125. KAPITEL
Hauptbahnhof, Jekaterinburg
Kasan stieg aus dem Opel. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob ich Ihre Freunde zur Vernunft bringen kann«, sagte er zu Sorg. »Sonst gibt es ein Blutbad.« Er zeigte mit dem Daumen auf seine Begleiter. »Einer von Ihnen kommt mit!«
Einer der Männer stieg aus dem Wagen, während der andere auf den Fahrersitz rutschte und Sorg mit der Waffe in Schach hielt.
Ein lautes Rumpeln war zu hören, als eine ganze Reihe von Lastwagen auf das Ende des Bahnsteigs zufuhr und neben dem Fahrkartenschalter anhielt. Dutzende von Soldaten sprangen von den Ladeflächen. Gleichzeitig marschierte eine Hundertschaft in den Bahnhof ein. Siebzig Meter vom Zug entfernt nahm sie Aufstellung.
Sorg verlor alle Hoffnung.
Mit selbstgefälliger Miene kniff Kasan ihm fest in die Wange. »Sehen Sie? Ihre Freunde haben keine Chance! Wenn sie glauben, dass sie mit dieser kleinen Romanow-Hexe entkommen können, haben sie sich geirrt. Sie wird noch heute Nacht sterben. Daran besteht kein Zweifel!«
Er wandte sich dem Fahrer zu. »Wenn er Schwierigkeiten macht, verpassen Sie ihm eine Kugel. Versuchen Sie aber, ihn nicht zu töten. Diese Freude würde ich mir gerne selbst vorbehalten.«
Kasan lief über den Bahnsteig zum Kommandanten der soldatischen Truppe, einem energiegeladenen, muskulösen Mann, der den Griff des Revolvers im Holster an seiner Seite umklammerte. Er war bereit.
»Sie sind also Kasan? Ich hoffe, wir vergeuden hier nicht unsere Zeit.« Er zeigte auf den Tscheka-Polizisten, der neben dem Inspektor stand. »Er hat gesagt, Sie haben feindliche Agenten aufgespürt.«
»Nach denen Lenin persönlich fahndet!«
»Sind sie im Zug?«
Kasan nickte und gab seinem Mann ein Zeichen, ihm zu folgen. »Ich werde mit ihnen reden, um sie zur Kapitulation zu bewegen. Wenn sie versuchen zu fliehen, mähen Sie sie nieder. Töten Sie alle.«
»Wie viele sind es?«, fragte der Kommandant.
Kasan zog ein weißes Taschentuch aus der Tasche. »Eine Handvoll. Aber seien Sie wachsam. Sie sind mit allen Wassern gewaschen. Niemand verlässt den Bahnhof, ehe ich den Befehl dazu gebe.«
Mit diesen Worten drehte sich Kasan um und ging, gefolgt von seinen Männern, mit dem weißen Taschentuch, das er in die Höhe hielt, auf den Zug zu.
Boyle ließ Kasan nicht aus den Augen, als er sich mit dem weißen Taschentuch und zwei Männern an seiner Seite näherte. Kurz darauf klopfte er an die Tür des Wagens.
»Wir müssen uns anhören, was er zu sagen hat«, sagte Boyle zu Andrew.
Andrew öffnete die Tür und schwang seine Waffe. »Ich nehme an, das ist kein Freundschaftsbesuch.«
Kasan lächelte gequält. »Ich fürchte, nein. Es sei denn, Sie möchten, dass die Männer auf dem Bahnsteig das Feuer eröffnen. Ich schlage vor, Sie lassen mich eintreten und hören sich an, was ich zu sagen habe.«
Boyle nickte.
»Kommen Sie rein«, sagte Andrew. »Und halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
Kasan und seine Männer stiegen in den Wagen. »Ich bin Inspektor Kasan.«
»Wir wissen, wer Sie sind. Was wollen Sie?«
Kasans Blick wanderte an Lydia vorbei zu der Nonne und der bewusstlosen Anastasia, um die sich der Arzt kümmerte. »Ich dachte, das liegt auf der Hand. Zunächst einmal sie.«
»Sind Sie bereit zu verhandeln, Kasan?«
»Es gibt nichts zu verhandeln. Der Bahnhof ist umzingelt. Die Gleise sind blockiert. Wenn Sie fliehen, werden Sie wie räudige Hunde abgeschossen. Eine Kapitulation ist Ihre einzige Chance.«
»Ist das so?«, fragte Andrew in ruhigem Ton.
