CLAIRE

Claire schaut Allison hinterher, als sie nach dem Bewerbungsgespräch die Straße hinuntergeht, und ist überrascht, wie erleichtert und gelöst die junge Frau wirkt. Als sie den Laden betreten hat, wirkte Allison bedrückt, so als laste ihre Geschichte schwer auf ihren Schultern, obwohl sie versucht hat, aufrecht zu stehen und selbstbewusst zu wirken. Allison Glenn scheint trotz ihrer Vergangenheit ein nettes Mädchen zu sein. Claire glaubt fest daran, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Wenn ihr und Jonathan nur eine einzige Möglichkeit gegeben worden wäre, Eltern zu werden, würden sie ihr Leben jetzt nicht mit Joshua teilen.

Es war eine bitterkalte Januarnacht sieben Jahre zuvor, nur eine Woche nachdem sie ihre Lizenz als Pflegeeltern erhalten hatten, als der Anruf von Dana bei Jonathan und Claire einging. Ein drei Jahre altes Mädchen war aufgegriffen worden, als es um Mitternacht allein die Drake Street entlangging. Die Kleine trug weder Mütze noch Mantel, konnte der Gruppe Collegejungen, die sie außerhalb der Bar in der Nähe ihres Wohnheims fanden, nicht sagen, zu wem sie gehörte. Die Studenten riefen die Polizei, das Jugendamt wurde eingeschaltet, und so kam es zu Danas Anruf. „Wir sind sofort da“, hatte Jonathan erklärt. Er brauchte Claire nicht zu fragen, ob sie ein Kind aufnehmen wollte. Er wusste es. Es war Claires sehnlichster Wunsch, ein Kind zu haben – egal, ob Junge oder Mädchen, wie alt, wo es herkam, welche Hautfarbe es hatte. Das war alles völlig nebensächlich. Und Claire wusste, dass Jonathan einfach nur ein kleines, klopfendes Herz neben seinem spüren und dem Kind wieder und wieder sagen wollte, dass alles gut werden würde.

Eine ganze Zeit lang war auch alles gut gewesen, doch dann wendete sich plötzlich das Blatt. Ellas Mutter Nicki, eine zwanzigjährige Teilzeitstudentin, hatte in der Nacht, in der Ella entwischt war, mit ein paar Freunden in ihrer Wohnung Alkohol getrunken und Drogen genommen. Nicki war nicht einmal aufgefallen, dass ihr Kind plötzlich verschwunden war, bis sie zwölf Stunden später wieder so weit ausgenüchtert war, um zu bemerken, dass Ella nicht mehr in der Wohnung war.

An dem Morgen gingen Claire und Jonathan in das Krankenhaus, in dem Ella auf Anzeichen von Erfrierungen oder Missbrauch untersucht wurde. Dana erklärte Ella, dass sie nun eine Weile mit zu den Kelbys nach Hause gehen würde. Ella sah sie nur verwirrt an. „Wo ist meine Mom?“, fragte sie wieder und wieder. „Ich will meine Mom.“ Sie machte keine Szene, als sie ins Auto gesetzt wurde, aber sie schaute aus dem Fenster und drehte sich nach jedem Fußgänger, an dem sie vorbeikamen, um, als wäre sie auf der Suche nach jemandem. Nachdem sie auf die Einfahrt am Haus der Kelbys eingebogen waren, schien Ella zu verstehen, dass sie so bald nicht nach Hause kommen würde. Ihre müden Augen füllten sich mit Tränen, und sie fing an, so sehr zu zittern und zu frösteln, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.

„Alles ist gut, Ella“, beruhigte Claire die Kleine, wickelte sie in eine dicke Decke und setzte sie aufs Sofa. „Hast du Hunger?“

Ella sagte nichts, ihre Augen waren auf den Welpen der Fremden fixiert, der ihre Füße beschnupperte.

„Das ist Truman“, erklärte Jonathan ihr. „Er ist eine Bulldogge. Wir haben ihn erst letzte Woche bekommen.“

„Beißt er mich?“, fragte sie, und ihre dünne Stimme klang erstaunlich rau.

„Nein“, versicherte Claire ihr. „Er ist ein guter Hund. Willst du ihn mal streicheln?“

Ella presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen, als würde sie scharf nachdenken. Dann blickte sie auf, schaute Claire an und atmete tief durch, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen.

