29. KAPITEL

London/Moskau

Es war ein erstaunlich kühler Junimorgen. Vater Doneski zündete gerade die Kerzen auf dem Altar in der Kirche des Heiligen Konstantin an, als er Schritte auf dem Gang hörte.

Er drehte sich um. Ein untersetzter Mann mit den groben Gesichtszügen eines Bauern musterte ihn mit hinterhältigem Blick. »Guten Morgen, Vater«, sagte er auf Russisch.

»Was wollen Sie?«, fragte Doneski zornig.

Der Mann grinste und schob seinen Hut ein Stück zurück. »Ein ruhiges Gespräch unter Freunden.«

Doneski blies die kleine Kerze aus, mit der er die anderen angezündet hatte. »Wir werden niemals Freunde sein! Und nehmen Sie Ihren Hut in diesem Gotteshaus ab, bevor ich ihn Ihnen vom Kopf reiße!«

Der Mann grinste. »Sie sind sehr mutig, nicht wahr, Vater?«

Doneski ging auf den Mann zu und zog ihm die Leinenmütze vom Schädel. Der Besucher konnte es gegen den großen Priester mit dem muskulösen Körper nicht aufnehmen und musste zusehen, wie seine Mütze auf den Boden flog. »In meiner Kirche tun Sie, was ich sage«, stieß Doneski böse aus.

Mit mürrischer Miene hob der Mann die Mütze auf und klopfte den Staub ab. »Ich wäre an Ihrer Stelle respektvoller, sonst wird es jemand ausbaden müssen.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, erwiderte Doneski, dessen Gesichtsmuskeln plötzlich zu zucken begannen, in gequältem Ton.

Der Besucher stopfte die Mütze in seine Tasche. »Nicht alles, Vater. Ich bin Hanna Wolkowa gestern den ganzen Tag gefolgt. Sie hat im Connaught Hotel übernachtet. Es stellte sich heraus, dass sie sich mit dem amerikanischen Botschafter und zuvor hier in der Kirche mit einem anderen Mann getroffen hat. Ich bin ihm zu einer Druckerei in Whitechapel gefolgt. Was hat das zu bedeuten? Was hat diese bourgeoise Schlampe vor?«

Doneski schwieg.

»Haben Sie unsere Abmachung vergessen?«

Der Priester ballte wütend die Fäuste. Er musste sich zusammenreißen, um sich nicht auf den Mann zu stürzen und ihn zu erwürgen. »Ich habe immer gesagt, dass ihr Roten nichts anderes als Teufel in Menschengestalt seid!«

»Sie wollen doch nicht, dass Ihrer lieben alten Mutter oder Ihren Verwandten in Moskau etwas zustößt, nicht wahr? Sagen Sie mir, was Wolkowa im Schilde führt, bevor ich meine Meinung ändere und sie alle in ihren Zellen verrotten lasse.«

Doneski ließ die Schultern hängen. Er wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war. »Der Mann, mit dem Hanna Wolkowa sich getroffen hat, heißt Andrew. Er ist russischer Emigrant. Ich habe ihn vorher schon mal in unserer Suppenküche gesehen.«

Der Mann grinste. »Ausgezeichnet. Und jetzt strengen Sie Ihr Gehirn mal an und erzählen mir alles, was Sie wissen. Und lassen Sie nichts aus.«

Um kurz nach sechs Uhr am nächsten Abend bestieg der untersetzte Mann den Nachtzug nach Edinburgh, der kurz darauf den Bahnhof King’s Cross verließ. Er fuhr dritter Klasse und trug einen Seesack bei sich.

Am nächsten Morgen passierte der Zug in aller Frühe die schottische Grenze und fuhr schließlich in den Bahnhof von Edinburgh ein.

