38. KAPITEL
Ipatjew-Haus, Jekaterinburg
»Darf ich fragen, warum Sie meine Tochter sprechen wollen?«
Irgendwo im Haus war das monotone Ticken einer Uhr zu hören, während sich die Hände des ehemaligen Zaren unablässig bewegten – ein besorgter Vater, der seine Nervosität nicht verbergen konnte.
»Das erfahren Sie noch früh genug.« Auf dem Gang waren Schritte zu hören, dann klopfte es an der Tür. »Herein«, sagte Jakow.
Anastasia Romanowa betrat den Raum. Die hohen Wangenknochen und der entschlossene Mund verliehen ihr ein selbstbewusstes, eigenwilliges Aussehen.
»Ich bin Kommissar Jakow. Setz dich.«
»Ich bevorzuge es zu stehen.« Sie stellte sich neben ihren Vater und legte eine Hand auf seine Schulter. Er umfasste sie, als wollte er sie beruhigen. Doch das Verhalten der jungen Frau zeigte Jakow, dass sie keines Schutzes bedurfte. Er spürte ihren Widerstand und den kämpferischen Geist.
»Du bist also Anastasia?«
»Wer sollte ich sonst sein? Sie haben mich rufen lassen, nicht wahr?«
Jakow wurde wütend. »Werd bloß nicht unverschämt! Weißt du eigentlich, dass du von allen Gefangenen in diesem Haus die meisten Schwierigkeiten machst?«
Das Mädchen starrte ihn trotzig an, ohne dass sich in seinen Augen die geringste Angst zeigte. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, Kommissar. Es muss so sein, wie Sie sagen.«
»Es wäre gut, wenn du deine Zunge im Zaun halten würdest! Sonst bekommst du Probleme.« Er sah, dass sie etwas in der rechten Hand hielt. »Was hast du da?«
Sie zeigte ihm ein kleines Kästchen.
»Was ist das?«, fragte Jakow.
»Eine Reiseikone.«
Er nahm ihr das Kästchen ab und öffnete es. Es war die Reiseikone, die er vorhin in der Wohnung der Familie gesehen hatte. Oben und an der Seite waren kleine Klappen, und wenn man sie öffnete, sprang ein kleiner Altar heraus.
»Das ist der Heilige Michael. Einer meiner liebsten Heiligen«, sagte Anastasia.
Jakow klappte das Kästchen ungeduldig zu und warf es auf den Tisch. Dann nahm er das Blatt aus der Tasche, faltete es auseinander und legte es auf den Tisch. »Kennst du das? ›Seien Sie stark. Hilfe naht. Philip.‹ Die Wachen haben es in deiner Nähe im Garten gefunden. Du wolltest es gerade aufheben.«
Anastasia sah verwundert auf das Blatt. »Das … das bedeutet nicht, dass es mir gehört.«
»Spiel keine Spielchen mit mir. Du kennst jemanden, der Philip heißt. Wer ist es?«
»Kommissar, dürfte ich etwas sagen?«
Jakow musterte den ehemaligen Zaren spöttisch. »Halten Sie den Mund! Bürger Nikolaus Romanow, ich spreche nicht mit Ihnen.« Er wandte sich wieder der Tochter zu. »Ich warte auf eine Antwort.«
»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.«
Jakow ging um den Tisch herum und blieb vor Anastasia stehen. Er roch den leichten Duft von Lavendel. »Es könnte dich interessieren, dass der Mann, der das geschrieben hat, ein ausländischer Spion sein könnte, den wir jagen.«
Das Mädchen sah aus, als würde es sich wirklich wundern. »Ein Spion?«
»Du hast ganz richtig verstanden. Was bedeutet diese Mitteilung? Welche Hilfe naht? Wer ist Philip? Ein Freund der Familie?«
»Ich … ich habe nicht die geringste Ahnung!«
Jakow nahm das Blatt in die Hand und hielt es dem Mädchen vor die Augen. Allmählich verlor er die Geduld. »Es ist offenbar jemand, der versucht, euch zu helfen.«
»Ach ja?«
»Und wenn ich dir sage, dass wir diesen Philip gefunden haben? Dass wir ihn in der Nähe dieses Hauses verhaftet haben und er in diesem Augenblick verhört wird?«
Bildete Jakow es sich nur ein, oder hatte Anastasia eine Reaktion gezeigt? Er glaubte, ein Flackern in ihren Augen erkannt zu haben, doch sie hatte sich schon wieder unter Kontrolle.
»Warum sollte mich das interessieren?«, fragte sie. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich nicht weiß, von wem Sie sprechen. Wenn Sie ihn, wie Sie gesagt haben, gefunden haben, müssten Sie wissen, wer er ist.«
Jakow schlug frustriert mit der Faust auf den Tisch. »Jetzt hör mir mal gut zu. Entweder du sagst die Wahrheit, oder euch werden die Privilegien entzogen! Die täglichen Spaziergänge, die Essenrationen – alles wird euch genommen!«
»Sehen Sie sich um, Kommissar«, erwiderte sie halsstarrig. »Sieht es so aus, als könnte man uns viel wegnehmen? Reicht es nicht, dass Sie uns schikanieren?«
»Ich frage dich noch einmal: Wer ist dieser Philip?«, beharrte Jakow.
