101. KAPITEL
Zwischen Moskau und Jekaterinburg
»Wir sind fertig, Leonid. Wir haben ein Dutzend Bäume gefällt und die Gleise blockiert.«
Jakow sah auf seine Taschenuhr und klappte dann wieder den vergoldeten Deckel zu. Es war zwei Uhr in der Nacht. »Und die Wachposten?«
»Sie haben sich auf dem Hauptgleis in fünfhundert Metern Entfernung aufgestellt. Wenn ein Zug kommt, halten sie ihn mit Laternen an. Die Gleise sind blockiert, darum kann kein Zug weiterfahren.«
»Hoffentlich, sonst landen wir beide vor einem Erschießungskommando«, entgegnete Jakow mürrisch und warf einen Blick aus dem offenen Fenster. Es war eine milde sibirische Nacht, und es duftete nach Kiefern. Seine Männer hockten in kleinen Gruppen neben den Gleisen. Sie hatten Feuer angezündet, kochten Tee und aßen ihren Proviant – Zwieback und Pökelfleisch aus Dosen.
»Was ist mit den Spähern?«
»Ein halbes Dutzend Männer laufen in beiden Richtungen die Strecke ab. Wir versuchen, die nächste Stadt zu erreichen und dort ein Telegrafenamt zu finden. Wie geht es ihr?«
»Sie ist untröstlich. Der Arzt hat ihr etwas Äther gegeben, damit sie sich beruhigt. Er hat den Leichnam des Kindes in das nächste Abteil gelegt. Wir mussten ihn ihr förmlich entreißen. Sie klammerte sich an den Jungen, als hinge ihr Leben daran.«
»Willst du mit ihr sprechen?«
Jakow öffnete mit finsterer Miene die Tür. »Probieren kann ich es mal. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich der letzte Mensch bin, mit dem sie sprechen möchte.«
Jakow ging in das Abteil, vor dem ein Wachposten stand. Der tote Junge lag auf dem unteren Bett und war mit einem abgenutzten Baumwolltuch zugedeckt. Jakow kniete sich hin und hob eine Ecke des Tuches an.
Sergejs Augen waren geschlossen. Seine Lider waren beinahe durchsichtig.
Jakow hatte im Krieg schon so viele Tote gesehen, dass er gegen den Anblick fast immun war. Doch der Verlust eines Kindes ging ihm immer nahe. Sein Magen verkrampfte sich, als er sich vorstellte, Katerina würde dort liegen.
Ihm entfuhr ein lauter Seufzer, als er das Tuch sinken ließ. Dann stand Jakow auf, ging hinaus und schloss leise die Tür.
Er klopfte, ehe er eintrat.
Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Nina saß am Fenster und drückte ein Taschentuch auf ihren Mund. Sie weinte, und heftiges Schluchzen ließ ihren Körper erzittern.
Eine Petroleumlampe brannte. Im gelben Schimmer des Lichts sah Nina untröstlich aus. Sie sagte nichts, als Jakow das Abteil betrat, sondern starrte nur hinaus in die Dunkelheit.
Jakow räusperte sich. »Nina … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Geh mir aus den Augen.«
Er berührte sie am Arm. »Nein, bitte, hör mich an …«
»Lass mich in Ruhe!« Als sie aufstand, schossen ihr wieder Tränen in die Augen. »Ich will dich nicht sehen. Ich will nicht, dass du hier bist!«
Jakow setzte sich seufzend auf das Feldbett und faltete die Hände. »Nina, du musst mir zuhören. Es ist wichtig.«
»Nichts ist wichtig! Jetzt ist nichts mehr wichtig. Ich will, dass du gehst!«, stieß sie aufgebracht aus. Sie funkelte ihn böse an, wandte den Blick dann ab und drückte sich das Taschentuch auf den Mund.
Jakow schloss fest die Augen, öffnete sie wieder und berührte mit den gefalteten Händen seine Lippen. »Das werde ich gleich tun. Ich verspreche es dir. Sobald ich dir gesagt habe, was ich dir sagen muss.«
Nina kehrte ihm immer noch den Rücken zu und schwieg.
»Zuerst musst du etwas wissen«, begann Jakow. »Es geht nicht nur um Stanislaw. Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich Juri zur Strecke bringen muss – entweder er oder ich. Sein Leben oder meines und Katerinas. Das sind meine zwei Möglichkeiten.«
Nun drehte Nina sich mit feuchten Augen zu ihm um.
