14. KAPITEL

Sibirien

Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie zu dritt auf Jakows Zug zugingen. »Ich bin dir zu Dank verpflichtet, Stanislaw«, sagte Andrew.

Der junge Mann grinste. »Dem Ukrainer gefällt es nicht, wenn er ausgetrickst wird. Gut, dass ich dich abgeholt habe.«

»Mersk gehört zu den Leuten, denen es Freude macht, anderen Schmerzen zuzufügen. Lass dir das eine Warnung sein, Stanislaw. Bei so einem Scheißkerl wie Mersk muss man immer mit Ärger rechnen. Ich bitte dich, nimm dich in Zukunft bloß vor ihm in Acht!«

Stanislaw schwang sein Gewehr. »Ich kann gut auf mich aufpassen, und ich bin ein ausgezeichneter Schütze, Juri. Sag deinem Unteroffizier, er soll zwölf Schritte vorausgehen, sodass ich ihn genau im Blick habe.«

»Warum?«

»Bitte, keine Widerrede. Ich muss unter vier Augen mit dir sprechen.«

Andrew hörte das leise Rumpeln des herannahenden Zuges und starrte in die Dunkelheit, doch er konnte die Stirnleuchte der Lokomotive noch nicht sehen. »Gehen Sie voraus, Tarku.«

Der Unteroffizier sah ihn verunsichert an. »Aber, Hauptmann …«

»Machen Sie, was ich sage, Unteroffizier!«

»Ja, Hauptmann.« Tarku seufzte und ging widerstrebend ein paar Schritte voraus.

Stanislaw wandte sich Andrew zu und flüsterte: »Leonid hat hart um deine Freilassung gekämpft. Er will dir unbedingt helfen, Juri.«

Das Rumpeln des Zuges wurde lauter, und nun war auch die Stirnleuchte zu sehen, die sich schnell näherte. Andrew schätzte, dass der Zug in drei oder vier Minuten hier vorbeikam. Tarku warf ihm einen ängstlichen Blick zu.

Stanislaw bemerkte es. »Dein Unteroffizier scheint ziemlich nervös zu sein.«

Andrew versteifte sich. »Er ist immer nervös. Glaub nicht, ich bin Leonid nicht dankbar für seine Hilfe.«

»Die Leute sagen, mein Bruder sei ehrgeizig, weil er aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Er ist dennoch ein Mann, der Loyalität verdient. Soba und ich bewundern ihn. Wir wissen, was er durchgemacht hat, als seine Frau starb und als unsere Mutter ihrer Krankheit erlag. Er zeigt seine Gefühle nicht oft und macht alles mit sich selbst aus. Aber er hängt sehr an dir, Juri.«

»Ich weiß.«

Stanislaw legte eine Hand auf Andrews Arm. »Leonid möchte, dass ich dir etwas unter vier Augen sage. Es geht um ein Angebot, das er dir machen will …«

Als das Zuglicht noch näher kam, geriet Tarku in Panik und drehte sich plötzlich um. Das Messer unter seinem Mantel wurde sichtbar, und die Klinge glitzerte im Licht der Laterne. »Wir haben keine Zeit mehr, Hauptmann …«

Tarku stürzte sich auf Stanislaw, doch Andrew warf sich dazwischen und entriss dem Unteroffizier das Messer. »Nein, tun Sie ihm nichts!«

Der verwirrte Stanislaw ließ die Laterne fallen und hob sein Gewehr. »Was … was geht hier vor sich?«

Andrew presste eine Hand auf Stanislaws Mund, sodass dessen Schrei in der Kehle erstickte. Er schleuderte den Jungen herum und knallte ihn mit dem Gesicht gegen den nächsten Waggon. Tarku eilte herbei und riss ihm das Gewehr aus der Hand.

»Hör mir zu, Stanislaw«, flüsterte Andrew. »So sehr ich es auch hasse, aber ich muss dich außer Gefecht setzen.« Er beugte sich zu ihm vor, sodass sich ihr Atem in der kalten Luft vermischte. »Wenn du wieder zu dir kommst, sind wir längst weg. Es tut mir leid, dass ich dir wehtun muss, Bratischka

Andrew drückte auf Stanislaws Halsschlagader, worauf der Junge stöhnte und wild um sich schlug. Dann verdrehte er die Augen und verlor das Bewusstsein.

»Wehr dich nicht, Stanislaw«, sagte Andrew.

»Ich wusste, dass ihr Dreckskerle nichts Gutes im Schilde führt! Jetzt werdet ihr dafür bezahlen!«, hörten sie jemanden in barschem Ton sagen.

Andrew wirbelte herum, als Stanislaw auf dem Boden zusammenbrach. Vor ihm stand der ukrainische Feldwebel mit einem boshaften, hämischen Gesichtsausdruck und der Nagaika in der rechten Hand.

