66. KAPITEL

Kreml, Moskau

Ein heftiger Sommerregen prasselte an diesem späten Nachmittag auf das Kopfsteinpflaster im Kreml. Als die Uhr in dem Wachturm aus dem zwölften Jahrhundert fünf Uhr schlug, hielt der dunkelgrüne Lastwagen, in dem Leonid Jakow saß, auf dem Hof vor dem Gebäude der Rüstkammer an.

Jakow stieg aus und trat in den Regen. Sein Magen verkrampfte sich. Als er die unerwartete Aufforderung, unverzüglich in den Kreml zu kommen, per Telegramm in Jekaterinburg erhalten hatte, war ihm die Frage durch den Kopf geschossen, ob er in Schwierigkeiten steckte.

Ein junger Soldat erwartete ihn auf dem Hof. »Hier entlang, Kommissar.«

Als die Tür hinter ihm geschlossen wurde, sah sich Jakow in dem prachtvollen Raum mit der hohen Decke um. Die großen Fenster gewährten den Blick auf den Innenhof des Kremls, und die Luft war erfüllt von dem würzigen Tabakduft einer Pfeife.

Wladimir Iljitsch Lenin, ein kleiner Mann mit hoher Stirn und Spitzbart, legte seine Pfeife aus der Hand. Er ging um den Schreibtisch herum und drückte Jakow mit strahlender Miene die Hand. »Kommissar Jakow, ich freue mich, Sie zu sehen! Setzen Sie sich doch.«

Er zeigte mit seiner fleischigen Hand auf einen Stuhl. Jakow nahm Platz. Lenin strotzte vor Energie. Auf einer Kommode hinter ihm standen ein polierter Samowar und ein Korb mit frischen Früchten, saftige Pfirsiche und Pflaumen, süße Orangen und Aprikosen von der Krim. Solche Produkte hatte Jakow nicht mehr gesehen, seit in Moskau Lebensmittelmarken ausgegeben wurden.

Leo Trotzki trat ein und musterte Jakow mit mürrischem Blick. Er zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Brusttasche, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie mit einem Streichholz an. Dann inhalierte er den Rauch und blies ihn zur Decke.

Lenin schwenkte ein Telegramm. »Ich habe mit großem Interesse Ihr Telegramm gelesen, in dem Sie über die strenge Bewachung der Romanows berichten. Ganz besonders interessiert mich auch dieser feindliche Spion, den Kasan in Jekaterinburg gejagt hat. Dieser Mann, der das ›Phantom‹ genannt wird.«

»Ist das der Grund, warum Sie mich in den Kreml gerufen haben?«

»Unter anderem. Geben Sie mir die Akte, Trotzki«, sagte Lenin und schnippte mit den Fingern.

Trotzki nahm eine Akte vom Schreibtisch und reichte sie Lenin. Dieser warf das Telegramm auf den Tisch und schlug mit einem gequälten Lächeln die Akte auf.

»Ich habe mich noch einmal mit Ihrem Lebenslauf vertraut gemacht. Sie sind ein loyales Mitglied der Partei, genau der Mann, den wir für die ruhmreiche Zukunft brauchen, die wir in Russland anstreben.«

»Ich tue nur meine Pflicht, Genosse Lenin.«

Lenins Lächeln erlosch, als er die Akte auf seinen Schreibtisch warf und die Fäuste in die Hüften stemmte. »Ich befürchte aber, diese Zukunft könnte stark gefährdet sein.«

»Ich verstehe nicht …«

»Britische Truppen sind im Norden unseres Landes gelandet und haben die Absicht, unsere Revolution zu vereiteln. Wir haben von unserem Geheimdienst erfahren, dass die Amerikaner im Begriff sind, im Osten einzumarschieren. Sie haben bereits viele ihrer besten Spione in unser Land eingeschleust. Sie wollen uns zu Fall bringen, indem sie unsere Häfen besetzen und so die Versorgung blockieren. Und dann gab es noch einen interessanten Zwischenfall. Sagen Sie es ihm, Leo!«