„Er beißt nicht“, versprach Jonathan und hob Truman auf das Kissen neben ihr. „Er sabbert dich vielleicht ein wenig an, aber er beißt nicht.“

Zögerlich streckte Ella eine pummelige kleine Hand aus und fuhr damit schnell über Trumans Kopf. Sie kicherte. Dann machte sie es noch ein paar Mal – ein schnelles Streicheln, gefolgt von einem Lachen –, bis Jonathan und Claire in ihr Lachen einfielen. Truman schaute sie alle abwechselnd mit einem Ausdruck im Gesicht an, der sie wissen ließ, dass er sie lediglich tolerierte. Zwanzig Minuten später war Ella eingeschlafen, das Gesicht an Trumans Hals gekuschelt. Jonathan und Claire saßen einfach nur da, beobachteten sie und schlossen sie augenblicklich ins Herz.

Es dauerte nicht lange, bis Claire die kleine Ella als ihre Tochter betrachtete. Sie wusste, dass diese Gedanken gefährlich waren. Wusste, dass sie kein Recht hatte, Ella ihr Kind zu nennen. Aber sie liebte das kleine Mädchen. Liebte es, als wenn sie es selbst neun Monate lang ausgetragen hätte. Ella war das schönste Kind, das sie je gesehen hatte. Diese großen braunen Augen, die in der einen Minute schalkhaft aufblitzen und sich in der nächsten mit Tränen füllen konnten. Sie nannte Jonathan von Anfang an „Dad“, aber trotzdem schien sie ihre Mutter fürchterlich zu vermissen.

Es war offensichtlich, dass Nicki ihre Tochter zurückhaben wollte, aber sie schaffte es irgendwie nicht, das auf die Reihe zu bekommen. Sie war ihrer Sachbearbeiterin gegenüber trotzig und aufsässig, tauchte zu spät zu den vereinbarten Besuchsterminen und prozessbegleitenden Treffen auf. Immer wieder aufs Neue vermasselte sie es, und sosehr Claire es auch versuchte, sie konnte es nicht verstehen. Wie, wie konnte jemand nicht Himmel und Erde in Bewegung setzen, um mit diesem bezaubernden Wesen zusammen zu sein? Während der unter Aufsicht stattfindenden Besuchstermine hockte Nicki sich immer zu Ella auf den Boden und schien sich trotz allem nahtlos in das Leben ihrer Tochter zu integrieren. Nicki mit Ella zusammen zu sehen erfüllte Claire mit Eifersucht, auch wenn sie sich schämte, es zuzugeben. Sie schauten einander an, lächelten und berührten sich, als wären sie schon immer zusammen gewesen. Claire sah, wie Nicki ihre Hand zärtlich an Ellas pausbäckige Wange legte, und stellte sich vor, dass Nicki sie einst genauso berührt hatte, als Ella noch in ihrem Bauch war. Es war so eine intime, beschützende Geste, dass Claire sich wegdrehen musste, weil es wehtat, sie mit anzusehen.

Jonathan und Claire hatten Ella für etwas mehr als ein Jahr bei sich. Jonathan dachte nicht, dass Nicki es schaffen würde, die notwendigen Veränderungen in ihrem Leben durchzusetzen, um Ella wieder zu sich holen zu können, doch es gelang ihr irgendwie. Claire erinnerte sich immer noch an den Ausdruck purer Ungläubigkeit auf seinem Gesicht, als sie die Kleine in jenem Februar endgültig wieder abgeben mussten. Es war ein eiskalter Nachmittag, ähnlich der Nacht, in der Ella zu ihnen gekommen war, aber nun war sie mehr als angemessen gekleidet. Sie trug einen dicken fliederfarbenen Parka mit dazu passender Mütze und Handschuhen, die sie ihr gekauft hatten. Mit ihren leuchtenden braunen Augen schaute Ella sie aufgeregt an. „Ich werde wirklich meine Mommy treffen?“, fragte sie wieder und wieder.