»Das ist die traurige Wahrheit. Verstehst du? Ich darf nicht zulassen, dass Juri sein Ziel erreicht. Meine Vorgesetzten lassen es nicht zu, dass ich versage.«
»Warum überrascht mich das nicht? Die Leute, mit denen du dich eingelassen hast, sind skrupellose Bestien.«
»Wenn Juri nicht zurückgekehrt wäre und sich nicht auf diese Sache eingelassen hätte, wärest du noch mit deinem Sohn in Moskau, und Sergej würde vielleicht noch leben!«
In Ninas Blick lag nichts als Verachtung. »Das sagst du«, fuhr sie ihn wütend an. »Der Mann, der vorhat, uns in ein Gefangenenlager zu bringen? Du tust mir leid, Leonid Jakow! Du und deinesgleichen, ihr tut mir leid!«
»Wie meinst du das?«
»Du und deine bolschewistischen Freunde haben Sergej getötet! Ihr habt nur Elend und Tod über das Land gebracht.«
Jakow hielt ihrem Blick stand, ohne etwas zu sagen.
»Sieh mich nicht so an«, fuhr Nina fort. »Ich habe keine Angst mehr, die Wahrheit zu sagen. Ich habe keine Angst mehr vor dir! Wie sollte ich auch, nachdem ich Sergej verloren habe? Wie soll ich jemals ohne ihn leben? Wie?«
Ihre Stimme war immer leiser geworden, jetzt drang nur noch ein klägliches, ersticktes Flüstern aus ihrem Mund. Ein erneutes, lautes Schluchzen drang aus ihrer Kehle, ihr gesamter Körper zitterte. Jakow befürchtete, sie würde jeden Moment zusammenbrechen.
Er legte die Arme um ihre Schultern und zog sie an sich. Nina ließ es geschehen. Sie hatte das Bedürfnis, sich an irgendjemandem festhalten zu müssen. Doch als sie sich wieder gefangen hatte, wich sie von ihm ab und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Und weißt du, was ich noch erbärmlicher finde? Dein Hass auf Juri! Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, sondern nur mit Neid.«
»Wie meinst du das?«
Jetzt platzte alles aus ihr heraus, was sich in ihr aufgestaut hatte. »Du hast ihn dein ganzes Leben lang um alles beneidet, aber es niemals zugegeben! Du warst neidisch, weil er sich Respekt verdient hat, weil er ein ehrenwerter Mann war, zu dem andere aufschauten, und weil er so einen Vater hatte. Er hatte alles, wonach du dich gesehnt hast, und sogar die Frau, die du nicht haben konntest! Das ist die wahre Quelle deines Hasses, nicht wahr, Leonid? Ist es nicht so? Du hast ihn einen Bruder genannt und ihn tief in deinem Inneren immer verachtet!«
Jakow schwieg.
Nina starrte ihn an. »Nun weiß ich, was es war, was ich damals, als wir uns vor all den Jahren zum ersten Mal sahen, gespürt und erst jetzt verstanden habe. Du warst immer empört und verärgert, weil du das Gefühl hattest, ungerecht behandelt zu werden, und das größtenteils von Leuten wie Juri und Angehörigen seiner Klasse!«
»Du weißt nicht, was du da redest«, flüsterte Jakow, der erblasst war, in heiserem Ton.
»Ach nein? Du hast Juri die Schuld für alles gegeben, weil du ihn vernichten wolltest!«
»Du wirst mich niemals davon überzeugen, dass er unschuldig ist«, erwiderte Jakow verbittert.
»Ich werde dir etwas sagen«, stieß Nina in feindseligem Ton aus. »Juri hat Stanislaw genauso wenig getötet wie du!«
Aus den Augenwinkeln sah Jakow, dass draußen plötzlich hektisches Treiben herrschte. Seine Männer rannten die Gleise hinauf und hinunter, riefen sich gegenseitig Befehle zu und schwenkten ihre Sturmlampen. Jakow glaubte, das Pfeifen einer Lokomotive zu hören.
Doch er ließ sich davon nicht ablenken. »Du weißt doch gar nicht, wovon du sprichst«, entgegnete er mit festerer Stimme als zuvor. »Du warst nicht dabei! Woher willst du es wissen? Ein Mann auf der Flucht ist zu allem fähig.«
»Aber dazu nicht! Nicht dazu, einen Jungen kaltblütig zu ermorden. Soll ich dir sagen, warum? Weil in ihren Adern dasselbe Blut floss!«
»Was soll das heißen?«
»Als Juris Vater starb, saßen wir bis zu seinem Ende bei ihm am Bett. Juri und ich haben seine Beichte gehört, sein trauriges kleines Geheimnis. Wir mussten ihm beide versprechen, dass wir es niemals jemandem verraten würden. Vor allem dir nicht, weil es das ehrenvolle Andenken an deine Mutter verletzen könnte. Aber jetzt sage ich es dir. Ich weiß, er würde es verstehen. Denn jemand muss es dir sagen. Jemand muss dich zur Vernunft bringen!«
»Wovon, zum Teufel, sprichst du?«
»Es ist an der Zeit, dass du es erfährst, Leonid. Es ist Zeit, dass du die ganze Wahrheit erfährst!«