»Gestern ist um kurz vor acht Uhr ein in Russland gebauter Bomber des Typs Ilja Muromez auf einem Feld hinter unseren Linien abgestürzt, ungefähr sechzig Kilometer von Sankt Petersburg entfernt. Der Kommandant der Luftstreitkräfte traf eine Stunde später am Unfallort ein. Es sieht so aus, als wäre das Flugzeug abgeschossen worden. Und jetzt wird es richtig interessant, Jakow.«

»Inwiefern?«

Trotzki blies den Zigarettenrauch aus. »Von den drei Besatzungsmitgliedern hat nur ein junger Mechaniker überlebt. Er hat schlimme Brandverletzungen erlitten, doch er war ansprechbar und konnte verhört werden. Wir haben aus ihm herausbekommen, dass das Flugzeug einen Mann und eine Frau irgendwo außerhalb von Sankt Petersburg absetzen sollte. Vor der Landung zogen sie beide einfache Kleidung an, wie sie russische Bauern tragen.«

»Wissen wir noch mehr über sie?«

»Darauf kommen wir gleich zu sprechen«, erwiderte Trotzki und grinste spöttisch. »Auf jeden Fall gibt es keine Spur von ihren Leichen. Sie sind verschwunden.« Er trat ans Fenster. »Es wäre einfach für sie unterzutauchen. Das halbe Land ist durch den Krieg in Aufruhr. Es scheint sich aber um ein höchst interessantes Paar zu handeln. Wissen Sie, warum?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Einer unserer Spione in London hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die Weißen und ihre Unterstützer vorhaben, Agenten in unser Land zu schicken, um die Romanows zu retten. Wir glauben, dass dieses Flugzeug aus demselben Grund bei uns landen wollte.«

»Aber es ist doch ein russisches Flugzeug«, entgegnete Jakow verwirrt.

»Richtig. Konstruiert und gebaut von Igor Sikorski, einem Vaterlandsverräter und Rebellen, der aus seiner Heimat geflohen ist und einige unserer Flugzeuge mitgenommen hat. Anhand der Fahrgestellnummer des abgestürzten Flugzeuges wissen wir, dass es sich um eine dieser Maschinen handelt.«

»Und die Besatzung?«

»Alles Russen, laut Aussage des Mechanikers. Uns irritiert allerdings, dass er behauptet, sie hätten England zwanzig Stunden vor dem Absturz verlassen. Kurz vor der geplanten Landung wurden sie von einem deutschen Jagdbomber angegriffen und stürzten ab.«

»Wo wollten sie hin?«

Trotzki drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Das wusste der Mechaniker nicht. Aber der Plan ist clever, das muss man sagen – ein russisches Flugzeug zu benutzen, um Agenten auf unserem Boden abzusetzen …« Er verstummte kurz. »Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, Zufällen zu misstrauen. Und es gibt, abgesehen von der Landung dieser Alliierten, weitere Hinweise, dass sie tatsächlich vorhaben, unsere Revolution zu gefährden und die Romanows zu retten.«

Lenin starrte Jakow mit fanatisch funkelnden Augen an. »Ich will, dass Sie diese Verschwörer jagen! Alle feindlichen Spione müssen hingerichtet werden.« Er reichte Jakow die Akte. »Ab sofort sind Sie für diesen Fall zuständig. Finden Sie alles heraus, was mit dem Absturz des Flugzeugs und den Plänen der Alliierten zu tun hat. Besonders wichtig ist es, diesen Mann zu schnappen.«

Trotzki verzog spöttisch den Mund. »Wir glauben, es handelt sich möglicherweise um einen alten Freund von Ihnen. Hauptmann Juri Andrew.«

Alle Farbe wich aus Jakows Gesicht.

