33. KAPITEL
Zarskoje Selo
Sorg würde diesen Tag niemals vergessen. Er hatte sich wie eine tiefe Wunde in sein Gedächtnis gebrannt.
Fast vier Monate lang hatte er jeden Mittwochnachmittag den Zug nach Zarskoje Selo genommen und war um kurz vor vier vor dem Palasttor gestanden.
Die Wachen überprüften, wie jeden Tag, seine Papiere – Sorgs Passierschein, der einen Stempel mit dem Romanow-Wappen trug, und einen Brief, in dem stand, dass er vom Zaren als Klavierlehrer angestellt worden war. Ein Diener des Palastes begleitete ihn über den Innenhof und ein paar Stufen hinauf zu den Privatgemächern der Familie.
Zwei Stunden saßen er und Anastasia dann auf zwei Hockern vor dem Klavier, in einem kalten Raum des Palastes mit Holzfußboden.
Die Familie lebte bescheiden. Sorg erfuhr, dass der Zar nichts davon hielt, dass seine Kinder ein leichtes Leben führten. Sie schliefen auf harten Betten und waren verpflichtet, täglich einige Arbeiten zu übernehmen.
Trotz Anastasias Enthusiasmus entdeckte Sorg schon nach einer Klavierstunde, dass sie eine entsetzliche Schülerin war. Sie zog es vor, ihn mit Grimassen, dem Tratsch, der im Palast kursierte, und Neuigkeiten über ihre Familie und andere Verwandte zu unterhalten. Auf diese Weise erfuhr Sorg immer etwas, das er in seine Berichte schreiben konnte.
»Ich habe mich entschieden«, verkündete Anastasia, nachdem Sorg ihr einen Monat lang Klavierstunden gegeben hatte. »Ich habe nicht das Talent zu einer guten Musikerin. Aber das können wir doch für uns behalten, nicht wahr, Philip? Ich genieße Ihre Gesellschaft sehr. Das Leben ist so langweilig hier. Meine Schwestern sagen, dass wir niemals ein normales Leben führen werden. Es ist so, als würde man in einem goldenen Käfig leben. Wir kommen fast nie hier raus.«
Bei ihrem nächsten Treffen legte sie einige neue Regeln fest. »Bitte nennen Sie mich nicht Prinzessin oder Großfürstin. Ich hasse Formalitäten. Nennen Sie mich einfach Anastasia, und ich nenne Sie Philip. Wie gefällt Ihnen das?« Sie verstummte kurz und fuhr dann fort. »Erzählen Sie mir mehr über Amerika. Meinen Sie, es würde mir dort gefallen?«, fragte sie ihn und legte eine Hand auf seinen Arm. Ihre Finger fühlten sich an wie Samt.
Er ließ sich von ihrer guten Stimmung immer mitreißen, doch an jenem Nachmittag spürte er, dass etwas anders war als sonst.
In Sankt Petersburg hatte die ganze Woche über Chaos geherrscht. Die Regierung befand sich in Aufruhr, und überall sah man Truppen. Als sich Sorg am folgenden Tag dem Wachposten näherte, fielen ihm die Soldaten auf, die sich auf dem gesamten Grundstück des Palastes aufhielten. Nachdem er seine Papiere vorgelegt hatte, durfte er passieren. Doch es begleitete ihn niemand, und so schlenderte Sorg allein zu dem Innenhof mit der Treppe, die zu den Privatgemächern der Zarenfamilie führte.
Ein älterer Palastoffizier mit einem Monokel hielt ihn auf. »Was tun Sie hier?«, fragte er.
»Ich werde erwartet.« Sorg zeigte ihm seinen Passierschein und den Brief.
