12. KAPITEL

Sankt Petersburg

Mit dem prunkvollen Winterpalast, den breiten Prachtstraßen und den grünen Parkanlagen war Sankt Petersburg eine der schönsten Städte der Welt – das Paris des Nordens.

Doch es gab auch ein anderes Sankt Petersburg, eine verwahrloste Hauptstadt mit dreckigen Hinterhofgassen, Verbrechen und Armut, wo Hunderttausende Arbeiterfamilien auf engstem Raum in verfallenen Mietskasernen, die reichen Besitzern gehörten, zusammengepfercht wurden.

In diese Welt wurde Leonid Jakow hineingeboren, in die trostlosen, gefährlichen Elendsviertel der Stadt. Sein Vater arbeitete als Tagelöhner in den Häfen von Sankt Petersburg, ein grobschlächtiger Mann, dessen Atem immer nach Alkohol stank.

Leonid liebte seine Mutter. Sie war eine hübsche, stolze Frau, die Arbeit als Putzfrau in den Häusern der Reichen und den Herrenklubs der Stadt gefunden hatte. Es war eine Knochenarbeit, die oft vom frühen Morgen bis spät am Abend dauerte und für die sie nur einen Hungerlohn bekam. Dann kam sie nach Hause, kniete sich hin und schrubbte die Böden in ihrer Wohnung. Sie legte großen Wert darauf, dass trotz des Drecks ringsherum bei ihr alles peinlich sauber war.

Jeden Abend las sie Leonid aus einem Kinderbuch oder aus der Zeitung vor. Neben ihrem Bett lagen immer Bücher: Dostojewski, Tolstoi und sogar Karl Marx. Dicke, abgegriffene Bücher und ein altes Lexikon, in dem sie jeden Tag blätterte, um sich zu bilden. Jakow hatte das nie vergessen.

Und er hatte auch nicht den gehetzten Blick seiner Mutter vergessen. Später erkannte er, dass ihr nicht nur Erschöpfung und Hunger zu schaffen machten, sondern dass die Tuberkulose mit den heftigen Hustenanfällen ihren Körper zugrunde richtete. In Russland starb jedes fünfte Kind an Hunger, Vernachlässigung oder einer Krankheit. Auch Jakow hatte seine jüngere Schwester Katerina in dem strengen Winter 1901 durch Tuberkulose verloren.

Er erinnerte sich an den sonnigen Februartag, als er seiner Mutter geholfen hatte, den knöchernen, steifen Leichnam, der in eine zerfetzte Decke gewickelt war, zum Armenfriedhof zu bringen. Nachdem sie Gebete für die Tote gesprochen, sich eng umschlungen und miteinander geweint hatten, stieg Leonid hinunter in die offene Grube, um den kleinen Leichnam zu begraben. Kein Grabstein, um an das kurze Leben seiner Schwester zu erinnern, nur ein einfaches Kreuz, das er aus Brennholz gebaut hatte und das an ihr kurzes Leben erinnerte.

Und es gab noch eine andere Erinnerung an diesen sonnigen Morgen, die Leonid Jakow niemals vergessen würde. Die Glocken der Isaakskathedrale erklangen, und Leonid sah, als er seine Mutter in den Arm nahm, über die Dächer von Sankt Petersburg hinweg die glänzenden vergoldeten Kuppeln, die vielen prächtigen Herrenhäuser und Tausende von glitzernden Fenstern des riesigen Winterpalasts des Zaren. Diese Sinnbilder der Macht und des Reichtums, die über die Armut und das Leid der Jakows zu spotten schienen, entfachten in Leonid eine unbändige Wut und brannten sich auf ewig in sein Gedächtnis ein.

Es war im Herbst desselben Jahres, als der Bauch seiner Mutter wieder dick wurde. Nach dem Tod der Schwester hatte Leonids versoffener Vater Arbeit auf einem Dampfschiff nach Amerika gefunden und war nie wieder zurückgekehrt.