Tarku legte das Gewehr an. Keine Sekunde später zischte die Nagaika mit einem lauten Knall durch die Luft und traf die Hand des Unteroffiziers. Er schrie auf und ließ die Waffe fallen. Die Peitsche zischte erneut und schlang sich um Tarkus Hals. Der große Ukrainer zog ihn zu sich heran und verpasste ihm eine Kopfnuss, worauf der Unteroffizier wie ein Sack Mehl zu Boden ging.

Der Ukrainer grinste. »Jetzt bist du dran, Andrew. Es wird mir großes Vergnügen bereiten, dir eine Lektion zu erteilen!«

Andrew versuchte, der Peitsche auszuweichen, doch sie traf seine verwundete Schulter. Ein stechender Schmerz schoss durch die Wunde, und ihm entfuhr ein verzweifelter Schrei.

Mersk warf die Nagaika feixend auf den Boden und zog einen Kosakendolch mit doppelter Schneide vom Gürtel. Die Klinge blitzte in seiner Hand. »Es wird Zeit, dass ich das hier ein für alle Mal beende! Ich werde dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, Andrew.«

Das Pfeifen der Lokomotive aus Omsk schrillte durch die Nacht, als sie in der Nähe des Lagers um eine Biegung fuhr. Die Stirnleuchte war keine fünfhundert Meter mehr entfernt. Eine Rauchfahne quoll aus dem Schornstein und wehte über die Lokomotive hinweg. Als Mersk den Zug sah, fiel der Groschen. »Das hast du also vorgehabt, Andrew? Eine schnelle Fahrt in die Freiheit? Zu spät! Das schaffst du nicht mehr.«

Stanislaw stöhnte benommen und rappelte sich mühsam auf.

»Und wo willst du hin, du kleiner Scheißkerl?«, sagte Mersk zu ihm.

Der Junge war noch nicht ganz zu sich gekommen und konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Mein … mein Gewehr …«

Als der verstörte Stanislaw seine Waffe aufheben wollte, holte der Ukrainer aus und stieß ihm die Klinge in den Rücken. Stanislaw schrie und bäumte sich auf. Seine Augen spiegelten nacktes Entsetzen wider, als er auf dem schneebedeckten Boden zusammenbrach. Mit einem Grinsen im Gesicht zog der Ukrainer die Klinge aus der Wunde und wischte sie an seinem Mantelärmel ab.

»Nein!«, stammelte Andrew ungläubig, und ein Schrei des Entsetzens kroch seine Kehle hinauf.

»Jetzt bist zu dran …«

»Du elendes Schwein!«, schrie Andrew und starrte fassungslos auf Stanislaws sterbenden Körper. Mit geballter Faust stürzte er sich auf den Ukrainer und verpasste ihm einen harten Schlag aufs Kinn. Der kräftige Mann geriet ins Taumeln und war sekundenlang wie benommen, doch dann sauste sein Dolch wieder durch die Luft.

»Sag dem Teufel guten Tag, Andrew, denn du wirst ihn gleich treffen.« Als Mersk zustoßen wollte, ging Andrew blitzschnell in die Hocke, machte einen Satz nach vorn und trat Mersk gegen den linken Knöchel. Der Ukrainer verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Schnee.

Als er sich anschickte aufzustehen, schlang Andrew seinen gesunden Arm um den Hals des Feldwebels, rammte ihm ein Knie in den Rücken und drückte ihm mit aller Kraft die Kehle zu. Der Ukrainer schnappte nach Luft und versuchte, sich aus dem Würgegriff zu befreien, doch ihm schwanden die Sinne. Er brach zusammen und blieb reglos liegen.

Mit wackeligen Beinen und stechenden Schmerzen in der Schulter stand Andrew auf und rang nach Atem.

Der Zug aus Omsk raste auf ihn zu. Dampfwolken vernebelten den Nachthimmel, und ein schrilles Pfeifen ertönte. Andrew beugte sich über Stanislaw, dessen Augen weit aufgerissen waren. Er fühlte seinen Puls – der Junge war tot.

»Du armes, unschuldiges Kind.« Andrew bekam feuchte Augen, als er Stanislaws Lider zudrückte. Er wiegte ihn in den Armen und schüttelte untröstlich den Kopf. »Warum er? Warum? Er war noch ein Kind, verdammt … ein Kind!«

Als er das Pfeifen des Zuges erneut hörte, wischte sich Andrew über die Augen und legte den Toten behutsam in den Schnee. Dann riss er Tarku hoch und schüttelte ihn. »Wachen Sie auf! Wachen Sie auf, verdammt!«

Allmählich kam Tarku wieder zu sich. Benommen schob er die Brille auf den Nasenrücken und starrte auf die beiden leblosen Körper. »Was … was ist passiert?«

»Später. Der Zug, Tarku! Rennen Sie zu den Schienen!«

»Haben Sie Mersk getötet?«

»Wir haben keine Zeit, das zu überprüfen. Laufen Sie!«

Der Güterzug näherte sich, und plötzlich war er direkt vor ihnen. Das schrille Pfeifen hallte in ihren Ohren, und der Boden bebte unter ihren Füßen, als er langsam um die Biegung fuhr.