„Ja, Bella Ella“, antwortete Claire schweren Herzens und benutzte den Kosenamen, den sie ihr gegeben hatten. Wunderschöne Ella. „Aber dieses Mal bleibst du bei deiner Mommy …“ Sie brachte es nicht über sich, „für immer“ zu sagen. Wer weiß, dachte Claire, vielleicht macht sie einen weiteren Fehler und Ella kehrt zu uns zurück. Obwohl sie das nicht ernsthaft glaubte. Nicki wollte Ella wirklich zurück. „Für eine sehr lange Zeit“, beendete sie also den Satz. Ella dachte lange und sorgfältig darüber nach, bevor sie etwas erwiderte.

„Dad kommt mit“, sagte sie, und es war keine Frage. Ein leises Schluchzen entrang sich Jonathans Kehle, und Claire schluckte ihre Tränen hinunter.

„Nein, Dad kommt nicht mit“, gab Claire zurück. Sie versuchte, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen. Es war das Mindeste, was sie tun konnte. Sie wollte Ella nicht mit ihrer Trauer belasten. „Du wirst bei deiner Mommy leben, Ella“, erklärte Claire zum vielleicht hundertsten Mal. „Ist das nicht aufregend?“

„Jaaaa, das ist es“, stimmte Ella zu. „Aber Dad kommt mit – und du auch, Mama Claire“, beharrte sie.

„Nein, Ella. Dieses Mal nicht.“ Claire hörte Jonathan neben sich auf dem Fahrersitz schniefen und legte ihm eine Hand aufs Knie. Als sie an Danas Büro ankamen, löste Jonathan den Gurt von Ellas Kindersitz und holte sie aus dem Auto, wobei er sie fest an seine Brust drückte, um sie vor dem eisigen Wind zu schützen. Claire bemerkte in diesem Moment, was für ein Fehler es gewesen war, hierherzukommen. Sie hatte gedacht, die Übergabe meistern zu können. Sie hatten getan, was sie versprochen hatten. Ein Jahr lang hatten sie und Jonathan Ella ein Dach über dem Kopf gegeben, sie ernährt, gekleidet und mit wahrer Zuneigung überschüttet. Sie geliebt. Und nun mussten sie sie zurückgeben. An eine Frau, die es zugelassen hatte, dass ihr kleines Mädchen mitten in der Nacht allein durch die Straßen wandert, eine Frau, die lieber trank und mit ihren Freunden feierte, als ihre Zeit damit zu verbringen, sich in dem Glanz zu sonnen, den Ella ausstrahlte, so wie sie es getan hatten. Die kalte Luft schnitt in Claires Wangen, als sie sich auf den Weg ins Gebäude des Jugendamtes machten. Den Ort, an den sie Ella immer zu den Besuchsterminen mit ihrer Mutter gebracht hatten.

„Ella, komm mal her und gib mir einen Abschiedskuss.“ Claire zwang sich, unbekümmert zu klingen.

„Auf Wiedersehen, Mama Claire“, sagte Ella und kam zu ihr. Sie gab ihr einen Kuss direkt auf die Lippen, und Claire zog sie an sich.

„Ich liebe dich, Bella Ella“, brachte Claire erstickt hervor. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht.

„Tschüss, Dad.“ Ella löste sich aus Claires Griff und ging zu Jonathan, schlang ihre Arme um sein Bein und sagte: „Piep, piep, piep …“ Jonathan stand einen Moment lang ganz still da, und Claire musste hilflos zusehen, wie seine Brust sich schwer hob und senkte, in dem Versuch, die Fassung zu bewahren.

„Piep, piep, piep“, wiederholte Ella mit Nachdruck.

Jonathan ließ sich auf die Knie sinken, und mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, führte er den Satz fort: „Ich hab dich ganz doll lieb.“

Ella kicherte bei dem vertrauten Spiel. „Ich dich auch.“ Sie warf sich Jonathan an die Brust und barg das Gesicht an seinem Hals.

„Ich liebe dich, Ella. Vergiss das nie, ja?“ Jonathan klang so verzweifelt, dass Claire die Augen schließen musste.

„Ich liebe dich auch.“ Ella löste sich von Jonathan und wandte sich an Nicki. „Gehen wir, Mommy. Gehen wir. Tschüss, Mama Claire, tschüss, Dad.“

„Komm, Ella“, sagte Dana. „Wir bringen schon mal deine Taschen in Moms Auto.“ Und bevor sie noch blinzeln konnten, war Ella bereits aus ihrem Leben verschwunden.