Kasan verzog den Mund zu einem schaurigen Grinsen. »Ich mache Ihnen ein Zugeständnis, wenn auch nur, um die ganze Sache zu einem Ende zu bringen. Ich erspare den Frauen eine Kugel, außer der Romanow-Hexe. Das ist alles. Oder haben Sie noch eine letzte Bitte?«
Andrew übersetzte alles für Boyle. »Ich nehme an, ein Erste-Klasse-Ticket nach Paris für uns alle steht nicht zur Debatte?«, fragte Boyle trocken.
»Ich übernehme jetzt, Kasan«, sagte Jakow.
Kasan strafte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Sie? Sie haben nichts mehr zu sagen. Halten Sie sich da raus, Jakow!«
»Auf wessen Befehl?«
»Auf meinen! Sie sind ein Verräter. Sie haben einen gesuchten Spion freigelassen. Und noch schlimmer ist, dass Sie dem Feind geholfen haben, ein Mädchen der Romanows zu retten.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Kasan. Das ist vollkommener Unsinn.«
»Ach ja? Wir werden sehen, was Lenin denkt, wenn er hört, was ich zu sagen habe.«
Anastasia, die in der Ecke lag, stöhnte unter Schmerzen. Der Arzt tupfte ihr Schweiß und Blut von der Stirn. Anschließend nahm er eine Nadel und einen Faden, da er beabsichtigte, weitere Wunden zu nähen.
»Das ist sehr nobel, aber reine Zeitverschwendung«, sagte Kasan. Er nahm seine Taschenuhr heraus. »Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden, um darüber nachzudenken. Dann ist es vorbei.«
Vom Opel aus beobachtete Sorg den Inspektor, der ein weißes Taschentuch in die Luft hielt und in den Waggon stieg. Der Hass auf Kasan loderte so heftig in ihm auf, dass er einen gequälten Schrei kaum unterdrücken konnte. Er blickte auf seine gefesselten Hände und versuchte, den Strick zu lockern, doch es war zwecklos. Der Füllfederhalter steckte in seiner rechten Jackentasche, und im Sitzen kam er nicht an ihn heran. Der Strick saß zu stramm.
Wenn Anastasia nicht bereits tot war, würde sie es bald sein. Dafür würden die Soldaten sorgen. Sorg akzeptierte, dass er versagt hatte. Der ganze Plan war in eine einzige Katastrophe ausgeartet. Doch wenn sie beide schon sterben mussten, würde er gerne bei ihr sein. Und er hatte noch einen letzten Wunsch.
Er wollte Kasan töten.
Wenn es ihm nur irgendwie gelänge, den Zug zu besteigen … Sorg verlagerte sein Gewicht auf die linke Seite und hob die Hände vor seinen Bauch, um den Füllfederhalter irgendwie zu fassen zu bekommen.
Der Fahrer am Steuer beobachtete aufmerksam den Zug.
Sorg schaffte es, nach der Jackentasche zu greifen. Er zog den Stoff zu sich heran und spürte die Kappe des Füllers durch die Tasche, konnte seine Finger aber nicht weit genug strecken. Als er seinen Körper noch weiter verdrehte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Wunde und stöhnte.
Der Fahrer warf einen Blick über die Schulter und fuchtelte mit der Waffe. »Was machen Sie da?«, fragte er.
Sorg knurrte. »Meine Wunde blutet.«
Der Mann grinste. »Pech für Sie!«, sagte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Zug zu.
Sorg verbog den Körper, bis die Schmerzen so stark wurden, dass er kaum noch Luft bekam und beinahe ohnmächtig wurde. Seine Finger berührten den Füllfederhalter. Er zog ihn vorsichtig aus der Ta s ch e.
Der Füller fiel auf den Boden.