»Den Informationen von Inspektor Kasan zufolge soll Andrew auf einem Schiff, das nach England fuhr, aus Sankt Petersburg geflohen sein. Seine Beschreibung passt zu dem Passagier, der an Bord gesehen wurde. Wer die Frau ist, die ihn begleitet, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass sie Russisch spricht.«

Jakow erstarrte, während Lenin fortfuhr.

»Diese Rettung darf nicht stattfinden. Das kann ich nicht zulassen! In Kürze wird das Schicksal der Romanows besiegelt. Wir müssen sicherstellen, dass sie niemals wieder über Russland herrschen werden.«

»Sie wissen genau, dass es sich um Andrew handelt?«, fragte Jakow leise.

»Ein orthodoxer Priester, der von einer unserer Zellen in London rekrutiert wurde, hat ihn als einen der Verschwörer identifiziert«, sagte Trotzki.

Lenin klopfte Jakow auf die Schulter. »Sie kennen Andrew besser als jeder andere. Dieses Wissen können wir zu unserem Vorteil nutzen. Inspektor Kasan wird Sie in Jekaterinburg unterstützen. Sie haben in diesem Fall vollkommen freie Hand, aber Kasan ist Ihr Stellvertreter.«

»Warum er?«

»Der Inspektor kann Ihnen von Nutzen sein, und vier Augen sehen mehr als zwei. Den Brief«, sagte er an Trotzki gewandt.

Dieser nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und wedelte mit gewichtiger Miene damit vor Jakow herum. »Für den Fall, dass irgendjemand Ihre Autorität anzweifelt, haben Genosse Lenin und ich ein Schreiben verfasst, das Ihnen unumschränkte Vollmacht gewährt. Werfen Sie mal einen Blick darauf.«

Jakow nahm den Brief entgegen und begann zu lesen.

Kommissar Leonid Jakow von der Tscheka handelt in einer Mission von besonderer Bedeutung. Wenn er Unterstützung von einer militärischen oder zivilen Stelle verlangt, muss ihm diese bedingungslos gewährt werden. Jeder, der diesen Befehl nicht befolgt, wird erschossen.

Unter dem Text erkannte Jakow die Unterschriften von Wladimir Lenin und Leo Trotzki.

Lenin zeigte auf die Wanduhr. Es war halb sechs. »Seit dem Absturz der Maschine sind fast sechsunddreißig Stunden vergangen. Wenn ein fähiger Mann wie Andrew in die Sache verwickelt ist, nehme ich an, dass er schnell weitergekommen ist. Mittlerweile kann er überall sein. In seiner Akte steht, dass seine Frau und sein Sohn in Moskau wohnen.«

»Ja.«

»Nach Andrews Flucht haben Sie ihn in Sankt Petersburg aufgespürt. Es kam zu einer Konfrontation, und es fielen Schüsse, doch er entkam.«

»Ich habe einen Fehler gemacht. Es kommt nicht wieder vor.«

Lenin steckte die Daumen in die Taschen seiner Weste und funkelte Jakow misstrauisch an. In diesem Augenblick wurde die Unerbittlichkeit des Revolutionsführers spürbar. »Davon bin ich überzeugt. Inspektor Kasan wird sicherlich dafür sorgen.«

Er trat ans Fenster und blickte hinaus. »Ihre Frau war ein mutiges und treues Mitglied unserer Partei. Eine wahre Märtyrerin. In Gedenken an sie gebe ich Ihnen eine zweite Chance.«

Jakow starrte in die Ferne, ohne etwas zu erwidern.

Lenin drehte sich wieder zu ihm um. »Sie haben mehr als einen Fehler gemacht, aber das habe ich auch. Ich war dumm und habe mich dazu hinreißen lassen, Andrew zu begnadigen. Er hat uns beide zum Narren gehalten und ist entkommen. Diesmal gibt es keine Gnade, verstanden? Diesmal töten Sie ihn.«