Andrew warf einen letzten kummervollen Blick auf Stanislaws Leichnam, ehe er Tarku am Kragen packte und mit ihm auf den Zug zurannte.

Es war kurz nach Mitternacht, als Jakow das laute Klopfen an seiner Wagentür hörte. Mit Stiefeln und Mantel bekleidet lag er in seinem Schlafabteil auf dem Feldbett und döste. Als das Klopfen lauter wurde, stand er auf. »Ich komme ja schon. Immer mit der Ruhe!«

Jakow rieb sich den Schlaf aus den Augen, ging zur Tür und riss sie auf. Zwei seiner Rotgardisten standen dort, neben ihnen ein aschfahler Offizier.

»Kommissar. Bitte … bitte kommen Sie!«

Jakow sprang aus dem Waggon und schlug den Kragen seines langen Wintermantels hoch, um sich vor der Kälte zu schützen. Ihre Schritte knirschten im Schnee, als er dem Offizier und den Rotgardisten folgte und sie schnell auf das Ende des Zuges zusteuerten.

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Jakow. Das Lager war hell erleuchtet und von Lärm erfüllt. Die Wachen hatten die Gefangenen geweckt, sie mit Gewehrkolben geschlagen und aus den Baracken heraus in den Schnee getrieben. Dort mussten sie sich in Reihen aufstellen, um gezählt zu werden.

Der Offizier beschleunigte seine Schritte. »Es sieht so aus, als wären Andrew und sein Unteroffizier geflohen! Die Wachleute sagen, dass die beiden auf Ihren Befehl hin mit Ihrem Bruder das Westtor passiert haben. Jetzt sind sie verschwunden.«

Jakow presste die Lippen aufeinander. »Was?«

»Wir befürchten, dass die Gefangenen auf den Zug gesprungen sind, der vor fünf Minuten hier vorbeigefahren ist. Wir führen eine Zählung durch, um zu überprüfen, ob sie alleine geflohen sind.«

Jakow kochte vor Wut. »Dafür wird jemand teuer bezahlen! Wenn es sein muss, stelle ich ihn vor ein Erschießungskommando!«

»Kommissar, wir heizen in diesem Augenblick den Kessel ein. Der Lokführer sagt, dass Ihr Zug in fünfzehn Minuten abfahrbereit ist.«

»Wenn wir sie einholen wollen, muss er sich beeilen!«

Als sie das Ende des Zuges erreichten, sah Jakow, dass seine Rotgardisten einen Kreis gebildet hatten. Ein paar von ihnen hielten Petroleumlampen in den Händen. Einige schienen vollkommen aufgelöst. Jakow sah die Angst in ihren Augen, als er sich ihnen näherte.

Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte die Männer wütend an. »Warum stehen Sie hier alle herum wie die Dummköpfe?«

»Kommissar«, begann der Offizier zögerlich. »Zwei unserer Männer wurden von Andrew angegriffen, als er geflohen ist. Feldwebel Mersk hat er beinahe erwürgt und einen anderen Mann erstochen.«

Die Männer machten Platz, sodass Jakow Mersk sehen konnte, der sich an einem Wagen abstützte. Er massierte sich mit hasserfüllter Miene den Hals. Einer der Wachleute senkte seine Sturmlampe, worauf der gelbe Lichtkegel auf einen Körper fiel, der mit verdrehten Gliedmaßen im Schnee lag.

»Stanislaw …« Ungläubig stammelte Jakow den Namen seines Bruders, der mit totenbleichem Gesicht vor ihm im Schnee lag. Seine Kehle schnürte sich zu, sein Herzschlag setzte aus, und er bekam kaum Luft: Der Mantel seines Bruders war auf dem Rücken mit Blut durchtränkt.

»Das war Andrew, Kommissar«, stieß Mersk in heiserem Ton aus. »Er wollte mich erwürgen. Ich bin fast ohnmächtig geworden. Er hat mein Messer genommen und Ihren Bruder wie ein Schwein abgestochen, bevor er mit Unteroffizier Tarku geflohen ist.«

Wie vom Donner gerührt stand Jakow da. Einen kurzen Augenblick sah es so aus, als begriffe er nicht, was geschehen war. Schließlich sank er auf die Knie, drückte Stanislaw an seine Brust und wiegte ihn in den Armen. »Großer Gott, nein …«, flüsterte er mit gebrochener Stimme.

Als hätte sich eine schreckliche Wunde geöffnet, warf Jakow den Kopf zurück und begann zu stöhnen. Ein qualvoller Schrei drang aus der Tiefe seiner Seele und hallte endlos durch die eisige Nacht.

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