Der Russe hatte kaum geschlafen und war erschöpft. Die Informationen, die er sich eingeprägt hatte, verstärkten seine nervöse Anspannung. Er betrat ein Telegrafenamt in der Stadt und schickte ein kurzes, verschlüsseltes Telegramm nach Paris, von wo aus es anschließend nach Moskau weitergeleitet wurde.

Der Mann betrat ein Geschäft und kaufte mit seinen Lebensmittelmarken Marmelade, Dosenschinken, Zwieback und Sardinen für die lange Reise, die vor ihm lag. Außerdem nahm er eine Flasche Buttermilch und etwas frisches Brot und Käse fürs Frühstück mit. Er verschlang es gierig, als er zum Hafen ging.

Der Russe legte seine Fahrkarte vor und bestieg kurz vor Mittag die Baltic Prince. Sein schwedischer Reisepass auf den Namen Lars Westens wurde überprüft und nicht beanstandet.

Die Schiffsreise war recht angenehm. Die Nordsee war spiegelglatt, und am sommerlichen Nachthimmel leuchteten die Sterne.

Vier Tage später ging der Russe in Helsinki von Bord und nahm eine Straßenbahn zum Marktviertel. Im Haus einer älteren Frau, einer Parteigenossin, konnte er ein heißes Bad nehmen und bekam ein Essen, ein bisschen Bargeld, neue Reisedokumente und eine Zugfahrkarte nach Moskau.

Nach mehreren Verzögerungen an der russischen Grenze, an der die Wachposten der Roten Armee die Papiere aller Reisenden peinlich genau überprüften, erreichte sein Zug zweiundsiebzig Stunden später endlich Moskau.

Um Viertel nach neun an diesem Morgen stand der Mann vor dem Tor des kleinen, runden Kutafja-Turms am Eingang des Kreml. Dieser eigentümliche weiße Turm war durch eine Brücke, die sich über einen alten Burggraben spannte, mit der Festung verbunden. Der Russe reichte dem Soldaten seine Papiere, der sie mit selbstgefälliger Miene prüfte. »In welcher Angelegenheit sind Sie hier?«

»Einer privaten. Rufen Sie die Sekretärin des Genossen Lenin an und sagen Sie ihr, dass Semaschko mit dringenden Nachrichten aus London gekommen ist. Beeilen Sie sich.«

Der Wachsoldat ärgerte sich, dass ein unrasierter Landstreicher mit verschwommenem Blick in zerknitterter Kleidung und mit einem lumpigen Seesack so mit ihm sprach. Doch etwas in dem Ton des Mannes sagte ihm, dass es klug wäre, der Aufforderung nachzukommen.

Er rief die Sekretärin an, und kurz darauf schlurfte ein hübsches Mädchen mit kleinem Buckel in einem dicken, grauen Wollrock, einer schwarzen Strickjacke und flachen, braunen Schuhen den gepflasterten Weg vom Kreml auf ihn zu. Lidia Alexandrowna Fotjewa war Lenins Chefsekretärin. Sie kannte alle Geheimnisse des Roten Diktators und genoss sein absolutes Vertrauen.

Der Mann mit dem Seesack rief: »Lidia! Sagen Sie diesen Dummköpfen, sie sollen mich passieren lassen!«

»Ich verbürge mich für diesen Bürger, Genosse. Lassen Sie ihn eintreten«, sagte sie zu dem Wachsoldaten.

Als Lidia Fotjewa den Besucher zum Kreml führte, sprach sie mit ihm vertraulich wie mit einem alten Freund. »Lenin hat Ihr Telegramm gelesen und ungeduldig auf Ihre Ankunft gewartet. Wir sollten uns beeilen. Er hat um zehn Uhr eine wichtige Sitzung im Kriegsministerium.«

»Tun Sie sich selbst einen Gefallen und sagen Sie Lenins Sitzung ab, Lidia.«

»Wie bitte?«

»Sobald er meine Nachrichten hört, wird er nirgendwo mehr hingehen.«

Zwei Meilen entfernt stieg Jakow im Arbat, einem bekannten Moskauer Stadtviertel, aus dem Fiat-Lastwagen.

