CLAIRE
Jonathan und Claire folgen dem Krankenwagen in Jonathans Truck. „Er hat geatmet, oder? Er hat doch geatmet?“, fragt Claire nervös.
„Ja, das hat er“, versucht Jonathan seine Frau und sich selbst zu überzeugen. „Meine Güte, was ist da oben bloß passiert?“, will er wissen, doch Claire schüttelt nur den Kopf. Sie hat keine Ahnung, warum Joshua in der Badewanne lag, was in Brynns Kopf vorgegangen ist. Will es sich auch gar nicht vorstellen. Wenn Claire bei klarem Verstand gewesen wäre, hätte sie Joshua niemals mit Brynn Glenn nach oben geschickt. Sie kannte das Mädchen doch gar nicht und hatte eben erst erfahren, dass ihre Schwester nicht die war, als die sie sich ausgegeben hatte. Aber es war so viel los gewesen – Reanne, die außer sich gewesen war und verrückte Anschuldigungen von sich gegeben hatte, das Foto von Joshua und Charm. Joshua hatte Angst gehabt, und sie hatte ihn doch nur schützen, ihn an einen Ort bringen wollen, an dem er sicher und gut aufgehoben war. Wie hatten sie nicht wissen können, wer Allison Glenn wirklich war? Waren sie so sehr damit beschäftigt gewesen, die neuen Eltern von Joshua zu sein, dass sie blind gegenüber allem waren, was in ihrer eigenen Stadt vor sich ging? Sie hatte versucht, alles richtig zu machen, eine gute Mutter zu sein, aber war das genug? Hatte sie versagt?
Jonathan kann dem Krankenwagen nicht folgen, und als sie am Krankenhaus ankommen, ist Joshua schon fortgebracht worden. Jonathan und Claire sitzen im Warteraum, halten einander fest, weinen. Claire schafft es irgendwie, ihre Schwester anzurufen, die verspricht, ihre Mutter zu informieren. Sie werden so schnell wie möglich nach Linden Falls kommen.
Charm kommt kurz nach ihnen herein, linst um die Ecke des Wartezimmers, zögert einzutreten.
„Ich habe mich noch um Truman gekümmert und den Laden für dich abgeschlossen“, sagt sie. „Außerdem bin ich endlich meine Mutter losgeworden. Sie wird dich nicht noch mal belästigen.“
Claire schaut sich um. „Wo ist Allison?“
Charms Augen sind blutunterlaufen, und ihre Nase ist rot vom Weinen. „Sie sucht ihre Schwester. Es tut mir leid … es tut mir so leid.“ Sie schluchzt und verliert vollends die Fassung.
„Ich habe die Polizei angerufen“, sagt Jonathan. In seiner Stimme liegt ein wütender Unterton. „Es gibt so vieles, das geklärt werden muss.“ Frustriert fährt er sich mit der Hand durchs Haar. „Was ist mit Allisons Schwester? Wo ist sie?“
„Ich weiß es nicht“, erwidert Charm hilflos. Ihr Kleid ist immer noch nass und zerknittert, ihr Gesicht blass vor Sorge. Auf Claire wirkt sie genauso verstört, wie sie selbst und Jonathan es sind, und in diesem Moment weiß Claire, dass Charm dem kleinen Joshua niemals absichtlich wehtun würde. Trotzdem ist sie auch ein wenig zornig auf Charm, weil die sie angelogen und getäuscht hat.
„Bitte, geh jetzt“, sagt Claire. „Es tut mir leid. Wir können dich hier im Moment nicht ertragen.“ Charm nickt schweigend und wendet sich zum Gehen.
Sie scheinen Jahre auf eine Nachricht über Joshuas Zustand zu warten. Als die Ärztin endlich ins Wartezimmer kommt, scheint eine kalte Klaue nach Claires Herz zu greifen.
„Joshua wird wieder völlig gesund“, erklärt sie lächelnd. „Er ist wach und atmet von allein. Würden Sie jetzt gern zu ihm gehen?“
„Natürlich.“ Claire fängt wieder an zu weinen, dieses Mal aus Erleichterung. Die Ärztin führt Jonathan und Claire in das Zimmer, in dem Joshua liegt. Er ist an einen Tropf angeschlossen, und seine Augen sind nur halb geöffnet, aber als er seine Eltern sieht, huscht ein Lächeln über sein fahles Gesicht.
„Hey, da ist unser dreischwänziger Dachs“, sagt Jonathan leise.
„Nein, ich bin Joshua Kelby“, antwortet Joshua schwach.
„Ja, das bist du“, sagt Claire bestimmt. Du bist der Wunsch, den wir jeden Morgen aufs Neue haben, und das Gebet, das wir jeden Abend vor dem Schlafengehen sprechen. Glücklich und erleichtert greift sie nach seiner kleinen Hand.