An einem frostigen Tag im Januar stieg Leonid die Treppe in ihrem Wohnhaus hinauf und sah Blutflecken auf dem Weg in das Zimmer seiner Mutter. Bestürzt lief er hinein und sah, dass sie auf dem Bett lag. Sie presste beide Hände auf den kugelrunden Bauch und schrie vor Schmerzen. In ihren Augen stand die nackte Angst. »Leonid, hol Hilfe! Lauf zum Krankenhaus und frag nach Dr. Andrew. Beeil dich! Sag ihm, dass deine Mutter krank ist. Das Baby kommt zu früh.«

Leonids Herz verkrampfte sich, als er entsetzt auf die blutroten Flecken auf dem Betttuch zwischen den Beinen seiner Mutter starrte. Eine Nachbarin eilte herbei und versuchte mit einem Handtuch die Blutung zu stillen. »Hol einen Arzt, Junge. Schnell!«

Er rannte, so schnell er konnte, zum städtischen Krankenhaus, das vier Straßen entfernt war. Unterwegs begann es zu schneien. Atemlos erreichte er den Eingang des Krankenhauses, vor dem eine Droschke mit einem geschlossenen Verdeck und einem schwarzen Pferd mit glänzendem Fell stand.

In dem Wagen saßen ein Kutscher und ein ordentlich gekleideter Junge mit einem nachdenklichen Gesicht und großen dunklen Augen, der wie Leonid Jakow ungefähr zehn Jahre alt war.

Neben ihm saß ein hübsches Mädchen mit großen blauen Augen und makelloser Haut, das Leonid ein oder zwei Jahre jünger schätzte. Es trug einen zartblauen Mantel, einen Schal und dicke Fausthandschuhe. Unter dem Rand der Wollmütze lugten blonde Locken hervor.

Ein großer vornehmer Herr stieg die Eingangstreppe des Krankenhauses hinunter und schickte sich an, in die Droschke zu steigen und sich neben die beiden Kinder zu setzen. Er trug einen grauen Hut und hielt eine schwarze Arzttasche in der Hand. Der Mann sah müde aus. Leonid rannte auf ihn zu. »Bitte, ich suche Dr. Andrew. Ich brauche seine Hilfe!«

Der Kutscher hob die Peitsche, als das dürre Straßenkind seinen Kunden belästigte. »Hau ab, du Bengel! Der Doktor hat jetzt Feierabend.«

»Ich brauche einen Arzt!«, erwiderte der Junge trotzig und ergriff den Zügel, um das Pferd anzuhalten. »Hören Sie mir nicht zu, Sie Dummkopf?«

»Also wirklich, du kleiner …«

Der Arzt legte eine Hand auf den zum Schlage erhobenen Arm des Kutschers. »Nein, tun Sie ihm nichts. Kenne ich dich nicht, mein Kind? Du bist der Sohn von Frau Jakow, nicht wahr?«

»Ja, Herr. Leonid. Meine Mutter hat gesagt, ich soll Sie holen. Bitte, Herr, sie stirbt!«

»Steig ein. Kutscher, fahren Sie, so schnell Sie können.«

Leonid war außer Atem, als er den Arzt und den Jungen die Treppe hinauf in das Zimmer seiner Mutter führte, während das Mädchen und der Kutscher in der Droschke warteten. Die Nachbarinnen traten zurück, um den Arzt durchzulassen.

»Sie blutet stark, Doktor«, sagte eine Frau. »Wir konnten die Blutung nicht stillen.«

Der Arzt untersuchte die Patientin. »Holen Sie heißes Wasser, viel Wasser und Seife. Schnell«, sagte er zu der Frau. »Alle anderen raus. Sofort!«

Die Nachbarin ging in die Küche, um heißes Wasser zu holen. Der Arzt zog seinen Mantel aus, krempelte die Ärmel hoch und öffnete die schwarze Arzttasche. Leonid Jakows Augen waren feucht. »Stirbt meine Mama?«

»Die Frage kann ich nicht beantworten«, erwiderte der Arzt hektisch. »Mein Sohn wird mit dir raus auf die Straße gehen, während ich mich um deine Mutter kümmere.«

»Nein, ich lasse sie nicht allein!«, erwiderte Leonid grimmig.

