was das alles mit Ihnen zu tun hat!«
»Lassen Sie mich ausreden. Ihre Eltern siedelten nach Kentucky über, und sie scheinen zu glauben, dass Sie und Ihr Bruder auf dem Pferdegestüt ihres Onkels in Kildare in Sicherheit sind. Sie wissen übrigens auch nichts von Ihrem Engagement für den irischen Republikanismus. Wenn Sie es wüssten, würden sie sich schrecklich aufregen und Ihnen befehlen, das nächste Schiff nach Amerika zu besteigen.«
»Sie scheinen eine Menge zu wissen, Boyle.«
»Ich habe mich informiert. Bevor Sie Ihren Verlobten kennengelernt haben, haben Sie als Gouvernante der russischen Zarenfamilie gearbeitet. Das muss für eine neunzehnjährige junge Frau ein großes Abenteuer gewesen sein.«
»Das Haus Romanow hat Hunderte von Ausländern als Gouvernanten und Hauslehrer beschäftigt. Ich war nur eine von vielen.«
»Stimmt, aber waren die Kinder nicht gerade Ihnen besonders zugetan? Der Zar hat ein Loblied auf Sie gesungen, nachdem eine seiner Töchter in den Parkanlagen von Schloss Peterhof mit Ihrer Hilfe vor dem Ertrinken gerettet wurde. Wie nannte er Sie noch gleich – ›seinen irischen Glücksbringer‹? Obwohl ich mir die Einschätzung erlaube, dass Sie als Republikanerin nicht gerade eine Anhängerin der Monarchie sind.«
Lydia verlor allmählich die Geduld. »Bringen Sie mich wieder auf mein Zimmer, Boyle. Ihre Geschichten sind ermüdend!«
Sie stand auf, doch Boyle drückte sie behutsam wieder in den Rollstuhl. »Immer mit der Ruhe. Wir kommen gerade zum interessanten Teil.«
»Und der wäre, Boyle? Eine kurze Zusammenfassung meines Lebens, bevor die Briten mich hinrichten?«
»Nun gut, ich sage es Ihnen frei heraus, worum es geht. Die Leute, in deren Namen ich spreche, beabsichtigen, den Zaren und seine Familie zu retten.«
»Was?«
»Sie haben ganz richtig verstanden. Wenn alles wie geplant läuft, befreien wir die Romanows vor den Augen ihrer Bewacher.«
Lydia starrte ihn an und begann zu lachen. »Sind Sie verrückt, Boyle?«
»Warum ist es in Irland fast ein Kompliment, jemanden verrückt zu nennen? Und kennen Sie nicht dieses sonderbare Gesetz des Universums, das besagt, dass dem Mutigen die Welt gehört?«
»Sie meinen es wirklich ernst, nicht wahr?«
»Allerdings.« Boyle stellte einen Fuß auf die regennasse Bank gegenüber von Lydia und stützte sich auf sein Knie. »Sie erwartet eine gefährliche Reise nach Russland und zurück. Sie reisen in Begleitung eines Mannes und geben sich zur Tarnung als Paar aus. Sobald Sie Jekaterinburg erreichen, müssen Sie bestimmte Aufgaben übernehmen, damit die Rettung der Familie gelingt, ohne dass jemand in Gefahr gerät. Es ist ein solider, durchführbarer Plan.«
Lydias Augen funkelten spöttisch. »Haben Sie meine anschließende Beerdigung auch schon geplant, Mr Boyle?«
»Ich weiß, was Sie denken. Wenn man Sie schnappt, wird man Sie für eine Spionin halten, und Spione werden erschossen. Aber ich vertraue darauf, dass unsere Strategie funktioniert. Sonst würde ich mich nicht für diese Sache stark machen.«
»Wer sind Sie?«
»Darüber können wir sprechen, wenn ich Ihre Antwort habe. Es gibt noch einen anderen, konkreteren Grund, warum ich Sie ausgewählt habe. Auch darüber können wir später sprechen.«
»Wollen Sie wirklich wissen, was ich glaube?«, erwiderte Lydia aufgebracht. »Sie haben recht. Mir liegt nicht das Geringste an Monarchien und irgendjemandem, der damit verbunden ist! Tatsächlich verachte ich sie mittlerweile sogar. Denn durch die Schuld von Herrschern wie dem Zaren sind in diesem und unzähligen anderen Kriegen Millionen von Menschen umgekommen. Und warum? Weil ein paar aufgeblasene Idioten glauben, sie hätten ein gottgegebenes Recht zu herrschen?«
Boyle zog an seiner Zigarette und inhalierte den Rauch. »Ich nehme an, Sie haben den Zaren kennengelernt, als Sie in seinem Haus gearbeitet haben?«
»Natürlich habe ich ihn kennengelernt! Er ist ein freundlicher, aber nicht allzu intelligenter Mann, der schon vor Jahren seine Macht hätte aufgeben müssen. Ich halte ihn für einen Dummkopf, weil er die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Er ist selbst schuld an seiner Misere, und jetzt muss er die Sache ausbaden.«
»Und die Zarenkinder?«
Lydia erblasste und starrte Boyle schweigend an, als hätte er einen wunden Punkt berührt.
»Ich habe gehört, dass Sie besonders Anastasia nahestanden«, sagte Boyle. »Sie war es, die durch Ihre Hilfe im Park von Schloss Peterhof vor dem Ertrinken gerettet wurde, nicht wahr?«
»Das ist fünf Jahre her, Boyle. Seitdem ist viel passiert. Ich bin nicht mehr die Frau, die ich damals war. Wir leben in einer anderen Welt.«
Boyle lächelte gequält. »Offenbar, denn jetzt schmuggeln Sie deutsche Waffen! Aber wir sprechen über fünf junge Menschen. Würden Sie es übers Herz bringen, sie im Stich zu lassen?«
Lydia schwieg.
»Wir haben von unserem Geheimdienst erfahren, dass die Roten die Absicht haben, die gesamte Familie hinrichten zu lassen. Das bedeutet, dass wir schnell handeln müssen. Ein paar Tage werden Sie auf Ihre Aufgabe vorbereitet, ehe wir Sie auf die Reise schicken. Sie sind eine Frau, die in der Lage ist, auch schwierige Situationen zu bewältigen, und so eine Fähigkeit kann man sich nur schwerlich aneignen, Miss Ryan.«
»Ich bin nicht die Frau, die Sie brauchen, Mr Boyle. Wirklich nicht«, sagte Lydia. »Und glauben Sie nicht, ich würde den Zarenkindern keine Gefühle entgegenbringen. Das tue ich. Aber das ist nicht mein Kampf! Ich habe mich schon einer anderen Sache verschrieben.«
Boyle warf seine Zigarette weg und seufzte. »Sie machen es mir nicht gerade leicht, nicht wahr?« Er drehte den Rollstuhl um und schob Lydia in die andere Richtung. »Dann wollen wir mal sehen, ob ich Ihre Meinung noch ändern kann.«