15. KAPITEL
Buckingham-Palast, London
In den frühen Morgenstunden des 28. Mai 1918 regnete es, und es war noch dunkel, als die uniformierten Garden gegen halb vier Uhr früh den dunkelgrünen Rolls-Royce durch die Tore des Buckingham-Palasts winkten. Die Wagenräder rollten über das nasse Kopfsteinpflaster. Der Chauffeur lenkte das Fahrzeug zur Rückseite des Palastes und stoppte auf einem Hof. Dann stieg er aus und öffnete die Beifahrertür, worauf ein kleiner Mann mit kränklicher Miene, hervorquellenden Augen und einer langen Nase in den Regen trat.
Er trug einen Zylinder, einen langen, eleganten schwarzen Mantel und einen Seidenschal. Am fernen Nachthimmel über Londons East End entdeckte er im Licht der Suchscheinwerfer zwei große deutsche Zeppeline. Sie waren silberfarben und sahen aus wie riesige Zigarren. Ohrenbetäubende Explosionen britischer Luftabwehr-Geschütze und das Heulen von Alarmsirenen zerrissen die nächtliche Stille.
Beinahe täglich tauchten die Zeppeline in der Dunkelheit auf, um ihre Bomben abzuwerfen, ehe sie über die Nordsee davonflogen.
Die Blitze von Explosionen erhellten die Nacht, als ein Bediensteter des Palastes, ein Wachoffizier in Zivilkleidung, auf den Mann zuging und ihn in eine feudale Eingangshalle führte. Der Offizier nahm dem Besucher Mantel und Schal ab. »Guten Morgen, Herr Botschafter. Wieder ein Bombenangriff, fürchte ich. Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Sir.«
Es gibt wahrlich keinen Grund zur Freude, dachte der Mann. »Ist der König schon wach?« Er sprach mit dem unverkennbaren Südstaatenakzent der Bewohner North Carolinas.
»Ja, Sir. Erlauben Sie mir, Sie zu ihm zu führen.«
Der Botschafter folgte dem Offizier durch unzählige Gänge, bis sie zu einer getäfelten Tür gelangten. Der Bedienstete trat zur Seite, schaltete eine elektrische Tischleuchte ein und zeigte auf einen Sessel in der Nähe der Tür. »Ich hoffe, Sie sitzen bequem, Sir. Ich glaube nicht, dass der König Sie lange warten lässt.«
Der Offizier zog sich zurück und schloss die Tür. Der Amerikaner ließ sich in den Sessel fallen und begann zu husten, um seine verstopften Bronchien von dem Schleim zu befreien, der sich immer bildete, da er bis zu zehn Zigarren am Tag rauchte. Er saß in einem Vorraum des königlichen Arbeitszimmers, das mit zeitgenössischen Möbeln und Ölgemälden ausgestattet war.
Auf einem Sockel stand eine Bronzebüste von Königin Victoria mit mürrischer Miene. Die Wände waren mit Gemälden längst verstorbener Könige und Königinnen geschmückt, deren Porträts die Erhabenheit dieses Ortes hervorhoben. Der Besucher hatte schon oft hier gewartet, aber noch nie so früh wie an diesem kalten, nassen Morgen im Mai.
Walter Hines Page, der amerikanische Botschafter am Hof von St. James, war von Angst erfüllt. Als er Schritte hörte, setzte er seine Drahtgestell-Brille auf, erhob sich und warf einen prüfenden Blick in einen der Wandspiegel.
Sein maßgeschneiderter dunkler Anzug mit Rockschößen und seine Weste saßen tadellos. Er roch leicht nach Seife, denn er hatte heiß geduscht, nachdem er von einem transatlantischen Telefonanruf geweckt worden war. Der Bericht, der ihm während des zehnminütigen Anrufs erstattet wurde, grub tiefe Sorgenfalten in sein Gesicht.
Er sah auf den schwarzen Aktenkoffer aus Leder, der mit einer Handschelle an seinem rechten Handgelenk befestigt war und den Grund seines Kummers enthielt. Page war von Natur aus rastlos, doch als er an den Inhalt des Aktenkoffers dachte, bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Er hob den Blick zu der Bronzebüste von Königin Victoria, die ihn unumwunden anstarrte. Ihr griesgrämig dreinblickendes Gesicht sah aus, als sei sie not amused über das, was der amerikanische Botschafter dem König mitzuteilen hatte.
Die schlechte Nachricht ist nicht meine Schuld, Ma’am. Ich bin nur der Überbringer.
In der Ferne waren wieder Explosionen zu hören, als die Tür geöffnet wurde und der Offizier zurückkehrte. »Der König möchte Sie sofort sehen, Herr Botschafter.«