Doch der Arzt duldete keinen Widerspruch und schob den Jungen zur Tür hinaus. »Deine Mutter blutet stark. Sie ist sehr krank.« Er schnippte mit den Fingern. »Juri, du gehst raus auf die Straße und leistest dem jungen Mann mit Nina Gesellschaft. Und jetzt raus hier!«

Leonid trat auf den von Gaslaternen erhellten Bürgersteig. Das hübsche Mädchen in dem zartblauen Mantel stieg aus der Droschke. »Darf ich zu euch kommen, Juri?«

»Papa hat gesagt, wir sollen Leonid Gesellschaft leisten, Nina.«

Leonid fand, dass Nina so hübsch aussah wie eine Porzellanpuppe. Ihre Schönheit faszinierte ihn dermaßen, dass sein Herz schneller schlug. Sie hatte lange Wimpern und die zarteste Haut, die er jemals gesehen hatte. Auch aus dem heruntergekommenen Arbeitermilieu entwuchs gelegentlich eine Rose, aber keine war so schön wie dieses Mädchen.

Der Junge mit den dunklen Augen war ordentlich gekleidet und sauber. Er sah nicht so hochnäsig aus wie manch andere reiche Jungen, doch Jakow hegte einen Groll gegen ihn. Er hegte gegen alle Reichen und ihre Kinder einen Groll. »Wie heißt du?«, fragte Jakow misstrauisch.

»Juri. Und das ist Nina«, erwiderte der Junge höflich.

»Ich bin Leonid Jakow.« Er starrte mit grimmiger Miene zu dem Fenster hoch, hinter dem im Licht einer flackernden Petroleumlampe Schatten tanzten. »Ich hoffe, dein Vater ist ein guter Arzt, Juri Andrew.«

»Warum?«

»Weil ich ihn umbringe, wenn meine Mama stirbt!«

Der Junge ging nicht auf die Drohung ein. »Mein Vater gehört zu den besten Ärzten in Sankt Petersburg. Manchmal ist er schlecht gelaunt, aber nur, weil er wütend auf die Welt ist und meint, dass alles furchtbar ungerecht ist.« Juri betrachtete die von Gaslaternen erhellte Straße. Obwohl er noch ein Kind war, wirkte er sehr erwachsen. »Wie ist es, hier zu wohnen?«

»Was meinst du wohl?« Jakow, der von Missmut und Angst erfüllt war, stieß dem Jungen mit einem Finger gegen die Brust. »Wo wohnst du?«

»Auf dem Newski-Prospekt.«

»In diesen prächtigen Häusern? Du bist der Sohn eines reichen Arztes. Du warst wahrscheinlich noch nie in einer solchen Gegend, was?«

»Natürlich war er das! Erzähle es ihm, Juri«, sagte Nina, die den Jungen mit Bewunderung in den Augen beobachtet hatte.

»Mein Vater bringt in ganz Sankt Petersburg Babys zur Welt«, erwiderte Juri kühl. »Und wir sind nicht reich. Wenn du mich noch einmal anstößt, knall ich dir eine!«

Der Ton des Jungen ließ vermuten, dass er es ernst meinte. Das war kein reicher, eitler Fatzke. Leonid Jakow gab es nicht gerne zu, doch er bewunderte Juri Andrew, weil er sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Der Junge hatte Charakter.

Nina musterte ihn mit besorgtem Blick. »Warum bist du böse, Leonid Jakow?«

Das Mädchen war so hübsch, dass Leonid ihm kaum in die Augen blicken konnte. Wenn du arm wärst und in diesem Elendsviertel wohnen würdest, wärst du auch böse, dachte er. Doch dieses Mädchen hatte keine Ahnung von dem rauen Leben ringsherum.

Plötzlich hörten sie über ihren Köpfen Babygeschrei. Leonid flitzte die Treppe des Mietshauses hinauf und drückte die Tür auf.