Der Offizier spähte durch sein Monokel auf die Dokumente, als handelte es sich um altes Zeitungspapier. »Es gibt keinen Klavierunterricht mehr. Damit ist es jetzt vorbei. Haben Sie die Nachricht nicht gehört? Der Zar hat abgedankt. Er steht unter Hausarrest.«
So ist das also. Jetzt hatte er endlich Klarheit. Seit Tagen kursierten in Sankt Petersburg Gerüchte, der Zar würde möglicherweise abdanken. Sorg wurde urplötzlich von der Angst überwältigt, dies könnte seine letzte Gelegenheit sein, Anastasia zu sehen. »Wenn Sie ein Mitglied der Zarenfamilie rufen würden, werden sie sicherlich …«
Der Offizier schickte sich an, seinen Revolver zu ziehen. »Sind Sie taub?«
»Nein, bitte! Tun Sie ihm nichts!«
Mit einem braunen Lederbeutel in der Hand eilte Anastasia die Stufen hinunter. Sie trug ein einfaches Musselinkleid, eine Perlenkette, schwarze Schuhe und weiße Strümpfe. »Bitte, dieser Herr ist mein Lehrer, und ich muss unter vier Augen mit ihm sprechen«, sagte sie und warf dem Offizier einen flehentlichen Blick zu. »Ich danke Ihnen, dass Sie so gütig sind, es zu erlauben.«
Besänftigt durch ihre Schmeicheleien salutierte der Offizier. »Wie Sie wünschen, Großfürstin. Bleiben Sie aber bitte auf dem Hof, damit ich Sie sehen kann.«
»Ich wusste, dass Sie kommen, und ich habe schon auf Sie gewartet. Papa hat gehört, dass wir vielleicht in den Ural gebracht werden, daher wollte ich mich verabschieden.«
Als sie durch den hinteren Teil der Gärten spazierten, erblickte Sorg den Zaren. Er trug seinen alten Waffenrock und den passenden Hut dazu und schob einen Rollstuhl, in dem sein schwerkranker Sohn Alexej, der Zarewitsch, saß. »Warum in den Ural?«
»Sie meinen, dort sei es sicherer für uns, wer auch immer sie sein mögen. Mama macht sich große Sorgen, dass es so weit entfernt ist und wir dort keinen guten Arzt für Alexej haben werden. Er ist doch so krank.«
»Hat der Offizier nicht gesagt, wir sollen in der Nähe bleiben?«
Anastasia lächelte, als sie ihn zu einem kleinen Garten mit einem Steinbrunnen führte, wo der Offizier sie nicht sehen konnte. Sie schwenkte den Lederbeutel, den sie in der Hand hielt, pflückte eine Blume und erfreute sich an ihrem Duft. In diesem Augenblick fiel Sorg auf, dass sie noch nie sein leichtes Hinken kommentiert hatte.
»Sie meinen das alte Schielauge? Er weiß, dass ich mich nicht an die Vorschriften halte, aber er würde deshalb niemals Krawall machen. Ich wollte jedenfalls, dass wir miteinander sprechen.«
Als sie zu einer Bank kamen, bedeutete Anastasia ihm, sich zu setzen. »Ich werde Sie nicht wiedersehen können, und Ihre Freundschaft und die Gespräche mit Ihnen werden mir fehlen. Es tut mir leid, dass ich so eine entsetzliche Schülerin war, Philip.«
»Ich habe schon schlechtere kennengelernt, doch noch nie jemanden, der so unterhaltsam war.«
»Wirklich? Ihre Besuche haben immer dazu beigetragen, die Monotonie zu durchbrechen.« Sie kicherte. »Maria findet die Förmlichkeiten hier so schlimm, dass sie den Palast am liebsten in Brand setzen würde. Was werden Sie tun? Bleiben Sie in Russland?«
»Das kommt darauf an, ob sich die Lage verschlimmert.«
»Glauben Sie, es wird noch schlimmer?«
»Ich fürchte, ja. Wie behandeln die Wachen Ihre Familie?«
»Ganz gut. Warum?«
»Diese Regierung wird nicht immer an der Macht bleiben, Anastasia. Es könnten andere an die Macht gelangen, vielleicht wütendere Menschen, die Ihrem Vater schaden wollen.«
»Ich habe zufällig gehört, dass meine Mutter das zu meinem Vater gesagt hat. Papa meint, das wird nicht passieren, denn die russische Bevölkerung würde es niemals zulassen.« Sie musterte Sorg intensiv. »Papa hat immer auf Gott vertraut. Er sagt, dass er Russland niemals verlassen wird. Er liebt dieses Land. Ich verstehe nicht, warum irgendjemand meinen Vater hassen könnte. Er ist ein so freundlicher, liebenswerter Mann.«
»Nicht alle denken so. Einige glauben, dass er in der Vergangenheit furchtbares Unrecht begangen hat.«
»Ich bin nicht dumm, Philip. Ich habe Leute über diese Dinge sprechen hören, vor allem die Palastwachen. Sie haben gesagt, Papa habe zugelassen, dass sehr schlimme Dinge passieren. Einige Menschen nennen ihn ›den blutrünstigen Nikolaus‹. Wie denken Sie darüber?«
Diese Frage traf Sorg vollkommen unvorbereitet. Einerseits wollte er Anastasia beschützen, aber dennoch konnte er die bittere Wahrheit nicht verbergen. »Darf ich ehrlich sein?«
»Natürlich.«
Sorg erzählte ihr alles. Als er verstummte, herrschte Schweigen. Schockiert presste sich Anastasia eine Hand auf den Mund und kämpfte mit den Tränen. »Ich … ich nehme an, Sie müssen meinen Vater hassen für das, was er Ihrer Familie angetan hat.«
»Eine Zeit lang habe ich es getan.«
Anastasia dachte kurz nach. »Ich zweifle nicht an Ihren Worten. Dennoch liebe ich ihn. Ich weiß, dass er versucht, ein besserer Mensch zu sein. Das tun wir alle. Maria sagt, wir begehen alle Sünden, aber Kaiser können größere Sünden begehen als die meisten anderen. Und meine Mama sagt immer, wir sollen anderen gegenüber rücksichtsvoll sein. Wir sollen zuletzt an uns selbst denken und immer ein liebendes Herz zeigen. Aber sagen Sie mir: Hassen Sie mich auch?«
»Wie könnte ich? Es ist nicht Ihre Schuld. Einige Leute könnten jedoch Rache nehmen wollen für das Unrecht, das Ihr Vater ihrer Meinung nach begangen hat.«
»Wissen Sie, was Rasputin zu meinen Eltern gesagt hat, ehe er ermordet wurde?«
»Was?«
»Er hat uns prophezeit, dass kein Romanow überleben und das russische Volk uns töten wird. Ich weiß, dass einige behaupteten, Rasputin sei verrückt gewesen, und Papa würde ihnen bestimmt zustimmen, aber er war immer gut zu Alexej. Leider ist meine Mutter abergläubisch, und sie fürchtet sich vor seinen Prophezeiungen.«
Sorg befürchtete ebenfalls, dass sich die Worte des Mönchs bewahrheiten könnten, doch er versuchte, Anastasia zu trösten: »Vielleicht macht sich Ihre Mutter zu große Sorgen.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ich werde Ihre Gesellschaft vermissen, Philip«, vertraute sie ihm an. »Darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Maria vermutet, dass mehr hinter Ihnen stecken könnte, als ich glaube.«
»Ich verstehe nicht …«
»Was hat sie noch gleich gesagt? ›Stille Wasser sind tief.‹ Sie meinte, Sie könnten sogar ein Spion sein. Sie sind doch kein Spion, nicht wahr, Philip?«
Die scherzhafte Frage versetzte Sorg einen mächtigen Schreck. Macht sie nur Spaß, oder verdächtigt sie mich?, fragte er sich.
