75. KAPITEL
Moskau
Lydia hörte die quietschenden Reifen, als drei Lastwagen um die Ecke bogen. Ihr drehte sich der Magen um, und ihre Hand spannte sich um den Nagant-Revolver in ihrer Tasche.
Plötzlich wimmelte es überall von Soldaten. Sie stiegen aus den Lastwagen und liefen auf das Haus zu, in dem Andrew Nina und seinen Sohn vermutet hatte.
Lydia beschlich eine schreckliche Vorahnung.
Sie konnte nichts anderes tun, als zu verschwinden, wie Andrew es ihr geraten hatte, doch eine innere Stimme schrie sie an, dass sie bleiben, Andrew helfen musste.
Lydia überquerte die Straße, bog in den Weg hinter den Häusern ein, und folgte Andrew. Ein britisches Douglas-Motorrad mit zwei Rotarmisten, von denen einer in einem Beiwagen saß, raste auf sie zu.
Einer der Männer sprang aus dem Beiwagen, und als er sein Gewehr auf Lydia richtete, nahm sein Kamerad die Schutzbrille ab, hängte sie an den Lenker und stieg vom Motorrad.
»Und wo wollen Sie hin, gute Frau?«
»Ich … ich wohne hier«, sagte Lydia hastig. Der Mann mit dem Gewehr nahm sie ins Visier.
»Ach ja? Wir werden schnell herausfinden, ob das stimmt.« Der Fahrer hatte scharfe Gesichtszüge und grinste hinterhältig. Als er auf Lydia zuging, zog er einen Revolver aus der Tasche. »Hände hoch!«
»Ich … ich habe nichts Unrechtes getan«, protestierte Lydia.
Der Mann stieß sie gegen die Mauer. Dann tastete er sie ab und griff ihr dabei grob zwischen die Beine. Er durchsuchte ihre Taschen und fand den Revolver.
»So unschuldig sind Sie gar nicht, was?«, sagte er triumphierend. »Was machen Sie mit einer Waffe?«
Als Lydia ihm keine Antwort gab, versetzte er ihr einen Stoß in den Rücken. »Keine Sorge, wir bekommen unsere Antwort schon. Gehen Sie weiter, immer geradeaus. Kommissar Jakow möchte sicher gerne ein Wörtchen mit Ihnen reden.«
Jakow ging durch die Eingangstür und bewegte sich vorsichtig durch den Hausflur auf Ninas Wohnung zu. Er nickte den beiden Männern zu, die ihn begleiteten, worauf sie Ninas Wohnungstür eintraten. Mit den Waffen im Anschlag stürmten sie hinein und ließen ihre Blicke auf der Suche nach Andrew durch den Raum schweifen.
Nina stand neben dem Bett und drückte ihren Sohn an sich. Sergej weinte, seine Lippen bebten.
»Wo ist er?«, rief Jakow und fuchtelte drohend mit seiner Waffe herum.
Nina antwortete nicht.
Jakow ging auf sie zu. Der weinende Junge klammerte sich an seine Mutter. Verwirrung und Angst standen ihm ins Gesicht geschrieben.
»Mach es nicht schlimmer, als es ist. Und spiele keine Spielchen mit mir, Nina! Du steckst schon tief genug mit drin.«
Sie antwortete noch immer nicht. Einer der Soldaten schickte sich an, ihr einen Schlag mit dem Gewehrkolben zu verpassen, doch Jakow packte ihn am Arm und riss ihn herum. »Raus! Alle beide. Geht zum Hinterausgang. Sucht ihn!«
Die Männer verließen die Wohnung.
Jakow funkelte Nina wütend an.
»Du dummes Ding, was hast du nur getan? Das wird für euch beide ein böses Ende nehmen, Nina. Wo ist er? Sag es mir! Dann verspreche ich dir, dass ich für dich und deinen Sohn um Nachsicht bitte.«
Nina stand wie erstarrt da und brachte kein Wort heraus. Blankes Entsetzen stieg in ihr auf. Der schluchzende Junge klammerte sich noch fester an seine Mutter und warf Jakow ängstliche Blicke zu.
Jakow spürte, dass er nicht weiterkam. »Bleib hier, bis ich zurückkomme. Beweg dich nicht von der Stelle. Juri kann nicht entkommen. Das ganze Viertel ist umstellt.«
Als Jakow auf die Tür zuging, erwachte Nina aus ihrer Reglosigkeit. Sie streckte mit kummervoller Miene die Hand nach ihm aus und drückte mit dem anderen Arm den Jungen an sich. »Bitte, tu ihm nichts, Leonid, Sergej zuliebe. Ich bitte dich!«
»Dafür ist es jetzt zu spät.«