Seine erschöpfte Mutter lag auf dem Bett. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und sie hielt ein kleines Bündel in den Armen. Die Nachbarin wischte das Blut vom Boden auf, während der Arzt seine Hände in einer Schüssel mit heißem Seifenwasser wusch.

Auf seiner Stirn glänzten die Schweißtropfen, doch das Babygeschrei, das durch den Raum hallte, hatte die Anspannung aus seinem Gesicht vertrieben. Der Doktor strahlte. »Gute Nachrichten, Leonid Jakow. Deine Mutter wird wieder gesund, und du hast einen kleinen Bruder!«

In dieser Nacht schneite es. Leonid blieb bei seiner schlafenden Mutter. Der Arzt, Juri und Nina waren weggefahren, und Leonid machte sich schreckliche Sorgen.

Seine Mutter konnte in diesem Zustand nicht arbeiten, also hatten sie nichts zu essen. Verzweifelt starrte er auf das winzige, rosige Gesicht seines kleinen Bruders. Die Hilflosigkeit des süßen Babys, das er in den Armen wiegte, bezauberte ihn. Er war erstaunt, dass dieses kleine Wesen sofort seinen Beschützerinstinkt und seine Liebe weckte.

Was kann ich tun, um zu helfen?, fragte er sich. Er war fast elf, doch auch schon neunjährige Kinder arbeiteten in Fabriken, Backstuben und auf Märkten oder als Schornsteinfeger oder Laufjungen. Leonid war ein guter Schüler. Er konnte lesen und schreiben, aber nun war es vorbei mit der Schule. Er beschloss, dass er Lebensmittel stehlen würde, wenn er keine Arbeit fand, doch die Sorgen brachten ihn fast um.

Um kurz nach Mitternacht hörte er eine Droschke unten auf der Straße. Kurz darauf stieg jemand die Treppe des Mietshauses hinauf, und dann klopfte es. Leonid legte seinen Bruder zur schlafenden Mutter. Er durchquerte den Raum und öffnete vorsichtig die Tür.

Der Doktor war zurückgekehrt. Diesmal hatte er zwei Strohkörbe, ein Kinderbett und Bettzeug mitgebracht. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah müde aus. »Darf ich reinkommen, Leonid Jakow?«

»Ja, Herr.«

Der Arzt stellte die Strohkörbe, das Kinderbett und das Bettzeug auf den Boden. Seinen Hut legte er auf den klapprigen Tisch und trat ans Bett, in dem Ljudmila Jakowa mit ihrem Baby lag. Er betrachtete ihre schlafenden Gesichter und legte eine Hand auf die Stirn der Mutter. »Sie hat kein Fieber mehr. Mit Gottes Gnade wird deine Mutter wieder gesund.«

»Und mein Bruder?«

Dr. Andrew lächelte müde. »Er ist einen Monat zu früh zur Welt gekommen, aber ich glaube, er wird es schaffen. Das Kinderbett hat früher Juri gehört. Ich dachte, deine Mutter kann es bestimmt gut gebrauchen. Ich brauche es nicht mehr, Leonid.«

»Danke, Herr.«

»Du hast Juri kennengelernt. Er ist ein guter Junge. Ebenso liebenswert und aufrichtig, genau, wie seine Mutter gewesen ist. Ich hoffe, du magst ihn?«

Der Atem des Arztes roch nach Pflaumenschnaps. Leonid kannte diesen Geruch von seinem Vater. Der Arzt war nicht betrunken, aber nüchtern war er auch nicht mehr. Leonid nickte. »Ihre Kinder scheinen nicht so verwöhnt zu sein wie andere reiche Kinder«, erwiderte er frei heraus.