Soba saß auf dem Fahrersitz. »Komm doch mit zu uns nach Hause. Dann siehst du deine Tochter auch einmal. Meine Frau kann für uns alle etwas kochen.«

»Dafür ist keine Zeit. Ich muss in einer Stunde im Kreml sein.«

»Du musst dir Zeit nehmen, wenn es um Kinder geht, Leonid! Weißt du, warum Trotzki dich in den Kreml gerufen hat?«

»Darüber mache ich mir erst Gedanken, wenn ich da bin.« Jakow hob das in braunes Papier eingewickelte Paket vom Boden des Lastwagens auf und drückte es Soba in die Hand. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Überleg dir eine andere Möglichkeit, Nina Andrew die Lebensmittel und die Kleidung zukommen zu lassen.«

Dann nahm er eine prall mit Rubel gefüllte Lederbörse aus der Tasche und legte sie auf den Beifahrersitz. »Sie braucht Medikamente für das Kind. Solche Dinge bekommt man heutzutage nur auf dem Schwarzmarkt, und sie sind teuer.«

»Sie hat deine Hilfe doch abgelehnt.«

»Versuch es über den Priester in ihrem Viertel oder den Arzt, der das Kind behandelt. Sie sollen sagen, dass sie ihr in ihrer Notlage helfen möchten. Es muss glaubwürdig klingen. Sie soll keinen Verdacht schöpfen, dass die Hilfe von mir kommt.«

Es war zwei Uhr, und die Kinder strömten auf den Schulhof. Einige der jüngeren wurden von ihren Müttern abgeholt.

Jakow stellte sich an den Maschendrahtzaun.

Das dunkelhaarige Mädchen verließ kurz darauf die Schule. Es wurde bald sechs und trug ein verschlissenes blaues Kleid und feste Lederschuhe. Es war ein ganz normales Mädchen mit Zöpfen, aber seine großen, ausdrucksstarken Augen hatte es von seiner Mutter geerbt, und sie verliehen dem Kind einen unglaublich unschuldigen Blick.

Seit dem ersten Tag, als er das Neugeborene in den Armen gehalten hatte, war er gerührt, wenn er seine Tochter ansah. Jakow hatte sie nach seiner verstorbenen Schwester Katerina benannt, und nun, da Stanislaw tot war, schien sie seine einzige Verbindung zur richtigen Welt zu sein.

Katerinas Blick glitt ängstlich über die Köpfe der Menge, bis sie Sobas Frau entdeckte, eine lächelnde Bäuerin mit dickem Busen. Sie schloss Jakows Tochter in die Arme, drückte sie an sich und küsste sie. Dann nahm sie Katerina an die Hand und verließ mit ihr den Schulhof. Die Kleine hüpfte glücklich neben ihr her.

Jakow spürte das übermächtige Bedürfnis, seiner Tochter zu folgen, sie fest zu umarmen, zu küssen und nicht mehr loszulassen. Er sehnte sich danach, ihr kindliches Lachen zu hören und das Strahlen in ihren großen, unschuldigen Augen zu beobachten, und er kämpfte verzweifelt gegen das Verlangen an, den beiden hinterherzulaufen.

Auf ihn wartete die Arbeit für die Partei. Persönliche Belange kamen an zweiter Stelle.

»Eine Revolution ist für alle Menschen schwer. Ohne Opfer und Leid kann sie nicht gewonnen werden.«

Jakow erinnerte sich an Ninas Erwiderung. »Und welche Opfer bringst du, Leonid?«

Als Katerina fröhlich davonging, dachte er über die Antwort auf die Frage nach. Eine ganze Weile stand Jakow am Zaun und sah seiner Tochter hinterher. Als seine Augen feucht wurden, drehte er sich um und kehrte zum Lastwagen zurück.