Ehe Sorg etwas erwidern konnte, griff Anastasia in den Lederbeutel auf ihrem Schoß und zog eine Kodak-Kamera heraus. Es war eine dieser kleinen Kameras im Taschenformat, die sich großer Beliebtheit erfreuten. »Mögen Sie Schiffe?«
»Warum?«
»Ach, nur so. Es gibt ein paar Dinge, die ich sehr gerne mag. Mich auf Schiffen herumzutreiben gehört auch dazu. Und ich mache gerne Fotos. Darf ich ein Foto von Ihnen machen? Ich hätte gerne ein Foto von Ihnen, damit ich eine Erinnerung an Sie habe. Ich werde es in mein Album kleben.«
»Gewiss.«
»Sie lächeln nicht! Lächeln Sie.«
»Es fällt mir schwer, da ich nun weiß, dass ich Sie niemals wiedersehen werde.«
»Dann stellen Sie sich einfach vor, dass wir uns wiedersehen.«
Sorg blickte verlegen in die Kamera. Er bemühte sich um ein Lächeln, doch es fiel ihm schwer.
»Jetzt machen Sie nicht so ein Gesicht, als wollte ich Sie erschießen, Philip! Das ist keine Hinrichtung.«
Nun konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Eigentlich wäre es mir noch lieber, wenn ich ein Bild von uns beiden hätte«, sagte sie mit strahlender Miene. »Hätten Sie etwas dagegen?«
»Nein.«
Anastasia rutschte ein Stück näher und lehnte sich an ihn, sodass er ihren Lavendelduft riechen konnte. Dann streckte sie einen Arm nach vorn, richtete die Kamera auf sie beide und drückte auf den Auslöser.
»Danke, Philip. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich weiß, dass ich eine Erinnerung an Sie habe.«
Der Offizier, der sich unbemerkt an die beiden herangeschlichen hatte, rückte sein Monokel zurecht, hüstelte verlegen und kam dann auf Sorg und die Zarentochter zu.
Anastasia sprang auf und steckte die Kamera in den ledernen Beutel zurück. »Ich muss gehen. Mama macht sich sonst Sorgen. Sie macht sich in letzter Zeit immer Sorgen. Papa meint, sie sei ein Nervenbündel. Darf ich etwas sehr Persönliches sagen?«
»Natürlich.«
»Ich weiß nicht, ob wir einander jemals wiedersehen, aber Sie sollen wissen, dass ich unsere Treffen immer ungeheuer genossen habe. Maria behauptet sogar, ich wäre ein wenig in Sie verliebt.« Anastasia errötete und reichte ihm die Hand.
Sorg verschlug es die Sprache, und sein Herz klopfte so stark, als wollte es zerspringen, als er ihre zarten Finger umfasste.
In diesem Augenblick sah sie aus wie das hilflose junge Mädchen, das sie in Wahrheit war und das versuchte, seinen Weg in der rauen Welt der Erwachsenen zu finden. Ihr haftete etwas unglaublich Naives und Rührendes an, eine fast kindliche Offenheit, die in ihm das starke Bedürfnis weckte, sie zu beschützen.
Und dann beugte Anastasia sich unvermittelt vor und küsste ihn auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Philip. Es tut mir leid, was mit Ihrem Vater passiert ist. Wirklich. Vergeben Sie meiner Familie bitte.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte an dem Offizier vorbei durch den Garten und die Steintreppe hinauf.
Sorg blickte ihr nach und legte eine Hand auf seine Wange, wo er die Berührung ihrer Lippen noch spürte.