Claire und Jonathan verließen das Gebäude Hand in Hand und fuhren schweigend nach Hause. Das Haus kam ihnen so leer vor, so verlassen. Sogar Truman wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Er schnüffelte in den Ecken und wanderte ziellos von einem Zimmer zum nächsten, immer auf der Suche nach Ella.

Claire erinnert sich, dass sie und Jonathan in der Nacht versucht hatten, miteinander zu schlafen. Zaghaft zogen sie einander aus – ein Hemd, das vorsichtig über einen Kopf gezogen wurde, eine Hose, die aufgeknöpft und nach unten geschoben wurde. Nackt standen sie im dunklen Schlafzimmer, der Frost auf den Fensterscheiben und die Spitzengardinen schirmten sie vor neugierigen Blicken ab. Jonathan ließ die schwieligen Finger über die weiche Haut an Claires Oberschenkeln wandern. Claires Lippen streiften seinen Hals, blieben einen Moment lang auf der rauen Stelle unter seinem Kinn liegen, die er beim Rasieren vergessen hatte. Schlussendlich hielten sie inne. Ihre Trauer und Erschöpfung waren einfach zu groß, und sie ließ die Arme sinken. Claire lehnte den Kopf an Jonathans Schulter, und er legte seine Wange an ihr Haar. Das Haus war still, zu still. Ihnen wurde bewusst, dass es nichts mehr gab, worauf sie lauschen mussten. Nicht länger mussten sie sich sorgen, dass Ella aus dem Bett krabbelte und zu ihrer Schlafzimmertür tapste, sich dort auf Zehenspitzen stellte, um den Messingknauf zu erreichen und die Tür aufzumachen, und sie in einer eindeutig zweideutigen Situation überraschte.

Sie standen einfach nur da, und die Dunkelheit lastete schwer auf ihren Schultern. Claire spürte Jonathans erste Träne, die heiß über ihre Schläfe und weiter an ihrer Wange entlanglief. Sie unterdrückte den Drang, sie fortzuwischen, beobachtete stattdessen, wie sie über ihren Körper lief, von ihrem Schlüsselbein zwischen ihren Brüsten entlang, bis sie schließlich auf ihre Zehen fiel. Claire nahm Jonathan an die Hand und führte ihn zum Bett. Vorsichtig zog sie ihm die Boxershorts an und steckte seine eiskalten Füße in ein Paar Wollsocken. Dann zog sie ihm ein altes T-Shirt über den Kopf und seine Arme durch die Ärmel. Die ganze Zeit über weinte Jonathan stumm. „Ich weiß“, sagte Claire wieder und wieder. „Ich weiß.“ Sie zog die Decke bis zu seinem Kinn hoch und krabbelte nackt, wie sie war, neben ihm ins Bett. Jonathans Schlaf war unruhig. Claire schlief überhaupt nicht.

Eine ganze Zeit lang konnte Claire nicht über Ella reden. Sie erinnerte sich an das letzte Halloween, als Ella noch bei ihnen gewesen war, und wie sie als kleine Prinzessin verkleidet war, mit einem silbrig schimmernden Kleid und kleinen Plastikpumps, die sie an der ersten Straßenecke stehen ließ. „Das sind Mörderbienen“, sagte sie und schleuderte sie von ihren Füßen. Oder daran, wie sie sie und Truman eng aneinandergekuschelt in dem Hundekörbchen gefunden hatten, Stirn an Stirn friedlich schlafend.

Manchmal sah sie den Anflug eines Lächelns auf Jonathans Gesicht, nur für einen kurzen Moment, bevor es wieder verschwand, und sie wusste, dass er auch an Ella dachte.

Sie versuchten einen Neuanfang, probierten noch mehr Fruchtbarkeitsbehandlungen aus und sprachen darüber, sich vielleicht doch für eine Adoption anzumelden. Sie hatten ihre Hoffnungen in Ella gesetzt. Und nun standen sie wieder mit leeren Händen da. Kinderlos und unglücklich.

Aber nicht einmal ein Jahr später war Joshua zu ihnen gekommen. Er gehört uns, dachte Claire. Für immer. Ihr war eine zweite Chance auf Mutterschaft gegeben worden.

Jetzt hatte sie das Gefühl, das Gleiche für jemand anderen tun zu wollen. Sie würde Allison Glenn diese zweite Chance geben – für einen Neuanfang, ein ganz neues Leben.