»Kommissar, könnten wir unter vier Augen miteinander sprechen. Von Mann zu Mann?«, mischte ihr Vater sich ein.
»Nein, Vater, du musst nicht …«, protestierte Anastasia.
»Sei still, Anastasia. Ich möchte mit dem Kommissar allein sprechen, wenn er es erlaubt.«
Jakow dachte darüber nach und nickte.
»Bitte geh, Anastasia«, sagte Nikolaus Romanow zu seiner Tochter.
»Aber Vater …«
»Sofort!«, befahl er ihr.
Jakow wies mit dem Kopf zur Tür. »Geh zu den anderen. Wenn ich dich noch einmal brauche, rufe ich dich.«
Mit trotzig funkelnden Augen nahm Anastasia die Ikone des Heiligen Michael vom Tisch. »Wagen Sie es nicht, meinem Vater wehzutun!« Mit diesen Worten lief sie hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
»Verzeihen Sie meiner Tochter. Die jungen Leute haben mitunter keine Angst.«
Jakow sah, dass Nikolaus Romanows rechte Hand unkontrolliert zuckte. »Darf ich das Blatt sehen, über das Sie gesprochen haben?«, fragte er.
Jakow reichte es ihm.
Nikolaus Romanow las den Zettel durch und hob den Kopf. »Seitdem wir gefangen gehalten werden, haben wir Gerüchte gehört, die unsere Befreiung versprechen.«
»Von wem?«
»Ich weiß es nicht. Es wurden eine Zeit lang viele Zettel über den Zaun geworfen, doch in letzter Zeit kaum noch. Ich bin sicher, einige sollen uns aufmuntern, doch andere hatten nur das Ziel, uns zu verspotten. Sie haben unserer Familie falsche Hoffnungen gemacht, vor allem den Kindern.«
»Ihre Meinung?«
»Diese Mitteilung ist zweifellos für mich bestimmt, aber ich habe keine Ahnung, von wem sie stammt. Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»Ihr Wort zählt für mich nicht«, fuhr Jakow ihn an. »Ich glaube, Ihre Tochter lügt. Ich glaube, sie ist eine gute Schauspielerin, die mehr weiß, als sie zugibt. Und ich gebe Ihnen einen guten Rat: Sobald Sie weitere Botschaften erhalten oder irgendjemand versucht, auf andere Weise Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, informieren Sie umgehend die Wachen!«
»Ich kenne meine Tochter, Kommissar. Ich glaube, sie sagt die Wahrheit. Es tut mir leid, wenn Anastasia Sie verärgert hat. Sie ist im Grunde noch ein Kind. Das verstehen Sie sicherlich, nicht wahr?«
»Schade, dass es Ihnen nicht leidtat, als Sie auf Ihrem Volk herumgetrampelt sind«, erwiderte Jakow in gehässigem Ton. »Als Sie und Ihresgleichen den Menschen mit Ihrer Armee und Ihrer Geheimpolizei den Lebensmut geraubt haben.«
Nikolaus Romanow schwieg. Sein Gesicht war aschfahl.
Jakow beugte sich vor und fuhr hasserfüllt fort. »Ich hatte eine Frau, doch sie wurde von Ihren Soldaten wie ein Hund niedergeschossen. Einst hatte ich eine Schwester und eine Mutter. Ihr Leben bestand nur aus Armut und Elend, während Sie sie mit Ihrem Reichtum verspottet haben. Sie haben sie und unzählige andere durch Ihre dumme Arroganz zum Tode verurteilt!«
Auf Nikolaus Romanows Stirn schimmerten Schweißperlen. »Es … es tut mir wirklich leid!«
»Es tut Ihnen leid? Ist das alles, was Sie dazu sagen können? Ihre Tochter hat gefragt, ob es nicht ausreicht, dass ihre Familie schikaniert wird. Nein, es reicht nicht aus! Es wird niemals ausreichen! Ich werde nicht ruhen, bis Sie und Ihresgleichen niemals wieder eine Gefahr für Russland darstellen. Haben Sie mich verstanden?« Jakow hob die Faust und schickte sich an, Nikolaus einen Schlag zu verpassen, doch in letzter Sekunde hielt er sich zurück.
Nikolaus Romanow starrte ihn mit leerem Blick und zitternden Lippen an. »Ich … ich meinte es ernst. Es tut mir wirklich leid!«
Jakow schlug zu. Als der kräftige Hieb Nikolaus Romanow traf, prallte er rücklings gegen den Tisch. Er stand mühsam wieder auf und presste eine Hand auf die Wange.
Jakow griff nach seiner Waffe im Gürtelholster und sagte wütend: »Gehen Sie zu Ihrer Tochter. Raus hier, ehe ich mich vergesse und Ihnen eine Kugel in den Kopf jage!«