21. KAPITEL
Dublin
Zwanzig Minuten später setzte eine Droschke Boyle vor dem Gresham Hotel in der Sackville Street in Dublin ab. Als er ausstieg, regnete es in Strömen.
Hanna Wolkowa war schon da, als Boyle seine Suite im obersten Stock betrat. Sie saß auf einer roten Chaiselongue. In dem mit schweren Samtvorhängen dekorierten Raum brannte ein Feuer im Kamin.
Sie sah jünger aus als dreißig. Mit der makellosen Figur und den hübsch geformten slawisch anmutenden Wangenknochen war sie für die Bühne geschaffen. Hanna Wolkowa strahlte Ruhe und Eleganz aus. Sie hatte große, ausdrucksstarke saphirblaue Augen.
Boyle schüttelte den nassen Hut aus. »Auf Regen kann man sich in diesem Land immer verlassen. Ich finde, man sollte jedem Kind auf dieser Insel einen Regenschirm zur Geburt schenken.«
Hanna stand lächelnd auf. »Ihr Iren scheint auf das Wetter fixiert zu sein, Joe«, sagte sie in leisem, ein wenig rauem Ton. Sie sprach fließend Englisch mit einem leichten russischen Akzent.
Boyle zog den Mantel aus und hängte ihn ebenso wie den Hut auf einen Ständer neben der Tür, ehe er zum Barschrank ging. »Nur weil es so miserabel ist. Hier kommt man an vielen Tagen innerhalb einer Stunde in den Genuss aller vier Jahreszeiten. Möchtest du einen Drink? Ich könnte einen vertragen.«
»Ja, ein Glas Wein wäre schön.«
Boyle goss ihr einen Rotwein und für sich Bushmills-Whiskey ein und setzte sich zu ihr an den Kamin. Hanna wirkte müde und ungewöhnlich besorgt an diesem Abend. Das schwarze Etuikleid betonte ihre gute Figur. Außer einem Goldring und einer einfachen Halskette, an der das russische Kreuz hing, trug sie keinen Schmuck.
»Ich würde gerne einen Toast aussprechen, doch ich habe keine guten Nachrichten.« Boyle reichte ihr das Glas, nippte an seinem Whiskey und seufzte. »Es wird einige Zeit dauern, bis sie sich erholt hat.«
»Wie lange?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann morgen mit ihrem Arzt sprechen. Das Ganze ist verdammt ärgerlich. Lydia Ryan war genau die Richtige und hatte alle Voraussetzungen für die Aufgabe. Es ist unmöglich, zu diesem späten Zeitpunkt einen Ersatz für sie zu finden.«
Hanna stellte ihr Weinglas ab. »Gibt es sonst niemanden?«
Boyle trank seinen Whiskey. »Nur wenn du eine Sekretärin, die im Privatbüro des Zaren gearbeitet hat, und die nicht mehr ganz junge Ehefrau eines zaristischen Offiziers in Betracht ziehst. Ich glaubte aber, dass weder die eine noch die andere dem Job gewachsen wäre. Nur jemand wie Ryan hat die Nerven, um das durchzuziehen, was wir im Sinn haben.«
Hanna Wolkowa trat an das Fenster mit Blick auf die Sackville Street. Es regnete schon seit Stunden. Zwei Lastwagen mit Maschinengewehren und britischen Soldaten fuhren am Hotel vorbei. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
»Nicht mehr als sieben Tage, um die beiden ins Land zu schicken, wenn wir eine Chance haben wollen, dass sie Jekaterinburg rechtzeitig erreichen.«
»Sag mir, dass es funktioniert, Joe«, bat Hanna mit einer Spur von Verzweiflung in der Stimme.
Boyle fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich habe dir versprochen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, und ich halte mich daran. Wir stehen aber großen Problemen gegenüber. Selbst wenn Ryan sich wieder vollständig erholt und zustimmt, uns zu helfen, liegt eine gefährliche Reise vor ihr.«
In der Ferne waren Schüsse zu hören. Boyle ging zu dem Barschrank und füllte sein Glas wieder auf. »Nach fünfhundert Jahren gescheiterter Rebellionen lehnen die Iren sich diesmal mit aller Gewalt auf.«
»Du hast übrigens unsere Freunde in London verärgert. Sie haben angerufen und mich gebeten, dir auszurichten, dass du deine Waffe im Holster stecken lassen sollst. Sie haben gesagt, es gehe hier sowieso schon zu wie im Wilden Westen und es sei nicht nötig, dass du obendrein noch auf ihre eigenen Leute schießt.«
»Jackson hat es verdient«, erwiderte Boyle und zog die Vorhänge zu. »Seine Dummheit hat unseren ganzen Plan ruiniert.«
»Was ist mit Juri Andrew?«
Boyle ging auf einen Schrankkoffer aus Metall mit einem Vorhängeschloss zu, der in einer Ecke des Raumes stand. Er zog einen Schlüssel aus seiner Weste, öffnete das Schloss und nahm eine Akte heraus. »Andrew ist aus vielen Gründen unsere beste Wahl. Er hat früher einmal in der Leibwache des Zaren gedient und kennt die Zarenfamilie vom Sehen. Ihm ist auch die Gegend in Sibirien vertraut. Das Gefangenenlager, aus dem er geflohen ist, ist nicht weit von Jekaterinburg entfernt. Und er hat sich schon mehrmals aus brenzligen Situationen befreit.«
»Während meiner Zeit auf der Bühne habe ich eines gelernt: Jeder Mensch hat eine Schwäche. Welche hat er?«, fragte Hanna und setzte sich wieder hin.
Boyle blätterte in der Akte. »Nur eine, und das ist nicht direkt eine Schwäche, sondern eine Information, die uns fehlt. Als er in London ankam, wurde er von einem weißen Verbindungsoffizier befragt, der mit der Einwanderungsbehörde Seiner Majestät zusammenarbeitet. Andrew sagte ihm, dass er aus einem Gefangenenlager der Roten geflohen sei und sich bis Sankt Petersburg und zu seiner Familie durchgeschlagen habe. Was dann geschah, wissen wir nicht genau. Jedenfalls setzte er seine Flucht anschließend fort.«
»Was meinst du?«
»Andrew muss in Sankt Petersburg irgendetwas erlebt haben, wahrscheinlich eine Konfrontation mit den Roten. Offenbar kam er gerade so mit dem Leben davon und musste seine Frau und seinen Sohn zurücklassen. Der Offizier, der ihn verhört hat, gab an, dass Andrew stark traumatisiert zu sein schien und sich weigerte, darüber zu sprechen. Die Frage ist, ob er sich darauf einlassen wird, zurückzukehren und noch einmal sein Leben zu riskieren.«
Boyle warf die Akte auf den Couchtisch. »Morgen müssten wir die Antwort bekommen. Darum solltest du jetzt schlafen gehen. Du musst um sieben Uhr aufbrechen, wenn du das Postschiff nach Holyhead erreichen willst.«
Hanna nahm ihre Handtasche. »Gute Nacht, Joe.«
Ihre Suite lag genau gegenüber. Boyle begleitete sie zur Tür und küsste ihr die Hand. »Ich wünsche dir eine sichere Überfahrt und viel Glück bei dem Versuch, Andrew in London zu überzeugen.«
Sie zögerte kurz und warf Boyle einen besorgten Blick zu. »Glaubst du wirklich, wir können sie retten, Joe?«, fragte sie mit unsicherer Stimme.
»Wir müssen es versuchen. Es wäre entsetzlich, wenn uns die Hinrichtung der fünf unschuldigen Zarenkinder auf dem Gewissen läge.«