Sein Bewacher drehte sich wieder zu ihm um. »Was war das?«
»Meine Wunde. Sie blutet immer stärker.«
»Lassen Sie mal sehen.«
Sorg beugte sich vor und stöhnte vor Schmerzen. Er tastete nach dem Füllfederhalter auf dem Boden, schob ihn zwischen seine Finger und schaffte es, die Kappe mit Daumen und Zeigefingern abzuziehen.
Der Mann am Steuer drehte sich zum Rücksitz um. »Ich habe gesagt, lassen Sie mal sehen! Was zum Teufel machen Sie denn da …?«
Sorg ließ seine Hände blitzschnell nach vorne schießen und stach die Klinge in die Luftröhre des Mannes. Blut spritzte aus der Wunde, und ein Schrei erstickte in seiner Kehle. Der Mann sackte auf dem Fahrersitz zusammen, knurrte leise und verstummte.
Inzwischen war Sorg schweißüberströmt. Er schnitt die Fessel mit der Klinge durch. Seine Hände waren blutverschmiert. Er wischte sie an der Kleidung des Toten ab und entriss ihm die Pistole. Als er sich umdrehte, sah er, dass die meisten Soldaten auf dem Bahnsteig in Richtung des Zugs sahen, doch einige beobachteten ihn. Ein Offizier starrte ihn an. Sorg hoffte, dass der Mann zu weit entfernt war, um zu sehen, was geschehen war.
Er nickte ihm grüßend zu.
Der Offizier nickte zurück.
Sorg schöpfte Hoffnung. Vielleicht wussten die Soldaten gar nicht, dass er Kasans Gefangener und nicht etwa einer seiner Männer war. Er musste das Risiko eingehen.
Er steckte die Pistole in die Tasche. Zwei Gedanken schossen ihm durch den Kopf: Er musste Anastasia finden. Und Kasan töten. Er war so wütend, dass er fast die Besinnung verlor, gleichzeitig spürte er, dass sich eine seltsame Ruhe in ihm breitmachte, als hätte ihn der sichere Tod schon in die Arme geschlossen.
Er stieg aus dem Opel und ging auf den Zug zu. Als er den vierten Wagen erreichte, öffnete er die Tür und stieg ein.
»Die Zeit ist um. Wie haben Sie sich entschieden?«
Boyle warf Andrew einen Blick zu. Seine Körperhaltung verriet, dass er aufgegeben hatte.
»Warum glaube ich Ihnen nicht, dass Sie Ihr Wort halten?«, sagte Andrew.
Kasan zog die Pistole. »Sie haben keine andere Wahl. Seien Sie vernünftig. Legen Sie alle Ihre Waffen auf den Tisch und stellen Sie sich ans Ende des Wagens.«
Boyle ließ seinen Colt auf den Tisch fallen, Andrew legte seinen Revolver daneben.
»Die Frau auch«, sagte Kasan.
Lydia warf ihre Mauser auf die Tischplatte.
Kasan zeigte mit der Waffe auf Jakow. »Stellen Sie sich zu den anderen.«
»Dafür werden Sie sterben, Kasan!«
»Ich lasse Ihnen den Vortritt.«
In seiner unbändigen Wut warf sich Jakow auf Kasan, der ihm geschickt auswich. Er hob die Waffe und verpasste Jakow mit dem Griff seiner Pistole einen kräftigen Schlag auf den Kopf, worauf dieser gegen die Wand taumelte. »Stellen Sie sich zu den anderen an die Wand«, zischte Kasan. »Eine kleine Generalprobe für den Moment, wenn das Erschießungskommando vor Ihnen steht!«
Jakow rappelte sich mühsam hoch.
»Durchsucht Sie nach weiteren Waffen«, befahl Kasan seinen Männern.
Einer von Kasans Leuten, der in der Nähe des geöffneten Fensters stand, sah, dass ihr Gefangener aus dem Opel stieg und in aller Ruhe auf den Zug zuging. Fassungslos streckte er den Kopf aus dem Fenster und verfolgte mit offen stehendem Mund das Geschehen. Der Gefangene stieg drei Wagen weiter in den Zug ein.
»Inspektor …«, rief er ungläubig.
»Was ist los?«
»Der Gefangene ist gerade in den Zug gestiegen!«