»Wir sind nicht reich, Leonid. Ich verstehe, dass für dich dieser Eindruck entstehen kann. Ich bin nur ein viel beschäftigter Arzt mit viel zu vielen Patienten und zu wenig Zeit. Wenn ich weniger trinken und öfter darauf bestehen würde, dass meine Patienten ihre Rechnungen bezahlen, hätte ich wahrscheinlich mehr Geld zur Verfügung. Aber im Leben zählt nicht nur Geld.«

»Was meinen Sie damit, Herr?«

Der Doktor lächelte verhalten. »Ach, nichts. Du hast recht, Juri ist kein verwöhnter Junge, und dafür bin ich seiner Mutter dankbar. Sie stammte aus einer Militärfamilie und bestand darauf, ein bescheidenes, ehrbares Leben zu führen.« Der Arzt rieb sich die müden Augen. »Und Nina ist nicht meine Tochter. Ihre Eltern sind gute Freunde von mir und haben mich gebeten, ihre Tochter vom Musikunterricht abzuholen.« Der Arzt setzte sich auf einen der beiden Stühle, die in dem spärlich eingerichteten Zimmer standen. »Setz dich, Leonid«, forderte er den Jungen auf.

Der Junge nahm auf einem der Stühle Platz.

Der Arzt nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. »Verzeih mir, aber ich hatte eine anstrengende Nacht. Nachdem ich Juri nach Hause und Nina zu ihren Eltern gebracht habe, musste ich noch mal ins Krankenhaus, um einen Patienten zu operieren. Dann bin ich wieder nach Hause gefahren, habe mir einen Pflaumenschnaps eingegossen und ein paar Dinge eingepackt, bevor ich hierhergekommen bin. Nun, den Rest kennst du ja.« Der Doktor zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Ljudmila Jakowa und ihr Kind eine ganze Weile mit besorgter Miene.

Schließlich wanderte sein Blick durch den kahlen Raum. Er kniff die Lippen zusammen, als verärgerte oder berührte ihn die Ärmlichkeit um ihn herum. Leonid Jakow wusste nicht, welches Gefühl überwog.

»Woher kennt meine Mutter Sie, Herr?«

»Ich bin der Arzt, der dich auf die Welt gebracht hat, Leonid«, sagte er schmunzelnd. »Wenn ich mich richtig erinnere, warst du schon damals ein ausgesprochen lebendiger Junge, der es kaum erwarten konnte, die Welt mit lauter, erboster Stimme zu begrüßen.«

»Meine Mutter hat es mir nie erzählt, Herr.«

»Nachdem dein Vater euch verlassen hat, habe ich ihr Arbeit in unserem Ärzteklub beschafft. Hat sie es dir erzählt?«

Leonid schüttelte den Kopf.

Der Blick des Arztes glitt zu den abgegriffenen Büchern neben dem Bett. »Deine Mutter ist eine liebenswerte, rechtschaffene Frau, Leonid. Eine liebevolle Mutter. In einer gerechteren Welt und mit einer besseren Ausbildung hätte sie gut für sich und euch sorgen können. Aber diese Welt, in der wir beide leben, ist nicht gerecht. Das weißt du sicher.«

»Ja, Herr. Warum helfen Sie uns, Herr?«

»Wer sind wir denn, wenn wir nicht anderen helfen können? Wir sind niemand.« Dr. Andrew zögerte. »Hast du schon über einen Namen für deinen Bruder nachgedacht?«

Leonid sah zum Bett hinüber. Das friedliche Bild einer schlafenden Mutter mit ihrem Kind würde fortan immer die zärtlichsten Gefühle in ihm wecken. »Meine Mutter hat gesagt, dass wir ihn nach Ihnen nennen wollen, weil Sie das Leben des Babys gerettet haben. Wie heißen Sie mit Vornamen, Doktor?«

»Stanislaw.«

»So werden wir meinen Bruder nennen. Stanislaw.«

Der Arzt sah gerührt und fast ein wenig verlegen aus. »Das … das ist nett von euch beiden. Sehr nett. Hilf deiner Mutter, Leonid. Sie hatte eine schwere Geburt und wäre fast gestorben. Sei lieb zu ihr.«

Zärtlich strich der Arzt Leonid über den Kopf. Dann stand er auf und reichte ihm ein kleines braunes Fläschchen. »Ich komme morgen wieder. Wenn deine Mutter Schmerzen hat, soll sie eine Tablette davon nehmen. Wenn du mich brauchst, hole mich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich komme sofort.«

Der Arzt warf Ljudmila Jakowa, die noch immer schlief, einen letzten Blick zu und strich dann behutsam über die abgegriffenen Rücken der Bücher neben dem Bett. »Deine Mutter liest viel, nicht wahr?«

»Jeden Abend, Herr.«

Andrew nahm eines der Bücher in die Hand. »Sie mag Tolstoi.«

»Ja, Herr.«

»Darf ich dir sagen, was Tolstoi einst geschrieben hat, Leonid?«

»Ja, Herr.«

»Er schrieb über unsere Verpflichtung als Mensch anderen gegenüber. Er schrieb, dass wir Liebe und Zärtlichkeit, die uns geschenkt werden, immer dankbar annehmen sollten. Und dass es unsere Aufgabe ist, Leid zu lindern, sobald wir eine Seele in Not treffen. Verstehst du das, Leonid?«

Leonid verstand es nicht. Dennoch nickte er zögernd. »Ja.«

Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des Arztes, als er einen Briefumschlag auf den Tisch legte. »Vielleicht verstehst du es noch nicht ganz, aber ich hoffe, dass du es eines Tages begreifen wirst. Bitte nimm auch das hier, Leonid. Ich sage jetzt Gute Nacht. Pass gut auf dich und deinen Bruder auf!«

Mit diesen Worten ging der Doktor hinaus. Seine Schritte verhallten im Treppenhaus, und als die Droschke durch die verschneite Nacht davonfuhr, lauschte Leonid, bis das Getrappel der Pferde verstummte. Verwirrt öffnete er die Körbe, und als er sah, was sie alles enthielten, riss er ungläubig die Augen auf.

Er fand Büchsenfleisch, verschiedene Marmeladen, Dosen mit Heringen und Sardinen, einen ganzen Sack Kartoffeln, getrocknetes Getreide, Gewürze, Mehl, Milchpulver, eine Dose Tee und ein großes Glas mit kleinen Gewürzgurken. Und Kleidung für ihn und seine Mutter – Pullover, zwei dicke Wollschals, Hemden und Socken. Einiges war neu und anderes gebraucht, aber es waren alles warme, gebügelte Sachen. Es befanden sich auch Decken, Babykleidung und frisch gewaschene Betttücher darunter, die nach Flieder dufteten. Leonid vergrub das Gesicht in der Wäsche und atmete den angenehmen Duft ein. Die Gefühle überwältigten ihn, und er bekam feuchte Augen.

Als Leonid den Umschlag aufriss, den Dr. Andrew auf den Tisch gelegt hatte, fand er fünfzig Rubel. Dafür musste seine Mutter monatelang arbeiten. Außerdem steckte in dem Umschlag eine kurze Mitteilung in gestochener Handschrift mit einer Adresse.

Ein paar Lebensmittel, um euch zu helfen, Leonid. Du bist ein sehr mutiger Junge. Mach dir keine Sorgen um die Zukunft. Ich werde da sein, um zu helfen.

Dr. Andrew

Es lag noch ein kurzer Brief in der sauberen Handschrift eines Kindes dabei, in dem stand:

Ich habe mich gefreut, dich kennenzulernen, Leonid Jakow. Es ist schön, dass es deiner Mutter gut geht und dass du einen kleinen Bruder hast. Ich hätte auch gerne einen. Vielleicht können wir uns deinen Bruder teilen? Dann können wir alle drei wie Brüder sein. Hoffentlich sehen wir uns wieder. Liebe Grüße von Nina.

In den nächsten Jahren gab es so vieles, wofür Leonid dem Doktor dankbar war. Doch als er in dieser Nacht auf die beiden mit Lebensmitteln und warmer Kleidung gefüllten Strohkörbe und seine erschöpfte Mutter und den kleinen schlafenden Bruder sah, konnte Leonid Jakow nur weinen. Ein lautes Schluchzen entfuhr ihm, und ein wundervoll warmes Gefühl des Trostes und der Dankbarkeit und ein neu entdeckter Glaube an die Güte der Menschen erfüllten ihn.